Entscheidungsstichwort (Thema)

Unanwendbarkeit des § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die nach der Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 19.01.2010 – C-555/07 Kücükdeveci – „supra legem” gebotene Rechtsfortbildung hat für § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB zur Konsequenz, dass diese Vorschrift auf Kündigungen, die nach dem 02.12.2006 erfolgt sind, nicht mehr angewendet werden darf. Damit sind auch vor Vollendung des 25. Lebensjahres liegende Beschäftigungszeiten des Arbeitnehmers bei der Berechnung der Kündigungsfrist zu berücksichtigen. Für die Verlängerung der Kündigungsfrist kommt es infolgedessen gemäß § 622 Abs. 2 Satz 1 BGB ausschließlich auf die Dauer der Betriebszugehörigkeit an.

2. Einem Arbeitgeber, der sich nach dem 02.12.2006 auf die Anwendbarkeit des § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB verlassen hat, kann nur ausnahmsweise Vertrauensschutz gewährt werden.

 

Normenkette

BGB § 622 Abs. 2; EU-Grundrechte-Charta Art. 21 Abs. 1; Richtlinie 2000/78; GG Art. 20, 23, 100

 

Verfahrensgang

ArbG Mönchengladbach (Aktenzeichen 7 Ca 84/07)

 

Tenor

Die Kosten des Rechtsstreits werden der Klägerin zu 2/3 und der Beklagten zu 1/3 auferlegt.

Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

A. Die Parteien haben, nachdem sie den Rechtsstreit in der Hauptsache durch Prozessvergleich beigelegt haben, beantragt, dass das Gericht nach § 91 a ZPO über die Kosten entscheiden möge.

Die Klägerin, am 12.02.1978 geboren, war seit dem 04.06.1996 als Versandarbeiterin bei der Beklagten beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis fanden die gesetzlichen Kündigungsfristen Anwendung. Am 19.12.2006 erklärte die Beklagte schriftlich die ordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses zum 31.01.2007, hilfsweise zum nächstmöglichen Termin.

In dem vor dem Arbeitsgericht Mönchengladbach geführten Kündigungsschutzprozess hat die Klägerin u.a. geltend gemacht, dass die Kündigung frühestens zum 30.04.2007 wirke, weil § 622 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 BGB die Kündigungsfrist nach zehnjähriger Betriebszugehörigkeit auf vier Monate zum Monatsende verlängere. § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB, der bestimme, dass vor Vollendung des 25. Lebensjahres liegende Betriebszugehörigkeitszeiten nicht zu berücksichtigen seien, verstoße gegen das gemeinschaftsrechtliche Verbot der Altersdiskriminierung und habe daher unbeachtet zu bleiben.

Durch Teilurteil vom 20.11.2007 hat die Kammer die Kündigungsschutzklage abgewiesen, soweit diese auf Feststellung der Unwirksamkeit der Kündigung und des Fortbestandes des Arbeitsverhältnisses über den 30.04.2007 hinaus gerichtet war. Mit Beschluss vom selben Tag hat sie den Gerichtshof der Europäischen Union um Vorabentscheidung ersucht.

Der Gerichtshof (Große Kammer) hat am 19.01.2010 entschieden:

  1. Das Unionsrecht, insbesondere das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters in seiner Konkretisierung durch die Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, ist dahin auszulegen, dass es einer Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, nach der vor Vollendung des 25. Lebensjahrs liegende Beschäftigungszeiten des Arbeitnehmers bei der Berechnung der Kündigungsfrist nicht berücksichtigt werden.
  2. Es obliegt dem nationalen Gericht, in einem Rechtsstreit zwischen Privaten die Beachtung des Verbots der Diskriminierung wegen des Alters in seiner Konkretisierung durch die Richtlinie 2000/78 sicherzustellen, indem es erforderlichenfalls entgegenstehende Vorschriften des innerstaatlichen Rechts unangewendet lässt, unabhängig davon, ob es von seiner Befugnis Gebrauch macht, in den Fällen des Art. 267 Abs. 2 AEUV den Gerichtshof der Europäischen Union im Wege der Vorabentscheidung um Auslegung dieses Verbots zu ersuchen.

Die Beklagte hat zuletzt beantragt, unter Abänderung des Urteils des Arbeitsgerichts Mönchengladbachs vom 15.06.2007 die Klage insgesamt abzuweisen. Die Klägerin hat beantragt, die Berufung der Beklagten, soweit über sie noch nicht entschieden ist, zurückzuweisen.

In der Kammerverhandlung am 03.02.2010 haben die Parteien den Rechtsstreit vergleichsweise beigelegt und eine Kostenentscheidung des Gerichts nach § 91 a ZPO beantragt.

 

Entscheidungsgründe

B. Die Kammer hat gemäß § 91 a Abs. 1 Satz 1 ZPO über die Kosten unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes nach billigem Ermessen zu entscheiden. Aufgrund des rechtskräftigen Teilurteils vom 21.11.2007 steht fest, dass die Klägerin mit der Kündigungsschutzklage unterlegen ist. Streitig ist allein geblieben, ob die Kündigung vom 19.12.2006 das Arbeitsverhältnis zum 31.01.2007 oder zum 30.04.2007 aufgelöst hat. Insoweit hätte die Klägerin obsiegt.

I. Die Kündigung vom 19.12.2006 konnte das Arbeitsverhältnis der Parteien, das im Kündigungszeitpunkt mehr als zehn Jahre bestanden hat, mit der Frist des § 622 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 BGB erst zum 30.04.2007 auflösen. Zwar sind nach § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB Zeiten, die vor der Vollendung des 25. Le...

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