Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. gesetzliche Unfallversicherung. MdE-Feststellung. wesentliche Änderung gem § 48 Abs 1 SGB 10 iVm § 73 Abs 3 SGB 7. Verfassungsmäßigkeit. Gleichheitssatz. Widerruf gem § 46 SGB 10

 

Leitsatz (amtlich)

Nach § 48 Abs 1 SGB 10 iVm § 73 Abs 3 SGB 7 ist eine Änderung bei der Feststellung der MdE nur wesentlich, wenn sie mehr als 5 vH beträgt. Der Wortlaut ist eindeutig. Ausnahmen hat der Gesetzgeber nicht vorgesehen.

§ 73 Abs 3 SGB 7 verstößt nicht gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz nach Art 3 Abs 1 GG. Soweit die Vorschrift in den Fällen der Verschlimmerung von Unfallfolgen für die Verletzten eine Erschwerung beim Erlangen einer Rentenerhöhung mit sich bringt, muss diese Folge im Interesse der Rechtssicherheit in Kauf genommen werden. Dies trifft die Personengruppe der nachträglich Erblindeten ebenso wie Unfallrentner mit anderen Gesundheitsstörungen.

Ein Widerruf nach § 46 SGB 10 kommt bei einer Neuregelung auf Grund einer wesentlichen Änderung der Sach- und Rechtslage nicht in Betracht. Dieser Fall wird abschließend von § 48 SGB 10 erfasst.

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 19.12.2013; Aktenzeichen B 2 U 17/12 R)

 

Tenor

I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 11. Juni 2010 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

II. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

III. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Höhe der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE).

Der 1965 geborene Kläger erlitt am 8. September 1993 einen Arbeitsunfall, indem bei Ladearbeiten eine Kartonecke gegen sein rechtes Auge prallte, was zur Linsentrübung, Außenschielen und zu einer Überdehnung des Kammerwinkels an diesem Auge führte. Bei dem Kläger wurde im Januar 1994 eine Hinterkammerlinse implantiert. In dem ersten Rentengutachten vom 21. Juni 1996 stellte Dr. QQ., Chefarzt der Augenklinik des Kreiskrankenhauses AY., eine erhebliche Gesichtsfeldeinschränkung sowie einen Verlust der Sehschärfe fest, was in Verbindung mit dem Aussehen des Sehnervenkopfes für einen Sehnervenschwund spreche. Die Sehschärfe nach DIN 58220 betrug nach den Feststellungen des Arztes rechts 0,063 (nach Korrektur 0,16) und links 1,0 (nach Korrektur 1,0). Die MdE ab dem Untersuchungstage schätzte Dr. QQ. mit 20 v. H. ein und teilte mit, langfristig könne es sogar zu einer Erblindung des Auges kommen.

Mit Bescheid vom 13. November 1996 stellte die Beklagte als Unfallfolgen fest, “abgelaufene Prellungsverletzung des rechten Auges mit nachfolgender Implantation einer Hinterkammerlinse und Sehnervenschwund, dadurch bedingte Beeinträchtigung der Sehschärfe (Visus 0,1), zeitweiligen Doppelbildwahrnehmungen, Auswärtsschielen, Gesichtsfeldeinschränkungen sowie subjektiven Restbeschwerden," und bewilligte dem Kläger Rente nach einer MdE von 20 v. H. ab dem 21. Juni 1996.

Im anschließenden Widerspruchsverfahren holte die Beklagte ein Gutachten der Ärzte Dr. WW. und Dr. EE. der Augenklinik der NL.-Universität NT. vom 2. Juli 1997 ein. Diese Ärzte nahmen eine weitere Zunahme des Sehnervenschwundes am rechten Auge an. Eine exakte Beurteilung sei derzeit aber durch die psychogene Überlagerung bei den subjektiven Testungen erschwert. Die angegebene Visusreduktion am rechten Auge mit 0,025 sei mit den übrigen Befunden nicht vereinbar. Ausgehend von einem Gesichtsfeldradius von etwa 30 Grad und einer tatsächlichen Sehschärfe von 0,1 wäre derzeit eine MdE von 20 v. H. angemessen.

Die Beklagte wies daraufhin den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 20. März 1998 zurück. Im Klageverfahren vor dem Sozialgericht Kassel (S 3/U 498/98) schlossen die Beteiligten einen Vergleich, in dem sich die Beklagte verpflichtete, Verletztenrente nach einer MdE von 20 v. H. schon ab dem 1. Januar 1996 zu zahlen.

Im Juni 2002 machte der Kläger eine Verschlechterung der Unfallfolgen geltend. Eine augenärztliche Begutachtung bei Dr. RR. vom 22. August 2002 ergab, dass das rechte Auge wegen seiner geringen Funktion jetzt einem erblindeten Auge gleichzusetzen sei, die MdE betrage 25 v. H. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 12. September 2002 die Gewährung einer höheren Verletztenrente nach einer MdE von 25 v. H. ab, da eine wesentliche Änderung nicht vorliege. Der Bescheid wurde bindend.

Im Dezember 2007 bat der Kläger um Überprüfung dieser Entscheidung. Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 11. Januar 2008 ab. Die Voraussetzungen für eine Rücknahme des Bescheides vom 12. September 2002 lägen nicht vor. Eine wesentliche Änderung liege nur dann vor, wenn sich die festgestellte MdE um mehr als 5 v. H. erhöhe (§ 48 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - Verwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - SGB X i. V. m. § 73 Abs. 3 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch - Gesetzliche Unfallversicherung - SGB VII).

Nach erfolglosem Widerspruch (Widerspruchsbescheid vom 29. Februar 2008) hat der Kläger am 5. März 2008 zum Sozialgericht Kassel (Sozialgericht) Klage erhoben und gelt...

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