Die Wirkung des europäischen Rechts in der nationalen Rechtsordnung ergibt sich aus juristisch sehr unterschiedlichen Prinzipien:

1.3.1 Unmittelbare Anwendbarkeit

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Primärrecht

Viele europarechtliche Regelungen enthalten nur innerhalb der Union geltende Kompetenzvorschriften oder Zielvorgaben für die Mitgliedstaaten. EU-Rechtsnormen finden aber auch unmittelbar in den Mitgliedstaaten Anwendung. Dafür ist zwischen primärrechtlichen und sekundärrechtlichen Normen zu unterscheiden. Für das im AEU-Vertrag enthaltene Primärrecht hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) die Voraussetzungen der unmittelbaren Anwendbarkeit schon in den 60er-Jahren festgelegt.[1] Primärrechtliche Normen gelten danach unmittelbar, wenn und soweit sie eindeutige und unbedingte Verpflichtungen enthalten, deren Vollzug keines Eingriffs des nationalen Gesetzgebers bedarf. Dies ist z. B. für die Garantie der Arbeitnehmer-Freizügigkeit[2] der Fall.[3] Auch der arbeitsrechtlich bedeutsame Art. 157 AEUV, der eine Geschlechterdiskriminierung bei der Entlohnung verbietet[4] gilt unmittelbar.[5]

Sekundärrecht

Zur unmittelbaren Geltung des Sekundärrechts ist weiter zu unterscheiden: Einfach liegt der Fall bei Verordnungen. Als unionsrechtliches Pendant zu nationalen Gesetzen enthalten sie abstrakte Regelungen, die unmittelbar in allen Mitgliedstaaten verbindlich sind. Allerdings können Verordnungen Regelungslücken enthalten, die der nationale Gesetzgeber ausfüllen darf (sog. hinkende Verordnung).

Komplizierter ist es bei Richtlinien. Nach Art. 288 Abs. 3 AEUV richten sich Richtlinien zunächst nur an die Mitgliedstaaten. Diese werden verpflichtet, ein bestimmtes Ziel zu erreichen, können aber – im Rahmen der Vorgaben der Richtlinie – darüber entscheiden, wie es erreicht werden soll. Sie können bereits bestehende nationale Gesetze verändern, wie dies in Deutschland etwa im Falle des § 613a BGB geschehen ist.[6] Sie können aber auch neue Gesetze erlassen[7] oder auch auf einen formalen Umsetzungsakt verzichten, wenn das nationale Recht den Vorgaben der Richtlinie bereits entspricht. Deshalb sind Richtlinien grundsätzlich nicht unmittelbar anwendbar. In der Praxis ist in allen Richtlinien eine Frist zur Umsetzung in nationales Recht festgelegt. Die Mitgliedstaaten halten diese Frist aber oft nicht ein. Um Bürger und Unternehmen zu schützen, hat der EuGH daher ausnahmsweise eine unmittelbare Wirkung von Richtlinien bejaht. Allerdings ist diese unmittelbare Wirkung von Richtlinien nur im Verhältnis Bürger-Staat (und auch nur zugunsten des Bürgers) möglich – sog. vertikale Drittwirkung. Der zur Umsetzung verpflichtete Staat[8] soll nicht davon profitieren, dass er seiner Pflicht nicht oder nur unzureichend nachkommt.[9] Für die unmittelbare Geltung müssen 3 Voraussetzungen vorliegen[10]:

  • Ablauf der in der Richtlinie vorgesehenen Umsetzungsfrist,
  • Mitgliedstaat hat die Richtlinie nicht oder nicht richtig umgesetzt,
  • Bestimmung der Richtlinie ist "unbedingt" und "hinreichend genau" formuliert, sodass ihr Rechtsgehalt auch ohne Umsetzungsakt ermittelt werden kann.

Dagegen ist Privaten untereinander im Rechtsstreit die Berufung auf die nicht oder fehlerhaft umgesetzte Richtlinie nach den bisherigen Grundsätzen verwehrt (keine horizontale Drittwirkung).[11] Im Falle eines Arbeitsvertrags, der entgegen einer – in Deutschland fehlerhaft umgesetzten – Richtlinie eine überhöhte Wochenarbeitszeit vorsah, äußerte der Generalanwalt beim EuGH zwar in seinem Schlussantrag die Ansicht, die horizontale Drittwirkung zwischen Privaten sei im Hinblick auf den erstrebten höchstmöglichen Effekt ("effet utile")[12] bestimmter Richtlinien erforderlich.[13] Der EuGH ist dem aber nicht gefolgt; er hat allerdings die nationalen Gerichte nachdrücklich aufgefordert, in diesen Fällen das Instrument der sog. richtlinienkonformen Auslegung des nationalen Rechts anzuwenden.[14]

[1] EuGH, Urteil v. 5.2.1963, C-26/62 – van Gend & Loos.
[3] EuGH, Urteil v. 4.12.1974, C-41/74 – van Duyn.
[4] Vgl. Abschn. 3.2.
[6] Diese Norm war zusammen mit dem BetrVG am 19.1.1972 in Kraft getreten; als Reaktion auf die Richtlinie 77/187/EWG v. 14.2.1977 – inzwischen ersetzt durch die Richtlinie 2001/23/EG v. 12.3.2001 – passte der Gesetzgeber § 613a BGB durch das am 21.8.1980 in Kraft getretene EG-Anpassungsgesetz lediglich an.
[7] Wie im Falle des deutschen Gesetzes zur Umsetzung europäischer Antidiskriminierungsrichtlinien v. 14.8.2006, dessen Art. 1 das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) bildet; zum AGG vgl. Abschn. 3.4.
[9] EuGH, Urteil v. 19.1.1982, C-8/81 – Becker.
[10] EuGH, Urteil v. 4.12.1997, C-253/96 – Kampelmann; EuGH, Urteil v. 26.2.1986, C-152/84 – Marshall I.
[12] Zum Begriff EuGH, Urteil v. 6.10.1970, C-9/70 – Leberpfennig.
[13] GA Ruiz-Jarabo Colomer, C-397/01, Schlussantrag v. 27.4.2004.

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