Verfahrensgang

LSG Berlin (Urteil vom 17.08.1994; Aktenzeichen L 9 Kr 8/94)

 

Tenor

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

 

Tatbestand

I.

  • Die Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK) verlangt von der Beschwerdeführerin, die ein Transport- und Transportvermittlungsunternehmen betreibt, die (Nach-)Zahlung von Gesamtsozialversicherungsbeiträgen und Beiträgen zur Bundesanstalt für Arbeit für 59 Personen in Höhe von mehreren hunderttausend DM. Nach Ansicht der AOK sind diese Personen bei der Beschwerdeführerin nicht als selbständige Unternehmer (sog. Unterfrachtführer im Sinne des § 432 Handelsgesetzbuch – HGB –) – so die Meinung der Beschwerdeführerin –, sondern als abhängig beschäftigte Arbeitnehmer tätig. Klage und Berufung der Beschwerdeführerin gegen die Feststellung der Beitrags- und Versicherungspflicht seitens der AOK, u.a. des Peter B.… (Beigeladener im Ausgangsverfahren), blieben ohne Erfolg. In seinem Urteil vom 17. August 1994 (L 9 Kr 8/94) legte das Landessozialgericht im einzelnen dar, daß der Fall des Beigeladenen B.… sowohl Merkmale der Selbständigkeit wie auch der abhängigen Beschäftigung aufweise. Bei der Gesamtwürdigung aller Umstände überwögen wertungsmäßig jedoch diejenigen Gesichtspunkte, die für eine abhängige, versicherungspflichtige Beschäftigung sprächen.
  • Die Beschwerdeführerin hat gegen das Urteil des Landessozialgerichts am 5. Oktober 1994 vorsorglich Verfassungsbeschwerde eingelegt und eine Verletzung der Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG gerügt. Außerdem erhob sie gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Beschwerde zum Bundessozialgericht; diese wurde mit Beschluß des Bundessozialgerichts vom 23. Februar 1995 zurückgewiesen. Diesen Beschluß des Bundessozialgerichts hat die Beschwerdeführerin mit der Verfassungsbeschwerde nicht angefochten. Unter dem 22. Dezember 1995 legte sie ein bereits früher angekündigtes Rechtsgutachten des Prof. Dr. P.… vor, in dem im wesentlichen die These vertreten wird, § 7 des Vierten Buches des Sozialgesetzbuchs (SGB IV) halte den sich aus dem Grundgesetz ergebenden Anforderungen an das Bestimmtheitsgebot nicht stand. Die Beschwerdeführerin hat dieses Rechtsgutachten zum Inhalt der Begründung ihrer Verfassungsbeschwerde gemacht.
 

Entscheidungsgründe

II.

Die Voraussetzungen für eine Annahme der Verfassungsbeschwerde liegen nicht vor.

  • Der Verfassungsbeschwerde kommt grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung nicht zu (§ 93a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG). Die mit der Verfassungsbeschwerde aufgeworfenen Fragen zu Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG sind in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung geklärt. Es ist nicht ersichtlich, daß der vorliegende Fall weitere grundsätzliche Klärung erfordert.
  • a) Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist auch nicht zur Durchsetzung der als verletzt bezeichneten Verfassungsrechte angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Das ist der Fall, wenn die geltend gemachte Verletzung von Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten besonderes Gewicht hat oder den Beschwerdeführer in existentieller Weise betrifft. Besonders gewichtig ist eine Grundrechtsverletzung, die auf eine generelle Vernachlässigung von Grundrechten hindeutet oder wegen ihrer Wirkung geeignet ist, von der Ausübung von Grundrechten abzuhalten. Eine geltend gemachte Verletzung hat ferner dann besonderes Gewicht, wenn sie auf einer groben Verkennung des durch ein Grundrecht gewährten Schutzes oder einem geradezu leichtfertigen Umgang mit grundrechtlich geschützten Positionen beruht oder rechtsstaatliche Grundsätze kraß verletzt (vgl. BVerfGE 90, 22 ≪25≫). Ein solcher Fall liegt nicht vor. Die Ausführungen des Bundessozialgerichts zu den bereits im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde erhobenen Grundrechtsrügen sind zutreffend; das Bundesverfassungsgericht sieht insoweit gemäß § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG von einer weiteren Begründung der Nichtannahmeentscheidung ab.

    b) Eine verfassungsrechtlich bedenkliche Unbestimmtheit des § 7 SGB IV läßt sich ebensowenig feststellen wie eine Unbestimmtheit der entsprechenden für die Versicherungs- und Beitragspflicht maßgeblichen Bestimmungen des Rechts der gesetzlichen Kranken-, Renten-, Unfall- und Arbeitslosenversicherung. Nach diesen, im wesentlichen gleichlautenden Vorschriften sind versicherungs- und beitragspflichtig u.a. “Arbeiter, Angestellte und zu ihrer Berufsausbildung Beschäftigte, die gegen Arbeitsentgelt beschäftigt sind” (vgl. z.B. § 5 Abs. 1 Nr. 1 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch – SGB V –). Die für sämtliche Zweige der Sozialversicherung geltende Bestimmung des § 7 Abs. 1 SGB IV definiert “Beschäftigung” als die “nichtselbständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis”.

    Gewisse Unsicherheiten und auch eine dem jeweiligen Rechtsgebiet spezifische unterschiedliche Auslegung bestimmter Vorschriften durch die Gerichte verschiedener Instanzen und verschiedener Gerichtszweige ist jeder Auslegung von Rechtsvorschriften immanent. Auch bei der Auslegung und Anwendung einer Bestimmung wie derjenigen des § 7 SGB IV ist angesichts der Vielzahl denkbarer Fallkonstellationen eine eindeutige Vorhersehbarkeit des Ergebnisses ausgeschlossen. Probleme bereiten insoweit allerdings nicht die eindeutigen Fallkonstellationen, sondern die Rand- und Übergangsbereiche, z.B. die zahlreichen Zwischenstufen zwischen versicherten Arbeitnehmern und sogenannten nicht versicherungspflichtigen freien Arbeitnehmern oder zwischen versicherten Tätigkeiten aufgrund eines Beschäftigungsverhältnisses und Tätigkeiten, die auf sonstigen, in der Regel “unversicherten Rechtsgründen” beruhen, z.B. auf gesellschaftsrechtlicher und vereinsrechtlicher Mitgliedschaft oder auf familiärer Beziehung. Das Gesetz bedient sich bei den Tatbeständen der Versicherungs- und Beitragspflicht nicht des tatbestandlich scharf kontrollierten Begriffs, der auf eine einfache Subsumtion hoffen ließe, sondern der Rechtsfigur des Typus; die versicherten Personen werden nicht im Detail definiert, sondern ausgehend vom Normalfall in der Form eines Typus beschrieben. Den jeweiligen Typus und dessen Kenntnis setzt das Gesetz stillschweigend voraus; es übernimmt ihn so, wie ihn der Gesetzgeber in der sozialen Wirklichkeit idealtypisch, d.h. im Normal- oder Durchschnittsfall vorfindet. Es ist nicht erforderlich, daß stets sämtliche als idealtypisch erkannten, d.h. den Typus kennzeichnenden Merkmale (Indizien) vorliegen. Diese können vielmehr in unterschiedlichem Maße und verschiedener Intensität gegeben sein; je für sich genommen haben sie nur die Bedeutung von Anzeichen oder Indizien. Entscheidend ist jeweils ihre Verbindung, die Intensität und die Häufigkeit ihres Auftretens im konkreten Einzelfall. Maßgeblich ist das Gesamtbild.

    Gerade der Verwendung der Rechtsfigur des Typus ist es zu verdanken, daß die Vorschriften über die Versicherungspflicht und die Beitragspflicht trotz ihres Festhaltens an Begriffen wie Angestellte, Arbeiter, Arbeitsverhältnis oder Beschäftigungsverhältnis in Verbindung mit ihrer Konkretisierung durch Rechtsprechung und Literatur über Jahrzehnte hinweg auch bei geänderten sozialen Strukturen ihren Regelungszweck erfüllen und insbesondere die Umgehung der Versicherungs- und Beitragspflicht zum Nachteil abhängig beschäftigter Personen, z.B. durch der Realität nicht entsprechender, einseitig bestimmter Vertragsgestaltungen, verhindern konnten.

    Das Urteil des Landessozialgerichts beruht demnach auf einer Auslegung gesetzlicher Bestimmungen, die verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sind. Es ist auch nicht ersichtlich, daß die dieser Auslegung zugrundeliegenden umfangreichen Erwägungen zum Vorliegen einer versicherungspflichtigen Beschäftigung der in Frage stehenden Personen gegen Verfassungsrecht verstoßen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

 

Unterschriften

Kühling, Jaeger, Steiner

 

Fundstellen

Haufe-Index 1084323

NJW 1996, 2644

NVwZ 1996, 1099

SozSi 1997, 111

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