Rz. 17

Ebenso wie im Zivil- und Strafrecht hat auch die Kausalitätsbeurteilung im Sozialrecht und speziell in der gesetzlichen Unfallversicherung die Kausalität im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne als Ausgangspunkt. Danach besteht der Ursachenzusammenhang dann, wenn eine Ursache (die Bedingung) nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass die Wirkung (der Erfolg) entfiele (Bedingungstheorie oder Äquivalenztheorie oder sog. Sine qua non-Formel). Das BSG hat hierzu den Begriff der Wirkursache geprägt (BSG, Urteil v. 17.12.2015, B 2 U 8/14 R; Urteil v. 13.11.2012, B 2 U 19/11 R). Auch im Unfallversicherungsrecht muss zunächst einmal der Ursachenzusammenhang nach dieser Formel gegeben sein. Doch bedarf es – ebenso wie im Zivilrecht – im Unfallversicherungsrecht eines einengenden Korrektivs, da die Haftung – anders als im strafrechtlichen Bereich – kein Verschulden voraussetzt. Ansonsten wäre eine unendliche Anzahl von Ursache-Wirkung-Beziehungen zu betrachten, die alle gleichwertig (äquivalent) wären.

 

Rz. 18

Daher ist in der 2. Stufe der Kausalitätsprüfung eine wertende Betrachtung geboten. Dies geschieht nach Maßgabe der in Rechtsprechung und Literatur allgemein anerkannten Lehre von der rechtlich wesentlichen Bedingung. Dabei handelt es sich um eine wertende Entscheidung. Die nach der Äquivalenztheorie in Betracht kommenden Ursachen haben nur dann rechtliche Bedeutung, wenn ihnen nach der Anschauung des praktischen Lebens wesentliche Bedeutung für den Eintritt des Ereignisses zukommt (BSG, Urteil v. 9.12.2003, B 2 U 8/03 R; Urteil v. 28.6.1988, 2/9b RU 28/87). Rechtlich unwesentliche Ursachen sind ohne Bedeutung. Oftmals kommen mehrere Ursachen, versicherte und unversicherte, als wesentlich in Betracht. Dabei muss die in Frage kommende versicherte Mitursache weder die alleinige noch die überwiegende Bedingung für die Folge (Unfallereignis, Erstschaden, Folgeschaden) sein. Auch eine mit anderen Ursachen nicht gleichwertige Mitursache kann rechtlich wesentlich sein. Erst dann, wenn die Mitursache ganz in den Hintergrund gedrängt wird, ist sie rechtlich unwesentlich.

2.2.3.1 Sog. Gelegenheitsursache

 

Rz. 19

Eine Ursache im naturwissenschaftliche Sinne, die jedoch nach obigen Grundsätzen nicht rechtlich wesentlich ist, wird verschiedentlich als Gelegenheitsursache oder als Auslöser bezeichnet. Dies geschieht insbesondere dann, wenn bei dem Betreffenden eine äußere Einwirkung in Gestalt eines Unfallereignisses und eine bereits zuvor vorhandene Krankheitsanlage festgestellt werden. Sowohl die äußere Einwirkung als auch die Krankheitsanlage als innere Ursache sind in Bezug auf den anschließend eingetretenen Körperschaden Ursachen im naturwissenschaftlichen Sinne.

 

Rz. 20

 
Praxis-Beispiel
  • Der Riss der Achillessehne kann auf die Degeneration der Sehne und/oder auf eine plötzliche Kraftanstrengung bei der versicherten Tätigkeit zurückzuführen sein.
  • Die Hirnblutung und die darauf zurückzuführenden Folgeschäden können ihre Ursache in einer plötzlichen Kraftanstrengung und/oder dem Platzen eines Aneurysmas (Gefäßerweiterung eines Blutgefäßes) haben.
  • Die psychische Erkrankung kann auf den Verkehrsunfall und/oder auf eine vorher bereits bestehende "stumme" Krankheitsanlage zurückzuführen sein.
 

Rz. 21

In solchen Fällen ist nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil v. 9.5.2006, B 2 U 1/05 R; Urteil v. 12.4.2005, B 2 U 27/04 R; Urteil v. 27.10.1987, 2 RU 35/87) darauf abzustellen, ob die Krankheitsanlage so leicht ansprechbar war, dass die Auslösung akuter Erscheinungen aus ihr nicht besonderer, in ihrer Art unersetzlicher äußerer Einwirkungen bedurfte, sondern dass jedes andere alltäglich vorkommende Ereignis zu derselben Zeit die Folgeerscheinung ausgelöst hätte. Dies bedeutet, dass im Rahmen der wertenden Betrachtung ein – in Wirklichkeit nicht stattgefundenes – alltägliches Ereignis in die Überlegungen einbezogen wird. Das bedeutet aber nicht, dass das Unfallereignis selbst von alltäglicher Art gewesen sein müsste. Das Unfallereignis kann durchaus außerordentlich gravierend gewesen sein. Entscheidend ist die "Ansprechbarkeit" der Krankheitsanlage durch ein alltägliches Austauschereignis. Dies wird oftmals missverstanden.

 

Rz. 22

 
Praxis-Beispiel
  • War die Achillessehne so stark degeneriert, dass sie in naher Zukunft genauso gut beim normalen Gehen hätte reißen können?
  • Hätte das Aneurysma bei einer alltäglichen Kraftanstrengung (z. B. beim Anheben einer Aktentasche, eines Getränkekastens) oder gar im Schlaf reißen und zu der Blutung führen können?
  • War die vorbestehende psychische Erkrankung so geartet, dass ein alltägliches Ereignis jederzeit ebenso gut hätte zum Auftreten akuter Krankheitserscheinungen führen können wie das tatsächlich stattgefundene Unfallereignis?

Wenn diese Fragen mit Ja beantwortet werden, handelt es sich bei dem Auslöser um eine rechtlich nicht wesentliche Gelegenheitsursache. Bedurfte es hingegen besonderer, in ihrer Art unersetzlicher äußerer Einwirkungen, um den Erstschaden herbeizuführen, und war das Unfallereignis eine solche Einwirk...

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