Verfahrensgang

BSG (Beschluss vom 27.07.2005; Aktenzeichen B 12 KR 75/04 B)

LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 05.10.2004; Aktenzeichen L 11 KR 477/04)

SG Mannheim (Urteil vom 30.10.2003; Aktenzeichen S 4 RA 1026/03)

 

Tenor

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

 

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Berechnung des Gesamtsozialversicherungsbeitrages. Konkret geht es um die Frage, ob für die Festsetzung der Beiträge zur gesetzlichen Sozialversicherung das tarifvertraglich geschuldete (“Entstehungsprinzip”) oder das tatsächlich gezahlte (niedrigere) Arbeitsentgelt (“Zuflussprinzip”) als Bemessungsgrundlage heranzuziehen ist.

I.

Der Beschwerdeführer betreibt einen Supermarkt. In den Jahren 1998 bis 2001 beschäftigte er sechs Aushilfen als geringfügig Beschäftigte zwischen sechs und zwölf Stunden in der Woche und zahlte jeweils ein monatliches Arbeitsentgelt zwischen 420 DM und 600 DM. Als Stundenlohn waren 12 DM vereinbart gewesen. Urlaubsgeld und andere Sonderzuwendungen leistete der Beschwerdeführer nicht. Infolge einer Betriebsprüfung stellte die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (jetzt: Deutsche Rentenversicherung Bund) die Versicherungspflicht der Aushilfen in der gesetzlichen Sozialversicherung fest und forderte von dem Beschwerdeführer für die Zeit von Januar 1998 bis Dezember 2001 Gesamtsozialversicherungsbeiträge in Höhe von insgesamt 19.575,74 € nach. Der Berechnung zugrunde gelegt wurden der nach den für allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträgen für den Einzelhandel in Baden-Württemberg geschuldete Mindestlohn und die darin vorgesehenen Sonderzahlungen. Damit erzielten die Aushilfen jeweils Arbeitsentgelte oberhalb der Geringfügigkeitsgrenze für ein versicherungsfreies Beschäftigungsverhältnis nach § 8 Abs. 1 Viertes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IV).

Im Verwaltungsverfahren und vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit wandte sich der Beschwerdeführer erfolglos gegen die Nachzahlung von Sozialversicherungsbeiträgen und machte geltend, Berechnungsgrundlage für die Beitragszahlung zur gesetzlichen Sozialversicherung dürften nach dem Zuflussprinzip nur die tatsächlich geleisteten Arbeitsentgelte sein. Das Sozialgericht und das Landessozialgericht bestätigten die Feststellung der Versicherungspflicht anhand des nach den allgemeinverbindlichen Tarifverträgen geschuldeten Arbeitsentgelts. Das Bundessozialgericht hat die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts mit der Begründung als unzulässig verworfen, der Beschwerdeführer habe einen Revisionszulassungsgrund nach § 160 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) nicht in der nach § 160a Abs. 2 Satz 3 SGG gebotenen Weise dargelegt.

Mit seiner Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen die Entscheidungen der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit und trägt eine Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 3 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG vor. Er ist insbesondere der Ansicht, die Ermittlung der Sozialversicherungsbeiträge nach dem Entstehungsprinzip stehe im Gegensatz zu dem vom Gesetzgeber vorgegebenen Zuflussprinzip und verstoße daher gegen den Gewaltenteilungsgrundsatz.

II.

Die Verfassungsbeschwerde wird – ungeachtet eines Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand – nicht zur Entscheidung angenommen. Annahmegründe gemäß § 93a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor.

1. Soweit der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 12 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG rügt, ist die Verfassungsbeschwerde bereits unzulässig. Für Steuer- und Abgabevorschriften ist anerkannt, dass sie nur dann an Art. 12 Abs. 1 GG zu messen sind, wenn sie in einem engen Zusammenhang zur Ausübung eines Berufes stehen und objektiv eine berufsregelnde Tendenz erkennen lassen (vgl. BVerfGE 75, 108 ≪153 f.≫; 98, 83 ≪97≫; 110, 274 ≪288≫; stRspr). Dazu hat der Beschwerdeführer jedoch nichts vorgetragen. Auch die bloße Feststellung, Eigentumsbeeinträchtigungen bedürften ausnahmslos einer gesetzlichen Grundlage, genügt nicht den Anforderungen an eine hinreichend substantiierte Begründung nach § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG. Das gleiche gilt für die geltend gemachte Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes: Die Behauptung des Beschwerdeführers, das Entstehungsprinzip werde bei Betriebsprüfungen ausschließlich zu Lasten von Arbeitgebern in solchen Branchen angewandt, in denen Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt wurden, begründet keinen möglichen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Es kann dahin gestellt bleiben, ob die zum strukturellen Vollzugsdefizit im Steuerrecht entwickelten Maßstäbe des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfGE 84, 239; 110, 94) auf die Erhebung von Sozialversicherungsbeiträgen Anwendung finden (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 26. Juni 2007 – 1 BvR 2204/00 und 1 BvR 1355/03 –; NZS 2008, S. 142 ≪143 f.≫). Jedenfalls benennt der Vortrag des Beschwerdeführers weder eine sozialrechtliche Gesetzesvorschrift, die aufgrund eines strukturellen Vollzugsdefizits verfassungswidrig sein könnte, noch in den Verantwortungsbereich des Gesetzgebers fallende strukturell gegenläufige Erhebungsregeln, die ein solches strukturelles Vollzugsdefizit erst begründen könnten (vgl. BVerfGE 84, 239 ≪272≫; 110, 94 ≪112 f.≫). Allein die – zumal fragwürdige – Feststellung, im Rahmen von Betriebsprüfungen bestünde keine realistische Möglichkeit, die Geltung von tariflichen Zahlungsansprüchen über allgemeinverbindliche Tarifverträge hinaus zu klären, genügt nicht.

2. Hinsichtlich der weiteren Rügen kann dahin gestellt bleiben, ob der Beschwerdeführer nach § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG den Rechtsweg erschöpft hat, nachdem das Bundessozialgericht die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg als unzulässig verworfen hat. Eine Verfassungsbeschwerde ist nämlich in der Regel unzulässig, wenn ein an sich gegebenes Rechtsmittel, durch dessen Gebrauch der behauptete Grundrechtsverstoß hätte ausgeräumt werden können, aus prozessualen Gründen erfolglos bleibt (vgl. BVerfGE 74, 102 ≪114≫; BVerfGK 1, 222 ≪223≫). Jedenfalls ist die Verfassungsbeschwerde unbegründet.

Die Entscheidungen der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit verletzen den Beschwerdeführer nicht in seinem Recht aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG). Dieses Grundrecht gewährleistet die allgemeine Handlungsfreiheit in einem umfassenden Sinne (vgl. BVerfGE 111, 54 ≪81≫; stRspr). Diese ist allerdings nur in den Schranken des zweiten Halbsatzes von Art. 2 Abs. 1 GG garantiert und steht damit vor allem unter dem Vorbehalt der verfassungsmäßigen Ordnung (vgl. BVerfGE 80, 137 ≪153≫; 91, 335 ≪338 f.≫; 111, 54 ≪81≫). Dazu gehören nicht nur die vom Normgeber gesetzten verfassungsmäßigen Vorschriften, sondern auch deren Auslegung durch den Richter und die im Wege zulässiger richterlicher Rechtsfortbildung gewonnenen Entscheidungen (vgl. BVerfGE 74, 129 ≪152 f.≫; 111, 54 ≪81 f.≫). Die Auslegung offener Gesetzesbegriffe und die Fortbildung des Rechts müssen ihrerseits mit der Verfassung in Einklang stehen und den Wertentscheidungen des Grundgesetzes, vornehmlich dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit entsprechen (vgl. BVerfGE 74, 129 ≪152≫; 111, 54 ≪82≫). Dabei sind die angegriffenen gerichtlichen Entscheidungen nur in engen Grenzen einer verfassungsrechtlichen Überprüfung zugänglich. Dem Sinn der Verfassungsbeschwerde und der besonderen Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts würde es nicht gerecht, wollte dieses ähnlich wie eine Revisionsinstanz die unbeschränkte rechtliche Nachprüfung von gerichtlichen Entscheidungen in Anspruch nehmen (vgl. BVerfGE 18, 85 ≪92≫; stRspr). Die von dem Beschwerdeführer angegriffenen Entscheidungen lassen jedoch keine Auslegungsfehler erkennen, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der Bedeutung eines Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereiches, beruhen und auch in ihrer materiellen Bedeutung für den Rechtsfall von einigem Gewicht sind (vgl. BVerfGE 18, 85 ≪93≫; 42, 143 ≪149≫; 103, 89 ≪100≫; stRspr).

Die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit hielten sich in den vom Beschwerdeführer angegriffenen Entscheidungen auch bei der Bestimmung der Höhe der Bemessungsgrundlage für den Gesamtsozialversicherungsbeitrag an die Regelung des § 22 Abs. 1 SGB IV (seit dem 1. April 2005: § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB IV), wonach die Beitragsansprüche der Versicherungsträger entstehen, sobald ihre im Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes bestimmten Voraussetzungen vorliegen. Die Bestimmung in § 22 Abs. 1 SGB IV (seit dem 1. April 2005: § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB IV), wonach die Beitragsansprüche bei einmal gezahltem Arbeitsentgelt entstehen, sobald dieses ausgezahlt worden ist, wurde erst durch das Zweite Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23. Dezember 2002 (BGBl I S. 4621) mit Wirkung zum 1. Januar 2003 eingefügt. Das Landessozialgericht konnte daher im Umkehrschluss von der Maßgeblichkeit des Entstehungsprinzips für alle Entgeltbestandteile im streitgegenständlichen Zeitraum ausgehen (vgl. auch Urteil des Bundessozialgerichts vom 14. Juli 2004 – B 12 KR 1/04 R –, BSGE 93, 119 ≪127≫). Ein gegensätzliches Regelungsziel des Gesetzgebers lässt sich auch nicht der Gesetzesbegründung zur Änderung des § 22 Abs. 1 SGB IV durch das Zweite Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23. Dezember 2002 (BGBl I S. 4621) entnehmen (vgl. BTDrucks 15/26, S. 24). Im Übrigen enthielt auch der Gesetzesentwurf zum Sozialgesetzbuch – Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung vom 23. Dezember 1976 (BGBl I S. 3845) keinen klaren Willen des Gesetzgebers zur fortlaufenden Anwendung des Zuflussprinzips. Vielmehr sollte die frühere – als unbefriedigend erachtete – Regelung nach § 160 Reichsversicherungsordnung (RVO) in Verbindung mit dem Gemeinsamen Erlass des Reichsministers der Finanzen und des Reichsarbeitsministers betreffend weitere Vereinfachung des Lohnabzuges vom 10. September 1944 (Reichsarbeitsblatt II S. 281), wonach der Sozialversicherungsbeitrag aus dem für die Lohnsteuer maßgeblichen Betrag zu berechnen war, ersetzt werden (vgl. BTDrucks 7/4122, S. 32 f.).

Es verstößt auch nicht gegen Verfassungsrecht, dass durch die Anwendung des Entstehungsprinzips ein Arbeitgeber erst nachträglich zur Zahlung von Sozialversicherungsbeiträgen herangezogen wird. Für einen geringfügig beschäftigten Arbeitnehmer, dessen Versicherungspflicht sich erst im Nachhinein aufgrund der Zusammenrechnung mit einer weiteren, dem Arbeitgeber unbekannt gewesenen geringfügigen Beschäftigung ergeben hat, ist dies bereits entschieden (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 21. April 1989 – 1 BvR 1591/87 –, SGb 1989, S. 386). Für einen Arbeitgeber, der sich rechtswidrig verhalten und durch die Einsparung höherer tarifvertraglich geschuldeter Arbeitsentgelte zudem Wettbewerbsvorteile gegenüber anderen rechtmäßig handelnden tarifgebundenen Arbeitgebern verschafft hat, kann nichts anderes gelten.

Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

 

Unterschriften

Hohmann-Dennhardt, Gaier, Kirchhof

 

Fundstellen

Haufe-Index 2067435

NJW 2008, 3698

NWB 2009, 21

FA 2008, 366

NZA 2009, 44

NZS 2009, 209

NZS 2009, 379

SGb 2009, 34

DVBl. 2008, 1439

GuT 2008, 399

NWB direkt 2009, 19

StX 2008, 752

finanzen.steuern kompakt 2008, 9

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