Rz. 22

Die Grundrechte und das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) garantieren im Zusammenwirken die Verlässlichkeit der Rechtsordnung als wesentliche Voraussetzung für die Selbstbestimmung über den eigenen Lebensentwurf und damit als eine Grundbedingung freiheitlicher Verfassungen. Der Gesetzgeber ist daher grundsätzlich gehindert, in Nachhinein andere, belastendere Rechtsfolgen an das Verhalten seiner Bürger zu knüpfen, als die Rechtsfolgen, die im Zeitpunkt ihres rechtserheblichen Handelns galten[1]; eine Rückwirkung von (Steuer-)Gesetzen ist grundsätzlich unzulässig. Das BVerfG unterscheidet bisher in eine "echte" (Rückwirkung von Rechtsfolgen) und "unechte" Rückwirkung (tatbestandliche Rückanknüpfung).

 

Rz. 23

Eine echte Rückwirkung liegt vor, wenn die neue, belastende Rechtsfolge für Sachverhalte vor ihrer Verkündung für bereits abgeschlossene Sachverhalte eingreift, insbesondere eine bereits entstandene Steuerschuld ändert. Der Gesetzgeber erhöht z. B. im Vz 2019 die Steuer für Vz 2018 und weitere Vz davor; der Gesetzgeber streicht im Vz 2019 die Veräußerungsfrist i. S. d. § 23 EStG für Grundstücksveräußerungen auch für Veräußerung im Vz 2018 und für Vz davor, sodass jede Veräußerung stpfl. wird.

Eine echte Rückwirkung ist verfassungsrechtlich grundsätzlich unzulässig. Der Bürger kann darauf vertrauen, dass seine auf geltendes Recht begründete Rechtsposition nicht durch eine zeitlich rückwirkende Änderung der gesetzlichen Rechtsfolgenanordnung nachträglich nachteilig verändert wird. Sie ist in Ausnahmefällen zulässig, weil sich etwa schutzwürdiges Vertrauen gar nicht bilden konnte, etwa weil eine gefestigte höchstrichterliche Rspr. zu einer bestimmten Steuerrechtsfrage nach Änderung der Rechtsanwendungspraxis rückwirkend festgeschrieben wird[2] oder weil die nachträgliche Änderung dem Schutz überragender Gemeinschaftsgüter dient.[3]

Die in § 33 Abs. 4 EStG i. d. F. des StVereinfG 2011 (Rz. 1) und in § 64 Abs. 1 EStDV i. d. F. des StVereinfG 2011 angeordnete Rückwirkung ist nach Auffassung des BFH verfassungsrechtlich unbedenklich, da die Rechtslage vor Änderung der Rspr. wieder hergestellt wurde (§ 33 EStG Rz. 44a).[4]

 

Rz. 24

Eine unechte Rückwirkung (tatbestandliche Rückwirkung) ist gegeben, soweit belastende Rechtsfolgen erst nach ihrer Verkündung eintreten, tatbestandlich aber von einem bereits ins Werk gesetzten Sachverhalt ausgelöst werden (tatbestandliche Rückwirkung), z. B. bei Dauersachverhalten wie Veräußerungsvorgängen (§ 23 Abs. 1 Nr. 1 EStG), bei denen die Anschaffung unter dem alten Recht (2 Jahre) erfolgte, die Veräußerung aber unter das neue Recht (10 Jahre) fällt.

Eine unechte Rückwirkung ist grundsätzlich zulässig, da das Vertrauen auf den Fortbestand einer geltenden Norm verfassungsrechtlich nicht geschützt ist. Dem Gesetzgeber wäre ansonsten jede Anpassung der Rechtsordnung im Hinblick auf geänderte Lebensverhältnisse verwehrt.[5] Zur Verfassungsmäßigkeit der Besteuerung der Alterseinkünfte vgl. im Einzelnen § 10 EStG Rz. 55a ff.

Der Bürger kann nicht vor jeder Enttäuschung bewahrt werden, sodass die allgemeine Erwartung, das geltende Recht werde sich nicht nachteilig ändern, verfassungsrechtlich nicht geschützt ist.[6]

Erforderlich ist aber, dass die unechte Rückwirkung zur Förderung des Gesetzeszwecks geeignet und erforderlich ist und bei einer Gesamtabwägung zwischen dem Gewicht des enttäuschten Vertrauens und der Dringlichkeit der die Rechtsänderung rechtfertigenden Gründe die Grenzen der Zumutbarkeit gewahrt bleiben.[7]

 

Rz. 25

Änderungen im Laufe eines Vz, die auf den 1.1. des Vz zurückbezogen werden, sieht das BVerfG als unechte Rückwirkung an, da die Steuer erst mit Ablauf des Vz entsteht. Die nachteiligen Änderungen bedürfen aber einer hinreichenden Begründung nach den Maßstäben der Verhältnismäßigkeit. Die Enttäuschung des Vertrauens in die alte Rechtslage ist nur dann hinnehmbar, soweit dies aufgrund besonderer, gerade die Rückanknüpfung rechtfertigender öffentlicher Interessen unter Wahrung der Verhältnismäßigkeit gerechtfertigt ist (vgl. z. B. § 26 Abs. 1 EStG).[8]

Das BVerfG hat die Verlängerung der Veräußerungsfristen des § 23 EStG von 2 auf 10 Jahre gebilligt (§ 23 EStG Rz. 22ff.), wenn Anschaffung und Veräußerung dem neuen Recht unterliegen (Anschaffung in 1999ff., Veräußerung spätestens 10 Jahre später), ebenso, wenn die zweijährige Spekulationsfrist des § 23 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Buchst. a EStG a. F. im Zeitpunkt der Verkündung des StEntlG 1999/2000/2002 am 31.3.1999 noch nicht abgelaufen war.[9]

Das BVerfG sieht aber in der Verlängerung der Spekulationsfrist für bereits nach altem Recht erworbene Grundstücke – also vor 1999 – einen Verstoß gegen die verfassungsrechtlichen Grundsätze des Vertrauensschutzes und hält die Regelung deshalb für verfassungswidrig und nichtig, soweit in einem Veräußerungsgewinn Wertsteigerungen steuerlich erfasst werden, die bis zur Verkündung des StEntlG 1999/2000/2002 am 31.3.1999 entstanden sind und die nach der zuvor geltenden Rechtslage bis zu...

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