Entscheidungsstichwort (Thema)

Aufenthalt, gewöhnlicher, im Sinne des Haager Minderjährigenschutzabkommens. Asylsuchende, Gewährung von Jugendhilfe an minderjährige Asylsuchende. gewöhnlicher Aufenthalt im Sinne des Haager Minderjährigenschutzabkommens. Hilfe zur Erziehung, Fehlen eines schriftlichen Hilfeplans. Hilfeplan bei Gewährung von Hilfe zur Erziehung. Inobhutnahme, Pflicht zur unverzüglichen Benachrichtigung des Vormundschaftsgerichts. Kostenerstattung bei Gewährung von Jugendhilfe an minderjährige Asylsuchende

 

Leitsatz (amtlich)

Die Regelungen des Asylverfahrensgesetzes und des Asylbewerberleistungsgesetzes schließen die Gewährung von Jugendhilfe an minderjährige Asylbegehrende nicht aus.

Minderjährige Asylbegehrende begründen jedenfalls nach Ablauf von sechs Monaten einen gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne von Art. 1 des Haager Minderjährigenschutzabkommens.

Ein Kostenerstattungsanspruch des örtlichen Trägers der Jugendhilfe gegen den vom Bundesverwaltungsamt bestimmten überörtlichen Träger setzt im Falle der Inobhutnahme eine unverzügliche Benachrichtigung des Vormundschaftsgerichts voraus; die Frist hierfür beträgt auch bei unbegleitet einreisenden Kindern und Jugendlichen regelmäßig nur wenige Tage.

Bei Gewährung von Hilfe zur Erziehung steht das Fehlen eines schriftlichen Hilfeplans dem Erstattungsanspruch nicht entgegen, wenn die Notwendigkeit und Geeignetheit der Hilfe auch ohne einen solchen festgestellt werden kann.

 

Normenkette

SGB VIII (F. 1993) § 6 Abs. 2; SGB VIII (F. 1993) § 6 Abs. 4; SGB VIII (F. 1993) § 10 Abs. 1 S. 1; SGB VIII (F. 1993) § 36 Abs. 2 S. 2; SGB VIII (F. 1993) § 42 Abs. 2 S. 3; SGB VIII (F. 1993) § 42 Abs. 2 S. 4; SGB VIII (F. 1993) § 86 Abs. 7; SGB VIII (F. 1993) § 89d; SGB VIII (F. 1993) § 89f; AsylVfG §§ 44, 52; AsylbLG §§ 6, 9

 

Verfahrensgang

OVG für das Land NRW (Urteil vom 27.08.1998; Aktenzeichen 16 A 3477/97)

VG Münster (Entscheidung vom 26.06.1997; Aktenzeichen 9 K 3351/96)

 

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 27. August 1998 insoweit aufgehoben, als es den Beklagten verurteilt hat, der Klägerin die für die Zeit vom 6. April 1993 bis zum 30. April 1993 für den Hilfeempfänger E. A. entstandenen Jugendhilfekosten zu erstatten; auch insoweit wird die Berufung der Klägerin zurückgewiesen.

Im übrigen wird die Revision des Beklagten zurückgewiesen.

Der Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

 

Tatbestand

I.

Die klagende Stadt begehrt von dem Beklagten als überörtlichem Träger der Jugendhilfe gemäß § 89 d SGB VIII die Erstattung von Aufwendungen, die ihr durch die Inobhutnahme und anschließende Hilfe zur Erziehung für den am 1. April 1981 in der Türkei geborenen minderjährigen Asylbegehrenden E. A. entstanden sind.

Am 23. März 1993 reiste der damals nahezu zwölfjährige Hilfeempfänger in den Zuständigkeitsbereich der Klägerin ein. Mit Schreiben vom 26. März 1993 beantragte er Asyl. Am 29. März 1993 erhielt er eine ausländerrechtliche Duldung mit der Begründung, die Voraussetzungen zur Asylantragstellung lägen gemäß § 12 AsylVfG noch nicht vor. Ab 1. April 1993 wurde der Hilfeempfänger in der Übergangseinrichtung S.-Haus untergebracht, wo er sich bis zum 25. Oktober 1993 aufhielt.

Auf Anzeige des Amtes für Soziale Dienste des Bezirksamts W. der Klägerin, dort abgegangen am 9. Juni 1993, bestellte das Vormundschaftsgericht durch Beschluß vom 15. Juni 1993 das Jugendamt der Klägerin zum Amtsvormund. Dieser beantragte mit Formularantrag vom 13. Juli 1993 für den Hilfeempfänger Hilfe zur Erziehung nach §§ 27 ff., 34 KJHG. Als unter 16jähriger unbegleiteter Minderjähriger bedürfe er erzieherischer Hilfe und Unterbringung in einer geeigneten Einrichtung; ein Erziehungsbedarf sei eindeutig gegeben. Mit Bescheid vom 15. Juli 1993 bewilligte das Jugendamt Jugendhilfe als Heimerziehung/sonstige betreute Wohnform.

Am 22. September 1993 stellte der inzwischen vom Vormundschaftsgericht für den Wirkungskreis Asylrecht bestellte Mitvormund für den Hilfeempfänger einen Asylantrag beim Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge. In der Folge erhielt der Hilfeempfänger, dessen ausländerrechtliche Duldung zuletzt bis zum 22. September 1993 verlängert worden war, eine Aufenthaltsgestattung zur Durchführung des Asylverfahrens gemäß § 63 AsylVfG, die zuletzt bis zum 18. Mai 1994 verlängert wurde. Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge lehnte den Asylantrag mit Bescheid vom 30. November 1993 als offensichtlich unbegründet ab, das hiergegen eingeleitete Klageverfahren wurde durch Beschluß des Verwaltungsgerichts Hamburg vom 13. Juli 1994 wegen Nichtbetreibens des Verfahrens eingestellt. Nach Abschluß des Asylverfahrens erhielt der Hilfeempfänger eine ausländerrechtliche Duldung, die laufend verlängert wurde.

Inzwischen war der Hilfeempfänger ab dem 26. Oktober 1993 in einer Jugendwohnung untergebracht worden. Unter Beteiligung des Amtsvormunds und zweier Betreuerinnen der Jugendwohneinrichtung wurde am 8. November 1993 eine Erziehungskonferenz durchgeführt. Unter dem 11. August 1994 legte die Jugendwohneinrichtung einen Entwicklungsbericht vor; um den Hilfeempfänger vor den zu erwartenden Auswirkungen einer Abschiebung zu schützen, solle der Jugendpsychiatrische Dienst des Jugendamts ein Gutachten über die psychische Situation des Hilfeempfängers erstellen. Eine unter dem 13. September 1994 abgegebene Stellungnahme des Amts für Jugend – Kinder- und Jugendnotdienste – zur psychischen Situation des Hilfeempfängers empfahl eine Fortsetzung der Unterbringung in dem Jugendwohnheim; eine Verlaufserziehungskonferenz vom 26. Januar 1995 und eine Stellungnahme der Leitung der Jugendwohneinrichtung vom 21. Juli 1995 kamen zu dem Ergebnis, daß der Hilfeempfänger weiterhin den beschützenden Rahmen der Wohngruppe benötige. In einer ärztlichen Stellungnahme vom 15. August 1995 sprach der Jugendpsychiatrische Dienst sich dringend für eine Fortsetzung der Unterbringung in der Wohneinrichtung aus, andernfalls die Gefahr eines Suizids oder eines psychotischen Einbruchs bestehe. Seit Anfang 1996 erhielt der Hilfeempfänger psychotherapeutische Behandlung; im Juni 1996 befürwortete der Kinder- und Jugendpsychiatrische Dienst der Klägerin die Fortführung der Therapie für zunächst weitere 40 Therapieeinheiten. Die Teilnehmer einer am 19. August 1996 durchgeführten Erziehungskonferenz schlossen sich dieser Auffassung an und sprachen sich für einen weiteren Verbleib in der Wohngruppe aus. Das Ausländeramt holte eine ärztliche Stellungnahme eines in Ankara niedergelassenen Facharztes für Neurologie ein, welcher unter dem 20. Oktober 1996 mitteilte, daß psychotherapeutische Behandlungen grundsätzlich auch in der Türkei möglich seien, allerdings in der Osttürkei nur sehr beschränkt; im Heimatort des Hilfeempfängers gebe es zur Zeit keinen Psychiater mit Erfahrung in Psychotherapie. Ausweislich eines Vermerks vom 26. Juni 1998 sah es eine Beendigung des Aufenthalts des Hilfeempfängers als geboten an.

Bereits durch Verfügung vom 16. Februar 1994 hatte das Bundesverwaltungsamt den Beklagten gemäß § 89 d Abs. 2 SGB VIII zum überörtlichen Träger der Jugendhilfe bestimmt. Dieser verweigerte jedoch die Kostenerstattung mit der Begründung, die vorläufige Inobhutnahme des Hilfeempfängers habe sich über einen längeren Zeitraum hingezogen und entspreche deshalb nicht den Voraussetzungen des § 42 SGB VIII. Im übrigen gingen die Vorschriften des Asylverfahrensgesetzes vor. Nachdem die Parteien sich auf die Durchführung verwaltungsgerichtlicher Musterverfahren geeinigt hatten, hat die Klägerin am 5. November 1996 Klage auf Erstattung der ab dem 1. April 1993 entstandenen und noch entstehenden Jugendhilfekosten erhoben.

Das Verwaltungsgericht hat der Klage für die Zeit vom 26. Oktober 1993 bis zur Beendigung der Maßnahme stattgegeben; im übrigen hat es die Klage abgewiesen, da die Voraussetzungen für eine rechtmäßige vorläufige Inobhutnahme gemäß § 42 Abs. 1 SGB VIII nicht vorgelegen hätten.

Hiergegen haben beide Parteien Berufung eingelegt, die Klägerin unter Beschränkung ihres Erstattungsbegehrens auf die schon entstandenen Jugendhilfekosten. Das Oberverwaltungsgericht hat den Beklagten unter entsprechender Änderung des erstinstanzlichen Urteils verurteilt, der Klägerin die in der Zeit vom 1. April 1993 bis zum 30. April 1993 sowie vom 9. Juni 1993 bis zum 27. August 1998 (Tag der mündlichen Verhandlung) für den Hilfeempfänger entstandenen Jugendhilfekosten zu erstatten, im übrigen (für den Zeitraum vom 1. Mai bis einschließlich 8. Juni 1993) hat es die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat das Oberverwaltungsgericht im wesentlichen ausgeführt (ZfJ 1998, 467 = NWVBl 1999, 144):

Die Leistungsklage sei für den Zeitraum vom 1. bis zum 30. April 1993 und für den Zeitraum nach dem 9. Juni 1993 begründet. Rechtsgrundlage sei § 89 d SGB VIII in der Fassung des Ersten Gesetzes zur Änderung des Achten Buches Sozialgesetzbuch vom 16. Februar 1993 (BGBl I S. 239), die am 1. April 1993 in Kraft getreten sei, als auch die Unterbringung des Hilfeempfängers im Übergangswohnheim begonnen habe. Die durch das Zweite Gesetz zur Änderung des Elften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XI) und anderer Gesetze vom 29. Mai 1998 (BGBl I S. 1188) bewirkte Neufassung des § 89 d SGB VIII sei für den streitbefangenen Erstattungsanspruch nicht einschlägig, da nach der Übergangsbestimmung in Art. 2 Nr. 11 des Änderungsgesetzes Kosten, für deren Erstattung das Bundesverwaltungsamt vor dem 1. Juli 1998 einen erstattungspflichtigen überörtlichen Träger bestimmt habe, nach den bis zu diesem Zeitpunkt geltenden Vorschriften zu erstatten seien.

Der Beklagte sei durch bestandskräftige Verfügung des Bundesverwaltungsamts vom 16. Februar 1994 gemäß § 89 d Abs. 2 SGB VIII zum überörtlichen Träger der Jugendhilfe bestimmt worden und damit für den geltend gemachten Erstattungsanspruch passivlegitimiert.

Die Voraussetzungen des § 89 d Abs. 1 SGB VIII in der hier anzuwendenden Fassung seien erfüllt. Dem Hilfeempfänger sei ab dem 1. April 1993 – innerhalb eines Monats nach der am 23. März 1993 erfolgten Einreise – Jugendhilfe in der Form der Inobhutnahme (§ 2 Abs. 3, § 42 Abs. 1 SGB VIII) in einer Übergangseinrichtung gewährt worden. Seit dem 26. Oktober 1993 habe er Leistungen der Jugendhilfe in der Form der Hilfe zur Erziehung in einer sonstigen betreuten Wohnform und ergänzende Leistungen erhalten (§§ 2 Abs. 2 Nr. 4, 27, 34, 39 und 40 SGB VIII). Der Erstattungsanspruch sei jedoch nur in dem Umfang begründet, in dem die Klägerin dem Hilfeempfänger zu Recht Jugendhilfe gewährt habe und die zugrundeliegende Maßnahme den materiellrechtlichen Vorschriften entsprochen habe (§ 89 f Abs. 1 SGB VIII).

Der Einwand des Beklagten, dem Hilfeempfänger hätte bereits deshalb keine Jugendhilfe gewährt werden dürfen, weil das Achte Buch Sozialgesetzbuch auf ihn als minderjährigen Asylsuchenden nicht anwendbar sei, greife allerdings nicht durch. Das Asylverfahrensgesetz enthalte keine abschließende Regelung für Unterbringung und Versorgung dieses Personenkreises. Aus der in § 44 Abs. 1 AsylVfG verankerten Verpflichtung der Länder, die erforderlichen Aufnahmeeinrichtungen für die Unterbringung Asylbegehrender zu schaffen und zu unterhalten sowie die notwendige Zahl von Unterbringungsplätzen bereitzustellen, könne nicht geschlossen werden, daß dadurch in anderen Gesetzen begründete Individualansprüche ausgeschlossen würden. Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus dem Grundsatz der Konnexität (Art. 104 a Abs. 1 GG), welcher lediglich besage, daß aus der Zuweisung einer Aufgabe auch die Verpflichtung zur Tragung der daraus resultierenden Kosten folge. Daraus, daß das Asylverfahrensgesetz für den in seinen Geltungsbereich einbezogenen Personenkreis durch die Zuweisung bestimmter Aufgaben auch eine Bestimmung über die Verpflichtung zur Tragung der daraus entstehenden Ausgaben getroffen habe, sei nichts über die Anwendbarkeit des Achten Buches Sozialgesetzbuch herzuleiten.

Auch der Umstand, daß gemäß § 52 AsylVfG die Aufnahme von Asylbegehrenden in dem Fall des § 14 Abs. 2 Nr. 3 AsylVfG auf die Quote nach § 45 AsylVfG angerechnet werde, schließe die Anwendbarkeit des Achten Buches Sozialgesetzbuch auf minderjährige Asylbegehrende nicht aus. Der damals noch nicht 16jährige Hilfeempfänger habe zu dieser Gruppe gehört, da er um Asyl nachgesucht habe und sein gesetzlicher Vertreter nicht verpflichtet gewesen sei, in einer Aufnahmeeinrichtung zu wohnen. Die Regelung in § 52 AsylVfG bewirke, daß diejenigen Länder, die eine überproportional große Zahl an unbegleitet eingereisten minderjährigen Asylbegehrenden aufgenommen hätten, entsprechend weniger Asylbegehrende im Rahmen der allgemeinen Aufnahmequote nach § 45 AsylVfG zugewiesen erhielten. Dem liege erkennbar die Erwägung zugrunde, daß Asylbegehrende, die noch nicht das 16. Lebensjahr vollendet hätten und deren gesetzlicher Vertreter nicht verpflichtet sei, in einer Aufnahmeeinrichtung zu wohnen, ebenfalls von der Wohnpflicht in einer Aufnahmeeinrichtung freigestellt sei, und deshalb die Länder (mindestens) finanziell so belasteten wie andere Asylbegehrende. Die kumulative Berücksichtigung von unbegleitet eingereisten minderjährigen Asylbegehrenden sowohl im Rahmen des durch § 89 d SGB VIII vorgesehenen Verteilungsverfahrens wie auch bei der Ermittlung der allgemeinen Aufnahmequote gemäß § 45 AsylVfG führe zwar auf den ersten Blick zu einer ungerechtfertigten Besserstellung solcher Jugendhilfeträger, die einen überproportional großen Anteil dieses Personenkreises betreuten; das führe aber nicht dazu, daß diese minderjährigen Asylbegehrenden von vornherein aus dem Anwendungsbereich des Achten Buches Sozialgesetzbuch ausschieden. Allenfalls sei es Aufgabe des Gesetzgebers, im Rahmen des § 52 AsylVfG eine entsprechende Regelung zu treffen. Allerdings spreche gegen einen dahin gehenden Handlungsbedarf, daß die überdurchschnittlich belasteten Träger der Jugendhilfe die Personalkosten nicht abwälzen könnten.

Der Hilfeempfänger sei auch nicht auf die vorrangige Inanspruchnahme von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz oder dem Bundessozialhilfegesetz zu verweisen. Falls er leistungsberechtigt nach dem Asylbewerberleistungsgesetz gewesen sei, berühre das gemäß § 9 Abs. 2 AsylbLG Leistungen anderer, besonders der Träger von Sozialleistungen, nicht. Zu den Sozialleistungen gehörten auch die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe (§§ 8, 11, 27 Abs. 1 SGB I). Wenn aber sogar Jugendhilfeleistungen nicht ausgeschlossen seien, gelte dies erst recht für die Inobhutnahme (§ 42 SGB VIII) als eine andere Aufgaben der Jugendhilfe (§ 2 Abs. 1, Abs. 3 Nr. 1 SGB VIII). Für den Fall, daß der Hilfeempfänger Sozialhilfe beanspruchen könne, führe § 10 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII zum gleichen Ergebnis. Demgemäß seien Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz und nach dem Bundessozialhilfegesetz nicht vorrangig gegenüber Leistungen nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch.

Allerdings habe die vorläufige Inobhutnahme des Hilfeempfängers in dem Übergangswohnheim nur in der Zeit vom 1. bis zum 30. April 1993 und vom 9. Juni 1993 bis zu ihrer Beendigung am 25. Oktober 1993 den gesetzlichen Anforderungen entsprochen. Für den dazwischenliegenden Zeitraum sei dies nicht der Fall gewesen, weil das Jugendamt nicht unverzüglich eine Entscheidung des Vormundschaftsgerichts über die erforderlichen Maßnahmen zum Wohle des Kindes herbeigeführt habe, § 42 Abs. 2 Satz 4 SGB VIII. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts führe die verspätete Herbeiführung einer vormundschaftsgerichtlichen Entscheidung nicht dazu, daß die Inobhutnahme während ihrer gesamten Dauer, d.h. auch nach Nachholung dieses Versäumnisses, rechtswidrig gewesen sei. Nachdem das Amt für Soziale Dienste des Bezirksamts W. das Vormundschaftsgericht durch das am 9. Juni 1993 abgesandte Schreiben unterrichtet habe, sei das zur Herbeiführung einer vormundschaftsgerichtlichen Entscheidung gemäß § 42 Abs. 2 Satz 4 SGB VIII Erforderliche in die Wege geleitet worden; von diesem Zeitpunkt an bis zur Beendigung der Inobhutnahme durch Umzug in die Jugendwohnung am 26. Oktober 1993 verlange die Klägerin zu Recht die Erstattung der dadurch entstandenen Kosten.

Auch die durch die Unterbringung des Hilfeempfängers in der Jugendwohnung in der Zeit vom 26. Oktober 1993 bis zum 27. August 1998 entstandenen Kosten seien erstattungsfähig; der Hilfeempfänger habe in diesem Zeitraum zu Recht Leistungen der Jugendhilfe in der Form der Hilfe zur Erziehung in einer sonstigen betreuten Wohnform und ergänzende Leistungen (§ 2 Abs. 2 Nr. 4, §§ 27, 34, 39 und 40 SGB VIII) erhalten.

Dem könne nicht mit Erfolg entgegengehalten werden, die Rechtmäßigkeit der Leistungen scheitere bereits daran, daß der Hilfeempfänger in H. keinen gewöhnlichen Aufenthalt gehabt habe. Allerdings sei fraglich, ob der Hilfeempfänger während des entscheidungserheblichen Zeitraums der Unterbringung in einer Jugendwohnung seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne von § 6 Abs. 2 SGB VIII im Inland gehabt und daher einen Rechtsanspruch auf Jugendhilfe begründet habe. Der Umstand, daß der Hilfeempfänger einen Asylantrag gestellt habe, über den damals noch nicht entschieden worden sei, habe erkennen lassen, daß er nur vorübergehend im Zuständigkeitsbereich der Klägerin verweilte. Im Grundsatz sei davon auszugehen, daß ein Asylbegehrender vor seiner bestandskräftigen Anerkennung noch keinen gewöhnlichen, sondern nur einen vorübergehenden Aufenthalt im Bundesgebiet habe. Eine Ausnahme von dem Grundsatz sei allerdings zuzulassen, wenn damit zu rechnen sei, daß der Asylbegehrende – auch bei rechtskräftiger Ablehnung des Asylantrags – aufgrund besonderer Umstände für unabsehbare Zeit nicht in sein Heimatland abgeschoben werde. Derartige Gründe hätten bei dem Hilfeempfänger jedoch nicht vorgelegen; die Ausländerbehörde habe insbesondere mit den Nachforschungen über die Therapiemöglichkeiten in der Türkei und dem Vermerk vom 26. Juni 1998 zu erkennen gegeben, daß sie den Aufenthalt des Hilfeempfängers nur als vorübergehend angesehen habe. Die Frage des gewöhnlichen Aufenthalts im Sinne von § 6 Abs. 2 SGB VIII ebenso wie die weitere Frage, ob der Hilfeempfänger auch ohne einen solchen die Jugendhilfe zu Recht als Ermessensleistung erhalten habe, brauchten aber nicht abschließend entschieden zu werden, weil dem Hilfeempfänger auf der Grundlage des Haager Übereinkommens vom 5. Oktober 1961 über die Zuständigkeit der Behörden und das anzuwendende Recht auf dem Gebiet des Schutzes von Minderjährigen (MSA) zu Recht Jugendhilfe gewährt worden sei. Dieses Abkommen gehöre zu den Regelungen, die gemäß § 6 Abs. 4 SGB VIII unberührt blieben, d.h. insbesondere die in § 6 Abs. 2 SGB VIII normierten Anspruchsvoraussetzungen modifizierten. Zu den Maßnahmen, welche die Behörden des Staates, in dem der Minderjährige seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne von Art. 1 MSA habe, nach ihrem innerstaatlichen Recht zu treffen hätten, gehörten auch die Leistungen der öffentlichen Jugendhilfe. Der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts im Sinne von Art. 1 MSA sei nicht notwendig identisch mit dem in § 6 Abs. 2 SGB VIII verwendeten Begriff, sondern im Interesse einer möglichst gleichmäßigen Anwendung in allen Vertragsstaaten autonom auszulegen. Als gewöhnlicher Aufenthalt im Sinne von Art. 1 MSA werde der Ort verstanden, in dem der Schwerpunkt der Bindungen des Minderjährigen – sein Daseinsmittelpunkt – liege. Im Grundsatz werde in Rechtsprechung und Literatur angenommen, daß der Aufenthalt eines Minderjährigen, wenn er nicht von Anfang an auf Dauer angelegt sei, jedenfalls nach sechs Monaten zum gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne von Art. 1 MSA erstarke. Dabei handle es sich um eine gut handhabbare Faustregel, von der im Interesse einer gleichmäßigen Anwendung in allen Vertragsstaaten nur in Ausnahmefällen abgewichen werden solle. Im vorliegenden Fall habe der Hilfeempfänger sich bereits im Zeitpunkt seiner Aufnahme in die Jugendwohnung am 26. Oktober 1993 mehr als sechs Monate in einer Einrichtung im Zuständigkeitsbereich der Klägerin aufgehalten und deshalb bereits durch Zeitablauf einen gewöhnlichen Aufenthalt begründet; es bestehe daher kein Anlaß, der Frage nachzugehen, ob der Aufenthalt von unbegleitet eingereisten minderjährigen Asylbegehrenden im Rahmen des Art. 1 MSA bereits von Anfang an auf Dauer angelegt sei.

Auch im übrigen habe die Gewährung von Jugendhilfe den gesetzlichen Anforderungen entsprochen; die Voraussetzungen der Gewährung von Jugendhilfe nach § 27 Abs. 1, §§ 34 und 36 Abs. 2 SGB VIII seien erfüllt. Zwar sei ein förmlicher Hilfeplan (§ 36 Abs. 2 SGB VIII) den Akten nicht zu entnehmen und seien zumindest zu Beginn der Unterbringung in der Jugendwohnung keine Feststellungen über die Notwendigkeit und Geeignetheit der Maßnahme schriftlich festgehalten worden. Dennoch sei davon auszugehen, daß die Hilfe nicht etwa planlos gewährt worden sei, sondern daß ihr durchaus ein erzieherisches Konzept zugrunde gelegen habe, das erzieherisch laufend überprüft worden sei. Jedenfalls aufgrund der ab September 1994 erstellten Gutachten über die psychische Situation des Hilfeempfängers sei eine Verweigerung weiterer Hilfe mit dem Ziel, den Vormund zu einer Überantwortung des Hilfeempfängers an die türkischen Behörden zu veranlassen, nicht mehr in Betracht gekommen.

Der geltend gemachte Erstattungsanspruch scheitere schließlich auch nicht an § 89 d Abs. 3 SGB VIII. Denn der Zeitraum, währenddessen die Voraussetzungen für eine Inobhutnahme nicht vorgelegen hätten, habe weniger als drei Monate gedauert.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Beklagten, mit der dieser die Abweisung der Klage in vollem Umfang erstrebt. Er rügt Verletzung des materiellen Rechts.

Die Klägerin verteidigt das angefochtene Urteil.

Der Oberbundesanwalt beim Bundesverwaltungsgericht stützt die Auffassung des Berufungsgerichts.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision des Beklagten ist teilweise begründet. Das Berufungsurteil ist mit Bundesrecht unvereinbar (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO), soweit es den Beklagten für den Zeitraum vom 6. bis zum 30. April 1993 zur Erstattung der für den Hilfeempfänger entstandenen Jugendhilfekosten verurteilt hat; insoweit ist die vorinstanzliche Entscheidung aufzuheben und die Berufung der Klägerin zurückzuweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwGO). Für den übrigen Teil des noch streitgegenständlichen Zeitraums – vom 1. bis zum 5. April 1993 und vom 9. Juni 1993 bis zum 27. August 1998 – steht die Verurteilung des Beklagten zur Kostenerstattung mit Bundesrecht im Einklang, so daß insoweit die Revision des Beklagten zurückzuweisen ist (§ 144 Abs. 2 VwGO).

1. Zu Recht hat das Berufungsgericht den Beklagten aufgrund der Bestimmung des Bundesverwaltungsamts vom 16. Februar 1994 als passivlegitimierten überörtlichen Träger der Jugendhilfe nach § 89 d des Achten Buches SozialgesetzbuchSGB VIII – in der hier maßgeblichen Fassung der Bekanntmachung vom 3. Mai 1993 (BGBl I S. 637) angesehen. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob der Bestimmungsakt rechtlich als der Bestandskraft fähiger und infolge Nichteinlegung eines Widerspruchs bestandskräftig gewordener Verwaltungsakt, als behördliche Verfahrenshandlung im Sinne des § 44 a Satz 1 VwGO oder – was der Wortlaut des § 89 d Abs. 2 Satz 3 SGB VIII in der hier maßgeblichen Fassung nahelegen könnte – rechtlich als Äquivalent einer Schiedsstellenentscheidung einzuordnen ist. Auf diese Fragen kommt es vorliegend deshalb nicht entscheidungserheblich an. Nach der hier noch anzuwendenden ebenso wie nach der jetzt geltenden Fassung des § 89 d SGB VIII hat das Bundesverwaltungsamt nur den gesetzlich näher geregelten Belastungsvergleich anzustellen, nicht aber das Bestehen des geltend gemachten Erstattungsanspruches zu überprüfen (vgl. Kraushaar, in: Fieseler/Schleicher, GK-SGB VIII, 1998, § 89 d, Rn. 19). Dafür, daß dieser Belastungsvergleich nicht oder fehlerhaft angestellt worden sein könnte, hat weder die Revision etwas Substantiiertes vorgetragen noch ist hierfür sonst etwas ersichtlich.

2. Zutreffend hat das Berufungsgericht auch dargelegt, daß der Erstattungsanspruch der Klägerin nicht daran scheitert, daß die Jugendhilfe einem minderjährigen Asylbegehrenden gewährt worden ist. Die dem zugrundeliegende Auffassung, die §§ 27, 34, 39, 40, 42, 89 d SGB VIII würden weder durch die Vorschriften des Asylverfahrensgesetzes noch durch die des Asylbewerberleistungsgesetzes verdrängt, entspricht der Rechtslage. Der Senat sieht davon ab, die zutreffenden Argumente des Berufungsgerichts im einzelnen zu wiederholen. Sie werden bestätigt vor allem durch § 86 Abs. 7 SGB VIII, der zusammen mit der hier anzuwendenden Fassung des § 89 d SGB VIII durch das Erste Gesetz zur Änderung des Achten Buches Sozialgesetzbuch vom 16. Februar 1993 (BGBl I S. 239) in das Achte Buch Sozialgesetzbuch eingefügt worden ist, um die jugendhilferechtlichen Zuständigkeitsbestimmungen auf die Regelungen des Asylverfahrensgesetzes abzustimmen (vgl. die Begründung der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Frauen und Jugend, BTDrucks 12/3711, S. 44 zu Nr. 26). Die Normierung einer Sonderzuständigkeit „für Leistungen an Asylsuchende” (§ 86 Abs. 7 Satz 1 SGB VIII F. 1993) läßt aber den unabweisbaren Rückschluß zu, daß Asylsuchende unter den Geltungsbereich des Achten Buches Sozialgesetzbuch fallen und die für sie in Betracht kommenden Sozialleistungen nicht im Asylverfahrens- und im Asylbewerberleistungsgesetz abschließend geregelt sind.

Das bestätigt im übrigen auch die Entstehungsgeschichte des § 89 d SGB VIII, die der Beklagte für seine Behauptung in Anspruch nimmt, eine Asylantragstellung stelle einen (ungeschriebenen) Ausschlußgrund für die Kostenerstattung dar. Nach der bis zum 31. März 1993 geltenden Rechtslage (§ 97 Abs. 4 SGB VIII i.d.F. des Art. 1 des Gesetzes zur Neuordnung des Kinder- und Jugendhilferechts ≪Kinder- und Jugendhilfegesetz – KJHG≫ vom 26. Juni 1990 ≪BGBl I S. 1163≫) war eine Kostenerstattung für Jugendhilfeleistungen an Asylbewerber infolge der in § 97 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII F. 1990 angeordneten entsprechenden Geltung des § 108 Abs. 6 BSHG ausgeschlossen; dieser Ausschluß galt für den gesamten Leistungszeitraum ab Grenzübertritt einschließlich der Zeit nach dem Ende des Asylverfahrens (vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Februar 1992 – BVerwG 5 C 22.88 – ≪Buchholz 436.0 § 108 BSHG Nr. 1 S. 5≫). Folge dieser Regelung war aber nicht, daß Jugendhilfe an minderjährige Asylbegehrende nicht geleistet werden durfte, sie also vom persönlichen Geltungsbereich des Kinder- und Jugendhilferechts ausgeschlossen waren, sondern daß für sie keine Kostenerstattung vom überörtlichen Jugendhilfeträger begehrt werden konnte.

Daß das Achte Buch Sozialgesetzbuch als Erziehungsgesetz auch für jugendliche Asylbegehrende gelten solle, ist im Gesetzgebungsverfahren auch ausdrücklich betont worden. Während der Regierungsentwurf vom 27. September 1989 noch anstrebte, nur solche Ausländer Deutschen gleichzustellen, die hier auf Dauer leben und weitgehend integriert sind (vgl. BTDrucks 11/5948 S. 50 zu § 5 Abs. 2), entsprach die dann Gesetz gewordene Fassung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes inhaltlich dem abweichenden Vorschlag des Bundesrats. Dieser begründete seinen Änderungsvorschlag, der der heutigen Fassung des § 6 Abs. 2 SGB VIII entspricht, damit, daß ein Ausschluß von Asylbegehrendenn und geduldeten Ausländern, die auf längere Zeit hier lebten, nicht gerechtfertigt sei. Kinder und Jugendliche, die aufgrund ihres ausländerrechtlichen Status nicht abgeschoben werden könnten oder aufgrund tatsächlicher Gegebenheiten nicht abgeschoben würden, könnten nicht jahrelang ohne die für sie notwendige Hilfe zur Erziehung gelassen werden: „Das Jugendhilfegesetz ist ein Erziehungsgesetz, und eine Verweigerung von Erziehung für einen Zeitraum von möglicherweise mehreren Jahren kann nicht gerechtfertigt werden” (BTDrucks 11/5948 S. 125 zu Art. 1 § 5 Abs. 1 und Abs. 2).

Eine dem § 97 Abs. 4 SGB VIII F. 1990 i.V.m. § 108 Abs. 6 BSHG vergleichbare Erstattungsausschlußnorm ist in § 89 d SGB VIII in der Fassung des Ersten Gesetzes zur Änderung des Achten Buches Sozialgesetzbuch bewußt nicht mehr enthalten, um anstelle des Verweises auf § 108 BSHG eine den Bedürfnissen der Jugendhilfe angepaßte eigenständige Regelung zu ermöglichen (vgl. Begründung zum Regierungsentwurf, BTDrucks 12/2866, S. 24 zu § 89 d; nach Kraushaar, in: Fieseler/Schleicher, GK-SGB VIII, 1998, § 89 d Rn. 32 ist eine solche Ausschlußregelung u.a. auf Betreiben der kommunalen Spitzenverbände nicht in die Neuregelung aufgenommen worden). Dafür, daß der Gesetzgeber gleichwohl an dem früheren Ausschluß der Kostenerstattungspflicht für Jugendhilfe an Asylbegehrende nichts hätte ändern wollen, fehlt es an jedem Anhaltspunkt in den Gesetzesmaterialien zum Ersten Gesetz zur Änderung des Achten Buches Sozialgesetzbuch. Aus dem Umstand, daß § 89 d Abs. 1 Satz 3 SGB VIII in der seit dem 1. Juli 1998 geltenden Fassung durch Art. 2 Nr. 9 des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Elften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XI) und anderer Gesetze vom 29. Mai 1998 (BGBl I S. 1188) nunmehr die ausdrückliche Regelung enthält, daß die Erstattungspflicht unberührt bleibt, wenn die aus dem Ausland eingereiste Person um Asyl nachsucht oder einen Asylantrag stellt, läßt sich nicht schließen, daß ein entsprechender Erstattungsausschlußgrund vorher entgegen dem gesetzlichen Wortlaut bestanden habe. Nicht von ungefähr ist im Gesetzgebungsverfahren dieser Regelung ausdrücklich nur klarstellende Bedeutung beigemessen worden (vgl. Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung, BTDrucks 13/10330, S. 20 zu Abs. 1).

Der Einwand des Beklagten, die Gewährung von Jugendhilfe sei deshalb fehlerhaft, weil nach § 10 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII „Verpflichtungen anderer, insbesondere … der Träger anderer Sozialleistungen” durch das Achte Buch Sozialgesetzbuch nicht berührt werden und an den Hilfesuchenden Jugendhilfe nicht nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch, sondern nach den Bestimmungen des Asylbewerberleistungsgesetzes zu leisten gewesen sei, geht fehl. Die Nachrangvorschrift des § 10 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII schließt die Anwendbarkeit des Achten Buches Sozialgesetzbuch auf junge asylbegehrende Ausländer nicht aus, da das Asylbewerberleistungsgesetz keine der Gewährung von Jugendhilfe nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch vergleichbaren Leistungen vorhält. Dies hat den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung bei der Beratung der Neufassung des § 89 d SGB VIII 1998 zu der Feststellung veranlaßt, eine Konkurrenz von Jugendhilfe mit Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgsetz entfalle bereits aufgrund des unterschiedlichen Leistungsinhalts (BTDrucks 13/10330, S. 20 zu Abs. 1). Die Auffassung des Beklagten, Leistungen nach § 6 AsylbLG könnten auch Jugendhilfeleistungen sein, wie sie dem Hilfeempfänger gewährt worden seien, findet im Gesetz keine Stütze; weder Wortlaut noch Entstehungsgeschichte der Bestimmung ergeben Anhaltspunkte dafür, daß mit „sonstigen Leistungen” im Sinne des § 6 Satz 1 AsylbLG die Gewährung von Jugendhilfe durch die von den Landesregierungen gemäß § 10 AsylbLG bestimmten Behörden gemeint sein könnte.

Das Asylbewerberleistungsgsetz ist kein Erziehungsgesetz wie das Achte Buch Sozialgesetzbuch, sondern befaßt sich mit der Unterbringung und Versorgung von Asylbewerbern; um materielle Anreize für eine illegale Einreise zu beseitigen, gewährt es grundsätzlich nur die Leistung des Existenzminimums vorrangig in Form von Sachleistungen. Neben den Grundleistungen des § 3 Abs. 1 AsylbLG und den Leistungen bei Krankheit, Schwangerschaft und Geburt (§ 4 AsylbLG) dürfen gemäß § 6 Satz 1 AsylbLG in der bis einschließlich 31. Mai 1997 gültigen Fassung „Sonstige Leistungen” nur gewährt werden (Neufassung durch Art. 1 Nr. 5 des Ersten Gesetzes zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes vom 26. Mai 1997 ≪BGBl I S. 1130≫: „können insbesondere gewährt werden”), „wenn sie im Einzelfall zur Sicherung des Lebensunterhalts oder der Gesundheit unerläßlich, zur Deckung besonderer Bedürfnisse von Kindern geboten … sind”; gemäß Satz 2 gilt auch hier der Sachleistungsgrundsatz. Der Gesetzgeber wollte damit dem Umstand Rechnung tragen, daß Leistungen bei Krankheit, Schwangerschaft und Geburt und insbesondere die Grundleistungen als Pauschalleistungen auf niedrigem Niveau – in Ermangelung ergänzender Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz – im Einzelfall nicht ausreichen könnten, um das zur Sicherung des Lebensunterhalts und der Gesundheit Unerläßliche sicherzustellen (vgl. BTDrucks 12/4451 S. 10 zu § 5). Daß er mit diesen sonstigen Leistungen nicht das Aufgaben- und Leistungsprogramm der Jugendhilfe in das Asylbewerberleistungsgesetz inkorporieren wollte, ergibt sich deutlich aus der Gesetzesbegründung, die die Leistungen nicht näher umschrieb, sondern darauf hinwies, daß sich ihre konkrete Gestalt „nach den Umständen des Einzelfalles” richte und als ein Beispiel „Hygienemittel für Wöchnerinnen” nannte (BTDrucks 12/4451 a.a.O.). Die Begründung zum Ersten Änderungsgesetz fügte dem „außergewöhnliche Umstände wie beispielsweise … einen Todesfall, … einen besonderen Hygienebedarf oder … körperliche Beeinträchtigungen” (BTDrucks 13/2746 S. 16 zu Nr. 5 ≪§ 6≫) als Beispiele hinzu. Vor diesem Hintergrund kommen als Leistungen „zur Deckung besonderer Bedürfnisse von Kindern” im Sinne des § 6 Satz 1 AsylbLG etwa Leistungen für Kleidung, Ernährung oder Schulbesuch (vgl. dazu etwa Kunkel, NVwZ 1994, 352 f.; Deibel, ZAR 1995, 57 ≪63≫) in Betracht, nicht aber das Aufgaben- und Leistungsprogramm der Jugendhilfe. Es ist auch kein Anhaltspunkt dafür ersichtlich, daß der Gesetzgeber, der mit dem Achten Buch Sozialgesetzbuch bewußt ein auch für jugendliche Asylbegehrende geltendes Erziehungsgesetz geschaffen hat, dessen Leistungen jugendlichen Asylbegehrenden mit der sondergesetzlichen Regelung von Grund- und Zusatzleistungen im Asylbewerberleistungsgesetz wieder hat entziehen wollen. Im Gegenteil, aus § 9 Abs. 1 AsylbLG ergibt sich, daß nur die Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz oder vergleichbaren Landesgesetzen ausgeschlossen sein sollen, während „Leistungen anderer, besonders Unterhaltspflichtiger, der Träger von Sozialleistungen oder der Länder im Rahmen ihrer Pflicht nach § 44 Abs. 1 des Asylverfahrensgesetzes … durch dieses Gesetz nicht berührt” werden sollen (§ 9 Abs. 2 AsylbLG). Daß mit Leistungen der Träger von Sozialleistungen auch Kinder- und Jugendhilfeleistungen gemeint sind, ergibt sich aus dem Inhalt des Sozialgesetzbuchs, insbesondere dessen Achten Buches (vgl. auch § 27 SGB I).

Die Meinung des Beklagten, aus der Verpflichtung der Länder zur Unterbringung Asylbegehrender (§ 44 Abs. 1 AsylVfG) folge ein Ausschluß von Leistungsansprüchen von Asylbegehrenden gegen andere Leistungsträger, ist von der Vorinstanz zutreffend mit der Begründung zurückgewiesen worden, daß ein solcher Ausschluß aus dieser Bestimmung nicht herzuleiten ist (S. 15 des Urteils). Die Aufgabenbestimmung in § 44 AsylVfG besagt nichts über das Verhältnis der Aufgaben nach dem Asylverfahrensgesetz und dem Asylbewerberleistungsgesetz zu anderen Aufgaben; insoweit ist für Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz dessen § 9 einschlägig.

Ob es, wie der Beklagte geltend macht, eine ungerechtfertigte Begünstigung der Länder mit hohen Einreisezahlen darstellt, daß in diesen Erstattungsfällen schon eine Anrechnung auf die Asylquote erfolgt ist (§ 52 AsylVfG), erscheint schon in tatsächlicher Hinsicht als zweifelhaft und wird von der Revision auch in keiner Weise belegt. Demgegenüber wird in dem Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung im Gesetzgebungsverfahren zur Neufassung des § 89 d SGB VIII 1998 darauf hingewiesen, daß die Erstattungspflicht „nach wie vor nur die Sachkosten, nicht die Verwaltungskosten” erfasse (BTDrucks 13/10330, S. 20 zu Nr. 9 ≪§ 89 d≫ zu Abs. 1); auch Wiesner (SGB VIII, § 86 Rn. 45) stellt fest, daß die Kostenerstattung die erhöhten Aufwendungen bei der Versorgung des Personenkreises der minderjährigen unbegleiteten Flüchtlinge im Alter von unter 16 Jahren, der sich infolge der Nichteinbeziehung in das Verteilungsverfahren auf einzelne Ballungsgebiete konzentriere und dort Versorgungsprobleme verursache, nicht kompensiere, da nur ein Teil der tatsächlichen Aufwendungen erstattungsfähig sei. Jedenfalls ist dem Berufungsgericht darin zuzustimmen, daß sich aus § 52 AsylVfG nicht folgern läßt, neben der Anrechnung sei eine Kostenerstattung ausgeschlossen. Die Auffassung des Beklagten, das Asylrecht sei auch hinsichtlich der Finanzierung ein „geschlossenes System” in dem Sinne, daß es keine gegenläufigen Vorschriften geben dürfe, wird schon durch die gesetzliche Ausgestaltung widerlegt.

3. Unzutreffend ist auch der Einwand des Beklagten, die Jugendhilfe sei zu Unrecht erfolgt, weil der Hilfesuchende keinen gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne des § 6 Abs. 2 SGB VIII oder des Haager Übereinkommens über die Zuständigkeit der Behörden und das anzuwendende Recht auf dem Gebiet des Schutzes von Minderjährigen vom 5. Oktober 1961 (MSA) gehabt habe. Das Übereinkommen, dem die Bundesrepublik Deutschland durch Gesetz vom 30. April 1971 (BGBl I S. 217) beigetreten ist, modifiziert über § 6 Abs. 4 SGB VIII den für den Anspruch von Ausländern auf Jugendhilfe maßgeblichen Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts. Gemäß Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 des Abkommens haben die Behörden des Staates, in dem der Minderjährige seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, die nach ihrem innerstaatlichen Recht vorgesehenen Maßnahmen zum Schutz der Person des Minderjährigen zu treffen; dazu gehören, wie die Vorinstanz zutreffend festgestellt hat, auch die Maßnahmen der öffentlichen Jugendhilfe.

Für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der am 1. April 1993 erfolgten Inobhutnahme kommt es allerdings entgegen der Meinung des Beklagten nicht auf das Bestehen eines gewöhnlichen Aufenthalts an, da es sich bei der Inobhutnahme nicht um eine Leistung der Jugendhilfe im Sinne von § 6 SGB VIII, sondern um eine „andere Aufgabe” gemäß § 2 Abs. 3 Nr. 1 SGB VIII handelt. Voraussetzung der Inobhutnahme (§ 42 SGB VIII) ist nicht das Vorliegen eines gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes oder Jugendlichen im Inland, sondern lediglich, daß ein Kind bzw. ein Jugendlicher um Obhut bittet (Abs. 2) bzw. daß eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes oder Jugendlichen die Inobhutnahme erfordert (Abs. 3).

Hingegen entspricht die mit Bescheid vom 15. Juli 1993 bewilligte und ab dem 26. Oktober 1993 durch Unterbringung in einer Jugendwohnung gewährte Hilfe zur Erziehung in einer betreuten Wohnform (§§ 27, 34 SGB VIII) nur dann den Vorschriften des Achten Buches Sozialgesetzbuch, wenn der Hilfesuchende im damaligen Zeitpunkt im Inland einen gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne des Haager Abkommens oder des § 6 Abs. 2 SGB VIII begründet hatte. Da die Regelung des Haager Abkommens für den dort geschützten Personenkreis im Verhältnis zur allgemeinen Regelung in § 6 Abs. 2 SGB VIII Vorrang hat und es bei Vorliegen eines gewöhnlichen Aufenthalts im Sinne des Abkommens nicht (mehr) darauf ankommt, ob (auch) die Voraussetzungen des § 6 Abs. 2 SGB VIII erfüllt sind, hat der Senat keinen Anlaß, das Vorliegen eines gewöhnlichen Aufenthalts im Sinne des § 6 Abs. 2 SGB VIII und die Richtigkeit der von der Vorinstanz in diesem Zusammenhang vorgenommenen Erwägungen insbesondere im Zusammenhang von ausländerrechtlichem Aufenthaltsstatus und gewöhnlichem Aufenthalt zu überprüfen; denn zu Recht hat das Berufungsgericht für die seit dem 26. Oktober 1993 geleistete Hilfe zur Erziehung die Voraussetzungen eines gewöhnlichen Aufenthalts im Sinne des Art. 1 MSA bejaht. Es hat diesen Begriff in Übereinstimmung mit Schrifttum und Rechtsprechung im Interesse einer möglichst gleichmäßigen Anwendung in allen Vertragsstaaten zutreffend autonom ausgelegt und als rechtliches Kriterium für den gewöhnlichen Aufenthalt auf den Daseinsmittelpunkt und Schwerpunkt der Bindungen der betreffenden Person abgestellt. Ebenfalls zutreffend hat es die in Literatur und Rechtsprechung allgemein unterstützte „Faustregel” zu Art. 1 MSA zur Anwendung gebracht, wonach der Aufenthalt eines Minderjährigen, wenn er nicht von Anfang an auf Dauer angelegt ist, jedenfalls nach sechs Monaten regelmäßig zum gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne dieser Bestimmung erstarkt. Die hiergegen vom Beklagten erhobenen Einwendungen gehen fehl.

Mit ihrer Auffassung, mangels gleichmäßiger innerstaatlicher Standards in den Mitgliedstaaten des Abkommens bestehe keine Verpflichtung, den Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts in allen Mitgliedstaaten gemäß der oben genannten Regel anzuwenden, verkennt die Revision, daß das Abkommen gerade den Zweck hat, die Einhaltung einheitlicher Standards durch die Mitgliedstaaten sicherzustellen, und läßt unbeachtet, daß der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts gerade nicht nach dem innerstaatlichen Recht – in Anlehnung an § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I –, sondern aus Sinn und Zweck des Abkommens – dem effektiven Schutz der Minderjährigen – zu ermitteln ist. Soweit sie vorträgt, der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts im Sinne des Haager Abkommens stelle auf den tatsächlichen Mittelpunkt der Lebensführung einer Person ab und sei aufgrund der sozialen Eingliederung objektiv zu bestimmen und bei der Sechs-Monats-Regel handle es sich nur um ein Indiz für die Begründung des gewöhnlichen Aufenthalts, für welche alle objektiven und subjektiven Umstände zu berücksichtigen seien, stimmt dies mit den vom Berufungsgericht zugrunde gelegten Maßstäben überein. Unzutreffend ist jedoch die Auffassung, die für einen gewöhnlichen Aufenthalt erforderliche Stabilität der Eingliederung sei aus rechtlichen Gründen bei einem ausländerrechtlich ungesicherten Aufenthalt (Asylbewerber hätten ausländerrechtlich grundsätzlich nur einen vorübergehenden Aufenthalt, da sie jederzeit mit ihrem baldigen Aufenthaltswechsel rechnen müßten) auch nach Ablauf von sechs Monaten nicht gegeben. Eine solche rechtshemmende Wirkung auch noch nach einem sechsmonatigen Aufenthalt würde dem Zweck des Abkommens, Kindern und Jugendlichen einen effektiven Schutz zu gewährleisten, zuwiderlaufen und praktisch die Verweigerung von Jugendhilfe für minderjährige Asylbegehrende auf unbegrenzte Zeit zur Folge haben. Dies wäre eine Verweigerung des Schutzes des Abkommens für eine wichtige Bezugsgruppe.

Die Frage, ob der Hilfesuchende bereits bei seiner Inobhutnahme einen gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne des Haager Abkommens begründet hatte, hat das Oberverwaltungsgericht, da dies nicht rechtliche Voraussetzung der Wahrnehmung dieser im Sinne von § 2 Abs. 3 Nr. 1 SGB VIII „anderen Aufgabe” ist, zu Recht als nicht entscheidungserheblich dahingestellt gelassen; auch das Bundesverwaltungsgericht hat keinen Anlaß, sich zu dieser Frage zu äußern.

4. Dem geltend gemachten Anspruch auf Erstattung der Kosten der Jugendhilfe steht nicht entgegen, daß kein förmliches Hilfeplanverfahren nach § 36 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII stattgefunden hat.

Das Fehlen eines schriftlich fixierten Hilfeplans hat nicht die Folge, daß der Beklagte mangels Feststellbarkeit der Notwendigkeit und Geeignetheit der Hilfe die Erstattung verweigern könnte. Gegen die Annahme, die Erstellung eines Hilfeplans sei eine materielle Rechtmäßigkeitsvoraussetzung der Jugendhilfe, spricht bereits der Wortlaut der Bestimmung, wonach die Fachkräfte zusammen mit dem Personensorgeberechtigten und dem Kind oder Jugendlichen einen Hilfeplan aufstellen „sollen”. Ist der Hilfeplan somit nicht unverzichtbare Voraussetzung der Gewährung von Jugendhilfe, so ist für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit als entscheidend anzusehen, ob die Notwendigkeit und Geeignetheit der Hilfe auch ohne eine schriftliche Fixierung in einem Hilfeplan festgestellt werden kann. Dabei ist zu beachten, daß es sich bei der Entscheidung über die Notwendigkeit und Geeignetheit der Hilfe um das Ergebnis eines kooperativen pädagogischen Entscheidungsprozesses unter Mitwirkung des Kindes bzw. des Jugendlichen und mehrerer Fachkräfte handelt, welches nicht den Anspruch objektiver Richtigkeit erhebt, jedoch eine angemessene Lösung zur Bewältigung der festgestellten Belastungssituation enthält, die fachlich vertretbar und nachvollziehbar sein muß; die verwaltungsgerichtliche Überprüfung hat sich dabei darauf zu beschränken, ob allgemeingültige fachliche Maßstäbe beachtet worden sind, ob keine sachfremden Erwägungen eingeflossen sind und die Leistungsadressaten in umfassender Weise beteiligt worden sind (ebenso Wiesner, SGB VIII, § 36 Rn. 47, 50). Von daher ist es nicht zu beanstanden, daß die Vorinstanz aus der Gesamtschau der Erziehungskonferenzen und der ab September 1994 erstellten Gutachten über die psychische Situation des Hilfeempfängers die Gewährung und Fortsetzung der Hilfe als notwendig angesehen hat und insoweit – auch ohne Hilfeplan – von einem laufend überprüften erzieherischen Konzept ausgegangen ist.

5. Für den im Revisionsverfahren noch streitgegenständlichen Teil des Zeitraums der Inobhutnahme vor Einschaltung des Vormundschaftsgerichts (vom 1. April bis zum 30. April 1993) hat jedoch die Revision des Beklagten für den Zeitraum vom 6. April 1993 bis zum 30. April 1993 Erfolg. Das Berufungsgericht hat den Beklagten insoweit zu Unrecht zur Erstattung der entstandenen Jugendhilfekosten verurteilt; denn (auch) in diesem zeitlichen Umfang entsprach die Inobhutnahme des E. A. nicht den Bestimmungen des Achten Buches Sozialgesetzbuch (§ 89 f Abs. 1 SGB VIII). Insoweit war deshalb die vorinstanzliche Entscheidung aufzuheben und die Berufung der Klägerin zurückzuweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwGO).

Die am 1. April 1993 erfolgte Inobhutnahme des Hilfesuchenden entsprach – wovon auch die Vorinstanz ausgeht – nicht mehr den gesetzlichen Bestimmungen, nachdem der durch das Gebot einer „unverzüglichen” Herbeiführung einer Entscheidung des Vormundschaftsgerichts über die erforderlichen Maßnahmen zum Wohle des Kindes (§ 42 Abs. 2 Satz 4 SGB VIII) umrissene Zeitraum überschritten war. Dies war jedoch nicht, wie das Oberverwaltungsgericht meint, erst mit Ablauf eines Monats nach Inobhutnahme der Fall, sondern bereits zu einem wesentlich früheren Zeitpunkt, den der Senat hier mit dem Ablauf des 5. April 1993 als erreicht ansieht. Nach der am 1. April 1993, einem Donnerstag, erfolgten Inobhutnahme hätte das Jugendamt das Vormundschaftsgericht jedenfalls mit Ablauf des darauffolgenden Montags von der Einreise und Inobhutnahme des unbegleiteten asylbegehrenden Hilfesuchenden und der Nichterreichbarkeit des Personensorge- oder Erziehungsberechtigten unterrichten müssen, was jedoch erst am 9. Juni 1993 mit der „Anzeige gemäß § 50 KJHG” des Amts für Soziale Dienste des Bezirksamts W. geschehen ist. Mit dem Gebot, „unverzüglich” eine Entscheidung des Vormundschaftsgerichts über die zum Wohl des Kindes oder Jugendlichen erforderlichen Maßnahmen herbeizuführen, bringt das Gesetz zum Ausdruck, daß es sich bei den Entscheidungen und Maßnahmen des Jugendamts zunächst nur um vorläufige Maßnahmen handelt, während die erforderlichen sorgerechtlichen Maßnahmen vom Vormundschaftsgericht zu treffen sind (vgl. Wiesner, SGB VIII, § 42 Rn. 1, 32). Dem widerspräche es, wenn das Jugendamt die Befugnis hätte, ein Kind oder einen Jugendlichen wochen- oder monatelang in eigener Zuständigkeit unter Obhut zu halten, ohne eine Entscheidung des Vormundschaftsgerichts herbeizuführen. Bei der Auslegung des Begriffs „unverzüglich” ist mangels entgegengesetzter Anhaltspunkte davon auszugehen, daß dieser – wie in § 121 BGB – „ohne schuldhaftes Zögern” bedeutet. Zwar ist „unverzüglich” nicht gleichbedeutend mit „sofort”, vielmehr muß dem Jugendamt eine angemessene Zeit zur Prüfung und Entscheidung bleiben, welche sich durch die Sorge um das Wohl des Minderjährigen bestimmt (vgl. Münder u.a., Frankfurter LPK-KJHG, 1998, § 42 Rn. 11). Eine solche teleologische Auslegung des Begriffs (Wiesner, SGB VIII, § 42 Rn. 27) kann jedoch nicht dazu führen, daß bei unbegleitet einreisenden ausländischen Kindern und Jugendlichen das Tatbestandsmerkmal „unverzüglich” im Ergebnis zu einer im Gesetz nicht vorgesehenen Monatsfrist wird. Es ist auch nicht zu erkennen, warum bei dieser Fallgruppe im Interesse einer sachgerechten Sachverhaltsermittlung generell eine Frist von einem Monat zur Unterrichtung des Vormundschaftsgerichts erforderlich sein soll; so läßt auch die hier am 9. Juni 1993 erfolgte Anzeige an das Vormundschaftsgericht nichts ersehen, was nicht auch schon bis zum 6. April 1993 zur Herbeiführung einer vormundschaftsgerichtlichen Entscheidung hätte mitgeteilt werden können; dies gilt insbesondere auch für den Grund der Inobhutnahme, welcher bei unbegleitet einreisenden asylbegehrenden Kindern und Jugendlichen in dem Umstand liegt, daß sie ohne Personensorgeberechtigten sind. Die Klägerin macht selbst nicht geltend, von einer früheren Anzeige durch einen konkreten weiterreichenden Ermittlungsbedarf abgehalten worden zu sein, sondern beruft sich lediglich auf die damalige Belastungssituation, welche ein rascheres Handeln unmöglich gemacht habe. Es ist jedoch nicht ersichtlich, inwieweit es infolge einer außergewöhnlich hohen Zahl von Fällen einer Inobhutnahme grechtfertigt gewesen sein könnte, von einer frühzeitigeren, ansonsten keine weiteren, individuellen Ermittlungen erfordernden Einleitung des vormundschaftsgerichtlichen Verfahrens abzusehen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO, die Gerichtskostenfreiheit auf § 188 Satz 2 VwGO.

 

Unterschriften

Dr. Pietzner, Dr. Bender Schmidt, Dr. Rothkegel, Dr. Franke

 

Fundstellen

Haufe-Index 1377327

BVerwGE

FamRZ 2000, 286

NVwZ 2000, 325

DÖV 2000, 204

FEVS 2000, 152

NDV-RD 2000, 4

ZAR 2000, 39

ZfF 2002, 237

ZfJ 2000, 31

ZfSH/SGB 2000, 110

DVBl. 2000, 629

Jugendhilfe 2000, 271

FuBW 2000, 547

FuBW 2000, 549

FuHe 2000, 662

FuHe 2000, 664

FuNds 2001, 88

FuNds 2001, 90

NWVBl. 2000, 87

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