Rz. 26

Neben den oben dargestellten Katalog- und Seltenheitsfällen (Rz. 18 bis 22; vgl. auch Rz. 80) hat die höchstrichterliche Rechtsprechung weitere Grundsätze zur Prüfung der Frage entwickelt, ob der jeweilige Versicherte, der zumindest noch 6 Stunden täglich erwerbstätig sein kann, auch noch in der Lage ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes zu arbeiten (vgl. hierzu auch Dünn/Vogel, DRV 2012 S. 147). Grundsätzlich schließt ein 6-stündiges Leistungsvermögen im Erwerbsleben – wie erwähnt – im Sinne einer widerlegbaren Vermutung eine Erwerbsminderung i. S. d. § 43 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 Satz 2 aus (vgl. hierzu insbesondere die Ausführungen unter Rz. 17). Bei Versicherten, die in diesem zeitlichen Umfang noch zumindest körperlich leichte Tätigkeiten verrichten können, kann nämlich grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass sie noch in der Lage sind, typische Arbeitsfelder des allgemeinen Arbeitsmarktes wie z. B. Zureichen, Transportieren, Reinigen, Bedienen von Maschinen, Kleben, Sortieren, Verpacken, Zusammensetzen von Teilen usw. zu bewältigen und damit ihr Restleistungsvermögen gewinnbringend auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einzusetzen (vgl. hierzu die Ausführungen unter Rz. 17 und die dort zitierte Rechtsprechung). Diese Aufzählung der Arbeitsfelder und Verrichtungen ist nach der Rechtsprechung des BSG (vgl. Urteil v. 11.12.2019, B 13 R 7/18 R) nicht abschließend; sie kann von den Rechtsanwendern erweitert werden (z. B. "einfache Büro- oder Montagetätigkeiten", BSG, Urteil v. 24.2.1999, B 5 RJ 30/98 R; zur weiteren Ausdifferenzierung typischer Bürotätigkeiten vgl. z. B. Freudenberg, in: jurisPK-SGB VI, § 43 Rz. 161). Im Hinblick auf die zunehmende Automatisierung von Prozessen können z. B. auch Verrichtungen wie das Messen, Prüfen, Überwachen und die (Qualitäts-)Kontrolle von Produktionsvorgängen in Betracht gezogen werden (BSG, Urteil v. 11.12.2019, B 13 R 7/18 R). Eine eingehende Auseinandersetzung mit der Art der Leistungseinschränkungen ist in Fällen eines in diesem Sinne noch ausreichenden positiven Leistungsvermögens dann regelmäßig nicht erforderlich. Eine Widerlegung der oben beschriebenen Vermutung des § 43 Abs. 3 kommt damit nur in Betracht, wenn ernste Zweifel bestehen, dass der Versicherte die vorgenannten arbeitsmarkttypischen Verrichtungen noch bewältigen kann. Dabei darf es sich jedoch nicht um subjektive Zweifel des Gerichts handeln, sondern die Zweifel müssen – ggf. auf der Grundlage medizinischer und/oder berufskundlicher Aufklärung nach richterlichem Ermittlungsermessen (vgl. BSG, Urteil v. 9.5.2012, B 5 R 68/11 R) – durch eine hinreichend nachvollziehbare Begründung objektiviert werden.

 

Rz. 27

Bestätigen sich diese Zweifel und ist der Versicherte nicht mehr in der Lage, typische Arbeitsfelder zu bewältigen, so ist zu prüfen, ob bei ihm eine schwere spezifische Behinderung oder eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen vorliegt. Diese Prüfpflicht besteht aber nur dann, wenn das Restleistungsvermögen des Versicherten auf körperlich leichte Arbeiten beschränkt ist (BSG, Urteil v. 11.12.2019, B 13 R 7/18 R). Ist er noch in der Lage, zumindest gelegentlich auch körperlich mittelschwere Arbeiten zu bewältigen, gilt von vornherein die Vermutung des § 43 Abs. 3, wonach Versicherte, die noch 6 Stunden täglich erwerbstätig sein können, auch in der Lage sind, diese Arbeitsleistung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes zu erbringen. Nach der für die sozialmedizinische Begutachtung in der Praxis verwendeten Klassifizierung der Arbeitsschwere nach REFA sind unter körperlich leichten Tätigkeiten solche zu verstehen wie das Handhaben leichter Werkstücke und Handwerkszeuge, Tragen von weniger als 10 kg, Bedienen leichtgehender Steuerhebel oder ähnlicher mechanisch wirkender Einrichtungen und lang andauerndes Stehen oder ständiges Umhergehen (bei Dauerbelastung). Bis zu 5 % der Arbeitszeit (oder zweimal pro Stunde) können mit mittelschweren Arbeitsanteilen belastet sein. Belastende Körperhaltungen (Zwangshaltungen, Haltearbeit) erhöhen die Arbeitsschwere um eine Stufe (BSG, Urteil v. 11.12.2019, B 13 R 7/18 R; vgl. auch DRV, Sozialmedizinische Begutachtung für die Gesetzliche Rentenversicherung, 7. Aufl. 2011, S 48).

 

Rz. 27a

Anders als die sog. Katalogfälle (vgl. Rz. 17b ff.), die volle Erwerbsminderung zur Folge haben, begründet das Vorliegen einer schweren spezifische Behinderung oder einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen zunächst nur eine weitere Prüfpflicht der Rechtsanwender: Sie haben nämlich im konkreten Einzelfall festzustellen, ob der Versicherte trotz seiner erheblich überdurchschnittlichen qualitativen Einschränkungen noch in der Lage ist, (irgend) eine konkrete berufliche Tätigkeit des allgemeinen Arbeitsmarktes zumindest 6 Stunden täglich zu bewältigen (Verweisungstätigkeit) und diese Tätigkeit zu benennen (vgl. zur inhaltlichen Ausgestaltung der Benennungspflicht BSG, Urteil v. 27.3.2007, B 13 R 63/06 R,

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