Entscheidungsstichwort (Thema)

Vergütungsanspruch für die Dauer eines Arztbesuches im Niedersächsischen Groß- und Einzelhandel. Klage auf Gutschrift von Arbeitszeit bei objektiv unmöglichem Arztbesuch außerhalb der Arbeitszeit

 

Leitsatz (amtlich)

1. Grundsätzlich ist ein Arztbesuch nicht bereits dann notwendig, wenn der behandelnde Arzt einen Arbeitnehmer während der Arbeitszeit zur Behandlung oder Untersuchung in seine Praxis bestellt. Der Arbeitnehmer muss versuchen, die Arbeitsversäumnis möglichst zu vermeiden. Hält der Arzt außerhalb der Arbeitszeit Sprechstunden ab und sprechen keine medizinischen Gründe für einen sofortigen Arztbesuch, musste der Arbeitnehmer die Möglichkeit der Sprechstunde außerhalb der Arbeitszeit wahrnehmen.

2. Ein Fall unverschuldeter Arbeitsversäumnis liegt bei einem Arztbesuch vor, wenn der Arbeitnehmer von einem Arzt zu einer Untersuchung oder Behandlung einbestellt wird und der Arzt auf terminliche Wünsche des Arbeitnehmers keine Rücksicht nehmen will oder kann.

3. Auch wenn der Wortlaut von § 13 Ziffer 3 MTV Groß- und Außenhandel Niedersachsen besagt, dass in § 13 Ziffer 1 Nr. 1-4 die in Anwendung des § 616 BGB möglichen Fälle abschließend festgelegt sind, ergibt eine Auslegung des Tarifvertrages, dass hierdurch ein Anspruch auf Entgeltfortzahlung in Fällen unverschuldeter Arbeitsversäumnis im Sinne von § 14 Abs. 3 MTV nicht ausgeschlossen ist.

 

Normenkette

MTV Groß- und Außenhandel Niedersachsen § 14; BGB §§ 616, 611a; MTV Groß- und Außenhandel NI § 13 Abs. 1; MTV Groß- und Außenhandel NI § 13 Abs. 3; MTV Groß- und Außenhandel NI § 14 Abs. 3

 

Verfahrensgang

ArbG Osnabrück (Entscheidung vom 22.02.2017; Aktenzeichen 4 Ca 412/16)

 

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Osnabrück vom 22.02.2017, 4 Ca 412/16, abgeändert:

Die Beklagte wird verurteilt, dem Arbeitszeitkonto des Klägers 1,5 Stunden ohne Rückforderung der für die Zeit am 26.04.2016 von 10:15 Uhr bis 11:45 Uhr gezahlten Vergütung in Höhe von 24,29 € brutto gutzuschreiben.

Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten darüber, ob der Kläger für die Dauer eines Arztbesuches einen Anspruch auf bezahlte Freistellung hat.

Der am 0.0.1969 geborene Kläger ist seit dem 02.01.1993 bei der Beklagten als Klima- und Lüftungsmonteur beschäftigt. Er bezieht einen Stundenlohn von 16,19 € brutto bei einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 38,5 Stunden.

Dem Arbeitsverhältnis zu Grunde liegt der Arbeitsvertrag vom 09.11.1992 (Bl. 42-45 d.A.). Nach dessen § 10 werden die Bestimmungen der jeweils gültigen Tarifverträge des Groß- und Außenhandelsverbandes Niedersachsen e.V. zum Vertragsinhalt, soweit in diesem Vertrag keine besonderen Vereinbarungen getroffen sind.

Der hiernach anwendbare Manteltarifvertrag des Groß- und Außenhandels Niedersachsen vom 19.06.1997 enthält hinsichtlich der Freistellung von der Arbeit und der Arbeitsverhinderung folgende Regelungen:

§ 13 Freistellung von der Arbeit

1. Arbeitnehmer und Auszubildende haben im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit den folgenden Ereignissen Anspruch auf Freistellung von der Arbeit ohne Anrechnung auf den Urlaub und unter Fortzahlung des Entgelts:

1. für einen Arbeitstag:

a) bei eigener Eheschließung

b) bei Niederkunft der Ehefrau,

c) beim Tod eines Geschwisterteils

d) beim Umzug mit eigener Wohnungseinrichtung, auch beim Erstbezug, jedoch höchstens einmal im Kalenderjahr;

2. für zwei Arbeitstage:

beim Tod eines Eltern-, Schwiegerelternteils oder Kindes;

3. für drei Arbeitstage:

beim Tod des Ehegatten oder eines Kindes, das sich in häuslicher Gemeinschaft befand;

4. für die ausfallende Arbeitszeit:

a) infolge Erfüllung gesetzlich auferlegter Pflichten aus öffentlichen Ehrenämtern; soweit ein Erstattungsanspruch besteht, entfällt in dieser Höhe der Anspruch auf das regelmäßige Arbeitsentgelt,

b) infolge Vorbereitung und Durchführung von Sitzungen für Mitglieder der Tarifkommission oder einer Schlichtungsstelle.

2. Mandatsträger der vertragschließenden Gewerkschaften (gewählte Vorstandsmitglieder und Delegierte) haben Anspruch auf Freistellung von der Arbeit bis max. 8 Arbeitstage im Jahr.

3. In § 13 Ziff. 1. 1-4 sind die in Anwendung des § 616 BGB möglichen Fälle abschließend festgelegt.

4. Der Anspruch auf bezahlte Freizeit entfällt, wenn der Arbeitnehmer durch Arbeitsunfähigkeit, Kur, Urlaub oder andere Gründe ohnehin an der Erbringung der Arbeitsleistung gehindert ist.

Grundsätzlich ist dem Arbeitnehmer auf Verlangen in Verbindung mit derartigen Ereignissen Urlaub zu gewähren.

§ 14 Arbeitsverhinderung

1. Ist der Arbeitnehmer durch Krankheit oder sonstige Ereignisse an der Arbeitsleistung verhindert, so hat er dem Arbeitgeber unverzüglich Mitteilung zu machen und dabei die Gründe seiner Verhinderung anzugeben. Eine Arbeitsunfähigkeit durch Krankheit ist von Beginn an innerhalb von drei Tagen durch eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung des Arztes oder der Krankenkasse nachzuweisen, aus der sich auc...

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