Entscheidungsstichwort (Thema)

Verdachtskündigung. In beiden Instanzen erfolgreiche Kündigungsschutzklage eines angestellten Radiologen wegen 3 außerordentlichen Kündigungen (Vortäuschen von Arbeitsunfähigkeit, Vortäuschen von Vorstellungsterminen nach § 629 BGB, MRT-Messungen wegen eigener Sportverletzungen). Verdachtskündigung wegen angeblich vorgetäuschter Arbeistunfähigkeit

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Ein nicht zu widerlegender Verdacht, dass ein Arbeitnehmer seine Arbeitsunfähigkeit nur vortäuscht und im vermeintlichen Krankheitszeitraum Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall bezieht, rechtfertigt generell eine außerordentliche Kündigung. Dem Arbeitgeber ist es dann grundsätzlich nicht zumutbar, die Frist für eine ordentliche Kündigung einzuhalten.

2. Legt ein Arbeitnehmer ein ärztliches Attest vor, so begründete dieses in der Regel den Beweis für die Tatsache der arbeitsunfähigen Erkrankung. Ein solches Attest hat einen hohen Beweiswert, denn es ist der gesetzlich vorgesehene und wichtigste Beweis für die Tatsache der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit. Bezweifelt der Arbeitgeber die Arbeitsunfähigkeit, dann muss er die Umstände, die gegen die Arbeitsunfähigkeit sprechen, näher darlegen und notfalls beweisen, um dadurch die Beweiskraft des Attestes zu erschüttern.

3. Die Tatsache, dass ein Arbeitnehmer trotz Krankschreibung nicht den äußerlichen Eindruck erweckt, dass er krank sei und sich zudem mit Lektüre und Proviant für eine Zugreise eindeckt, genügt nicht, um den Beweiswert eines ärztlichen Attestes zu erschüttern.

 

Normenkette

BGB § 626

 

Verfahrensgang

ArbG Gießen (Entscheidung vom 30.03.2012; Aktenzeichen 10 Ca 460/11)

 

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Gießen vom 30. März 2012 - 10 Ca 460/11 - wird auf deren Kosten zurückgewiesen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten um die Wirksamkeit von drei außerordentlichen Kündigungen.

Die Beklagte ist eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR). Sie betreibt in A ein Medizinisches Versorgungs- und Diagnostikzentrum. Dort sind 42 Arbeitnehmer beschäftigt, ein Betriebsrat ist nicht gebildet.

Der 19XX geborene Kläger ist Facharzt für Radiologie. Er arbeitete auf der Grundlage eines im April 2009 geschlossenen Vertrages seit dem 16. April 2009 für die Beklagte. Wegen des Inhalts des Arbeitsvertrags wird auf die Anlage K 1 zur Klageschrift der beigezogenen Akte des Arbeitsgerichts Gießen mit dem Aktenzeichen 6 Ca 127/12 (früher: 10 Ca 296/11) verwiesen (dort Bl. 8 f. d.A.).

Die Beklagte kündigte das zum Kläger bestehende Arbeitsverhältnis ordentlich mit Datum vom 26. Mai 2011 zum 31. Dezember 2011. Um die Wirksamkeit dieser Kündigung streiten die Parteien in dem zwischenzeitlich ausgesetzten Rechtsstreit vor dem Arbeitsgericht Gießen (6 Ca 127/12, früher: 10 Ca 296/11).

Mit Datum vom 22. August 2011, vom 08. November 2011 und vom 29. Dezember 2011 kündigte die Beklagte das zu dem Kläger bestehende Arbeitsverhältnis jeweils fristlos.

Die Beklagte hat mit der zeitlich ersten außerordentlichen Kündigung geltend gemacht, es bestehe der Verdacht, der Kläger habe seine Arbeitsunfähigkeit und Vorstellungstermine vorgetäuscht, um Entgeltfortzahlung zu erhalten. Außerdem habe er den Arbeitsplatz mehrfach vorzeitig verlassen (vgl. Kopie des Kündigungsschreibens als Anlage K 1 zur Klageschrift, Bl. 11 - 13 d.A.). Die Kündigung vom 08. November 2011 (vgl. Kopie des Kündigungsschreibens, Bl. 58 d.A.) hat sie darauf gestützt, dass der Kläger der Kassenärztlichen Vereinigung am 02. September 2011 mitteilte, dass er bei der Beklagten keine Leistung mehr erbringe und jede Haftung ablehne.

Schließlich kündigte die Beklagte ein weiteres Mal mit Schreiben vom 29. Dezember 2011 (vgl. Kopie des Kündigungsschreibens als Anlage K 7 zum Schriftsatz des Klägers und vom 12. Januar 2012, Bl. 110 f. d.A.). Eine Überprüfung des digitalen Bildarchivs habe ergeben, dass der Kläger eigenmächtig am 27. November 2010 eine MRT-Aufnahme von sich selbst erstellte, ohne den Arbeitgeber zu informieren und diese zu bezahlen.

Wegen des Vortrags beider Parteien im ersten Rechtszug und die von ihnen gestellten Anträge wird auf das Urteil des Arbeitsgerichts Gießen vom 30. März 2012 verwiesen (Bl. 144 - 169 d.A.).

Das Arbeitsgericht hat entschieden, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch keine der außerordentlichen Kündigungen fristlos beendet wurde.

Es bestehe kein dringender Verdacht, dass der Kläger im August 2011 seine Arbeitsunfähigkeit vortäuschte. Der Beweiswert des ärztlichen Attests sei nicht widerlegt worden. Wegen früherer Arbeitsunfähigkeitszeiten des Klägers sei die Frist gemäß § 626 Abs. 2 BGB nicht gewahrt. Es bestehe auch kein erheblicher Verdacht, dass der Kläger Vorstellungsfreizeit nach § 629 BGB erschlichen habe. Der Umstand, dass der Kläger sich weigere, nähere Angaben zu den Vorstellungsgesprächen zu machen, genüge dafür nicht. Soweit die Beklagte geltend gemacht habe, der Kläger habe durch Arbeit bei Vorstellungsgespräche...

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