Das Europarecht schützt die Arbeitnehmer bereits seit den 70er-Jahren vor den sozialen Folgen von Unternehmensumstrukturierungen. Bis heute sind die 3 insoweit zentralen Richtlinien zu Massenentlassungen, Betriebsübergängen und Arbeitgeberinsolvenz in der Praxis von enormer Bedeutung.

5.1 Massenentlassungen

Die Richtlinie 98/59/EG vom 20.7.1998[1] enthält Mindestvorschriften zum Arbeitnehmerschutz bei Massenentlassungen. Darunter versteht die Richtlinie kollektive Entlassungen, die ein Arbeitgeber aus Gründen vornimmt, die nicht in der Person des Arbeitnehmers liegen. Bezugsgröße für das Vorliegen einer kollektiven Entlassung ist – nach Wahl der Mitgliedstaaten – entweder ein Zeitraum von 30 oder von 90 Tagen.

Entscheidet sich ein Mitgliedstaat für einen Zeitraum von 90 Tagen, so liegt, unabhängig von der Größe des entlassenden Unternehmens, eine Massenentlassung vor, wenn innerhalb dieses Zeitraums mindestens 20 Arbeitnehmer entlassen werden, wobei jeder Arbeitnehmer berücksichtigt werden muss.[2] Wählt der Mitgliedstaat dagegen – wie in Deutschland geschehen – eine Zeitspanne von 30 Tagen, so variiert die Anzahl der für das Vorliegen einer Massenentlassung erforderlichen gekündigten Arbeitnehmer nach der Größe des Unternehmens. Die genauen Grenzwerte ergeben sich aus Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 98/59/EG. Für die Berechnung werden neben Kündigungen auch andere Formen der Beendigungen des Arbeitsverhältnisses (z. B. Aufhebungsverträge) gezählt, soweit die Beendigung auf Veranlassung des Arbeitgebers und aus einem nicht in der Person des Arbeitnehmers liegenden Grund erfolgt und wenn die Zahl der beendigten Arbeitsverträge mindestens 5 beträgt.[3]

Ist eine Massenentlassung beabsichtigt, so muss der Arbeitgeber vor der endgültigen Entscheidung die Arbeitnehmervertreter seines Betriebs (Betriebsrat) über die geplante Maßnahme informieren.[4] Weiter muss er mit der Arbeitnehmervertretung über die Vermeidung oder Beschränkung der Entlassungen bzw. die Milderung ihrer sozialen Folgen beraten, mit dem Ziel, "zu einer Einigung zu gelangen" (Art. 2 Abs. 1). Nach Abschluss der Konsultationen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmervertretern muss die Massenentlassung der zuständigen Arbeitsverwaltungsbehörde (in Deutschland: Agentur für Arbeit) angezeigt werden. Die Behörde soll nach Lösungen suchen, mit denen die sozialen Folgen einer Massenentlassung gemindert werden können. Neben dem arbeitsmarktpolitischen Zweck der Richtlinie zeigt sich hier vor allem das Motiv des Arbeitnehmerschutzes.[5] Um der Behörde für ihre Maßnahmen Zeit zu geben, kann die Massenentlassung unbeschadet eventuell einzuhaltender Kündigungsfristen frühestens 30 Tage nach der Anzeige bei der Behörde wirksam werden (Art. 4 der Richtlinie).

In Deutschland ist die Massenentlassungsrichtlinie in §§ 17 ff. Kündigungsschutzgesetz (KSchG) umgesetzt worden[6]; die Schwellenwerte gehen sogar über die unionsrechtlichen Vorgaben hinaus. Danach muss der Arbeitgeber vor einer Massenentlassung die Arbeitnehmervertretung konsultieren und der Agentur für Arbeit die Entlassungen anzeigen. Bisher wurde der Begriff der Entlassung in Deutschland nicht mit dem Zeitpunkt der Kündigung gleichgesetzt; vielmehr kam es sowohl für die Schwellenwerte als auch für den Zeitpunkt der Anzeige auf die tatsächliche Beendigung der Arbeitsverhältnisse an.[7] Da nicht die Kündigung, sondern das tatsächliche Beschäftigungsende als "Entlassung" verstanden wurde, machte die Verletzung der Anzeigepflicht die Kündigung nicht unwirksam, sondern führte nur zu einer Entlassungssperre, also zur Verschiebung des Beschäftigungsendes.[8]

Die Rechtslage hat sich seit dem Jahr 2005 aufgrund europarechtlich getriebener Urteile dramatisch verändert. Mit Beschluss vom 30.4.2003[9] hat das ArbG Berlin dem EuGH die Frage vorgelegt, ob mit der Massenentlassungsrichtlinie die bisherige deutsche Auslegung zum Begriff "Entlassung" als Beschäftigungsende vereinbar sei. In seiner "Junk"-Entscheidung[10] verneinte der EuGH die Frage: Die Richtlinie verstehe die Kündigungserklärung als Entlassung, sodass vor der Kündigung die Konsultation der Arbeitnehmervertretung und die Anzeige erfolgen und auch die Schwellenwerte nach der Anzahl der Kündigungen berechnet werden müssten. Da die Richtlinie unmittelbar zwischen Privaten keine Anwendung findet[11], stellte sich die Frage, ob eine richtlinienkonforme Auslegung der §§ 17 ff. KSchG möglich war.

Das BAG hat eine richtlinienkonforme Auslegung der §§ 17 ff. KSchG ausdrücklich bestätigt, aber Vertrauensschutz für Arbeitgeber gewährt, die vor der "Junk"-Entscheidung die Anzeige nach der alten Rechtslage erstattet hatten.[12] Wie sich diese Rechtsprechung mit der Verweigerung von Vertrauensschutz zur Altersdiskriminierung nach dem "Mangold"-Urteil[13] vereinbaren lässt, ist fraglich.

Für die Zukunft gilt im Rahmen von Massenentlassungen nun folgende Regelung[14]: Die Schwellenwerte des § 17 KSchG sind auf die Kündigungserklärungen zu beziehen. Vor der Kündigung muss die Konsultation (mehr als bloß...

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