Rz. 29

Nach Abs. 1 Satz 2 soll der VA mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit die in Ziff. 1 bis 4 genannten Voraussetzungen vorliegen. Die rückwirkende Aufhebung gegenüber der Aufhebung mit Wirkung für die Zukunft ist keine eigenständige Regelung, sondern lediglich eine von Abs. 1 Satz 1 abweichende Bestimmung des Zeitpunktes, ab dem der VA aufzuheben ist.

 

Rz. 30

Nach der Rechtsprechung bedeutet "soll", dass i. d. R. unter den in Ziff. 1 bis 4 genannten Voraussetzungen der VA mit Rückwirkung aufzuheben ist, also keine Ermessensausübung erforderlich ist (BSG, Urteil v. 13.10.1993, 2 RU 5/93, SozR 3-1300 § 48 Nr. 31 m. w. N.; § 330 Abs. 3 Satz 1 SGB III schreibt für das Recht der Arbeitsförderung als nach § 37 SGB I abweichende Regelung die zwingende Aufhebung vor, vgl. auch § 40 SGB II).

 

Rz. 31

Der Leistungsträger soll jedoch nach der Rechtsprechung in atypischen Fällen berechtigt bzw. verpflichtet sein, nach seinem Ermessen von der rückwirkenden Aufhebung abzuweichen, also etwa auf die Aufhebung ganz oder teilweise zu verzichten oder einen anderen Zeitpunkt zu bestimmen. Die Beurteilung, ob ein atypischer Fall vorliege, ist jedoch nicht in das Ermessen gestellt, sondern eine Rechtsfrage, die der vollen gerichtlichen Prüfung und Entscheidung unterliegt (BSG, Urteil v. 29.6.1994, 1 RK 45/93). Für das Vorliegen eines atypischen Falles sollen alle Umstände des Einzelfalles berücksichtigt werden können, die vom Regelfall signifikant abweichen. Die wirtschaftliche Belastung und Bedrängnis der aus der Aufhebung folgenden Rückzahlungspflicht, das Verhalten des Leistungsträgers und sein mitwirkendes Fehlverhalten können für die Atypik eines Sachverhaltes sprechen. Allgemeine Regeln lassen sich jedoch für einen atypischen Fall nur eingeschränkt aufstellen (vgl. aber die Auflistung von Indizien für die Annahme eines atypischen Falles bei Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung und Aufhebung eines Bescheides über Leistung wegen teilweiser Erwerbsminderung SG Oldenburg, Urteil v. 23.10.2017, S 51 R 90/16). Ein atypischer Fall i. S. d. § 48 Abs. 1 Satz 2 mit der Folge einer notwendigen Ermessensausübung liegt vor, wenn im streitbefangenen Zeitraum des Bezuges von Bundeserziehungsgeld zwar nicht der Leistungsempfänger, aber dessen Ehegatte dem Grunde nach anspruchsberechtigt war (BSG, Urteil v. 5.10.2006, B 10 EG 6/04 R, SozR 4-1300 § 48 Nr. 8). Ein atypischer Fall wird auch angenommen, wenn der Betroffene durch eine rückwirkende Aufhebung sozialhilfebedürftig würde (BSG, Urteil v. 31.10.1991, 7 RAr 60/89, SozR 3-1300 § 45 Nr. 10, und zum SGB XII nunmehr auch BSG, Urteil v. 30.6.2016, B 5 RE 1/15 R) und wohl auch dann, wenn er aufgrund der Aufhebung Privatinsolvenz anmelden müsste. Ein atypischer Fall wird auch anzunehmen sein, wenn die Behörde ein erhebliches Mitverschulden an einer rechtswidrigen Leistungsgewährung trifft (LSG Schleswig-Holstein, Urteil v. 7.3.2013, L 5 KR 58/11). Dies soll auch dann gelten, wenn nicht die aufhebende Behörde, sondern eine andere Behörde dieses Verschulden trifft (LSG Schleswig-Holstein, a. a. O.). Zur Frage des Vorliegens eines atypischen Falls bei unterlassener Sachverhaltsaufklärung, verzögerter Bearbeitung und unzureichender Information eines Versicherten vgl. LSG Schleswig-Holstein, Urteil v. 23.2.2016, L 7 R 133/15). Eine Atypik kann aber nicht allein damit begründet werden, dass eine Rentenbewilligung rückwirkend erst nach 15 Jahren aufgehoben wird, wenn die Ursache für die Überzahlung ausschließlich in den Verantwortungsbereich des Rentenempfängers fällt und durch ein unredliches (bösgläubiges) Verhalten begründet war (BSG, Urteil v. 1.7.2010, B 13 R 77/09 R). Sie soll nach Auffassung des LSG Schleswig-Holstein aber vorliegen, wenn ein Versicherter durch rückwirkende Gewährung einer höherrangigen Sozialleistung (Rente wegen voller Erwerbsminderung anstelle von Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung sowie Arbeitslosen- und Krankengeld) wirtschaftlich schlechter gestellt wird (Urteil v. 23.2.2016, L 7 R 133/15). Das SG Oldenburg hat in diesen Fällen folgende Indizien für die Annahme eines atypischen Falles aufgelistet (Urteil v. 23.10.2017, S 51 R 90/16):

  • Verbrauch der Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung,
  • schutzwürdiges Vertrauen auf die Rechtmäßigkeit des Erhalts der Sozialleistungen, die neben der Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bezogen wurden,
  • Schlechterstellung des Versicherten durch die Rückforderung gegenüber dem Zustand wie er bei sofortiger Bewilligung der Rente wegen voller Erwerbsminderung bestanden hätte,
  • Aufhebungsentscheidung führt rückwirkend zur Sozialhilfebedürftigkeit ohne die Möglichkeit des Versicherten, nachträglich noch derartige Leistungen beziehen zu können,
  • kein Neuantrag auf Rente wegen voller Erwerbsminderung,
  • Rechtswidrigkeit der Aufhebungsentscheidung wegen nicht nachgeholter Anhörung.
 

Rz. 31a

Nimmt das Gericht das Vorliegen eines atypischen Falles an und hat die Behörde ein Ermessen unter...

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