Entscheidungsstichwort (Thema)

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand für sprachunkundigen Ausländer

 

Leitsatz (amtlich)

Der der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtige Ausländer, dem ein Strafbefehl (oder Bußgeldbescheid) in deutscher Sprache ohne eine ihm verständliche Belehrung über den Rechtsbehelf des Einspruchs zugestellt worden ist, kann im Falle des Fristversäumnisses nicht anders behandelt werden, als wenn die Rechtsmittelbelehrung unterblieben wäre.

 

Leitsatz (redaktionell)

Im gerichtlichen Verfahren fordert bereits Art. 103 Abs. 1 GG, daß die mangelhafte Kenntnis der deutschen Sprache bei einem Ausländer nicht zu einer Verkürzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör führen darf.

 

Normenkette

GG Art. 3 Abs. 3, Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 3, Art. 103 Abs. 1; StPO § 44 S. 1 Fassung: 1953-08-04

 

Verfahrensgang

LG Kempten (Beschluss vom 31.10.1974; Aktenzeichen 2 Qs 400/74)

AG Kaufbeuren (Beschluss vom 05.09.1974; Aktenzeichen Cs 438/74)

 

Gründe

A.

I.

1. Das Amtsgericht Kaufbeuren erließ am 18. Juli 1974 gegen den Beschwerdeführer wegen des Vorwurfs des Betruges einen Strafbefehl über 1.500 DM, ersatzweise 75 Tage Freiheitsstrafe. Der Strafbefehl wurde am 30. Juli 1974 durch Niederlegung bei der Post zugestellt. Ihm war die übliche Rechtsmittelbelehrung in deutscher Sprache beigefügt. Der Beschwerdeführer ist türkischer Staatsbürger. Er lebt seit einigen Jahren in der Bundesrepublik Deutschland, kann jedoch die deutsche Sprache weder lesen noch schreiben.

Mit einem am 12. August 1974 beim Amtsgericht eingegangenen Schriftsatz legten die Bevollmächtigten des Beschwerdeführers Einspruch gegen den Strafbefehl ein und beantragten zugleich die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Einspruchsfrist. Sie trugen vor, der Beschwerdeführer habe den Strafbefehl am 31. Juli 1974 erhalten. Er habe sich sofort bemüht, jemanden zu finden, der ihm das Schriftstück übersetzen könne. Das sei ihm zunächst nicht gelungen. Die angesprochenen türkischen Arbeitskollegen beherrschten ebenfalls die deutsche Sprache nicht ausreichend. Der Ingenieur B…, der manchmal als Dolmetscher tätig gewesen sei, habe es abgelehnt, ihm zu helfen. Am 7. August 1974 habe er sich an das türkische Büro in Kempten gewandt, das jedoch geschlossen gewesen sei. Am selben Tage habe er dann die Adresse des Dolmetschers B… erfahren. Diesen habe er nicht angetroffen. Erst am Vormittag des 8. August 1974 habe ihm B… den Strafbefehl und die Rechtsmittelbelehrung übersetzt. Daraufhin habe er sofort die bevollmächtigten Rechtsanwälte aufgesucht und mit der Einlegung des Einspruchs beauftragt. Dieser Vortrag wurde vom Beschwerdeführer an Eides statt versichert.

2. Das Amtsgericht Kaufbeuren lehnte mit dem Beschluß vom 5. September 1974 die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ab und verwarf zugleich den Einspruch als unzulässig, weil verspätet. Der Beschwerdeführer sei nicht durch einen unabwendbaren Zufall im Sinne des § 44 Satz 1 StPO – in der bis zum 31. Dezember 1974 geltenden Fassung – an der Einhaltung der Einspruchsfrist gehindert worden. Ihm müsse “zum Vorwurf gemacht werden, daß er sich nicht nachdrücklich genug um einen Dolmetscher bemüht” habe, der ihm den Strafbefehl hätte übersetzen können. Er habe, wie sich immerhin aus den angestellten Bemühungen ergebe, den Strafbefehl für ein wichtiges Schriftstück gehalten. Bei den deshalb erforderlichen und ihm auch zumutbaren Anstrengungen hätte der Beschwerdeführer eine Übersetzung innerhalb der Einspruchsfrist erlangen können.

3. Mit der sofortigen Beschwerde machte der Beschwerdeführer geltend, er habe sich jeden Tag an Kollegen oder Bekannte mit der Bitte um Übersetzung gewendet. Von der Existenz des Büros in Kempten habe er zunächst gar nichts gewußt. Im übrigen hätte Art. 6 Abs. 3a) der Menschenrechtskonvention (MRK) im vorliegenden Fall geboten, daß bereits das Gericht den Strafbefehl übersetzt hätte.

4. Das Landgericht Kempten verwarf die sofortige Beschwerde durch den Beschluß vom 31. Oktober 1974 als unbegründet. Es schloß sich der Begründung des Amtsgerichts an. Daß der Beschwerdeführer keine Möglichkeit gehabt habe, sich den Einspruch rechtzeitig übersetzen zu lassen, sei nicht glaubhaft. Eine hiergegen von der Verteidigung mit Schriftsatz vom 5. Dezember 1974 erhobene “Gegenvorstellung” wies das Landgericht durch Beschluß vom 22. Januar 1975 zurück. Es sei, so führte es aus, im Beschluß vom 31. Oktober 1974 davon ausgegangen, daß der Beschwerdeführer der deutschen Sprache nicht mächtig sei. Eine Belehrung über den Rechtsbehelf des Einspruchs in türkischer Sprache sei gleichwohl nicht veranlaßt gewesen, weil die Gerichtssprache deutsch sei (§ 184 GVG).

II.

Mit der gegen den Beschluß des Landgerichts vom 31. Oktober 1974 und den zugrunde liegenden Beschluß des Amtsgerichts gerichteten Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer, unter Darstellung der tatsächlichen Umstände des Ausgangsverfahrens, die Verletzung seines Grundrechts aus Art. 3 Abs. 3 GG. Die Nichtgewährung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand benachteilige ihn wegen seiner Unkenntnis der deutschen Sprache.

III.

Das Bayer Staatsministerium der Justiz hat von einer Äußerung zu der Verfassungsbeschwerde abgesehen. Es teilt jedoch zur Information des Gerichts mit, es habe bereits am 15. Februar 1973 den Gerichten und Staatsanwaltschaften in Bayern Übersetzungen der Rechtsmittelbelehrungen zum Strafbefehl in acht für die Praxis wichtigen Fremdsprachen (englisch, französisch, italienisch, serbokroatisch, slowenisch, spanisch, griechisch und türkisch) übermittelt und gebeten, diese künftig bei jeder Zustellung eines Strafbefehls an einen Ausländer in der jeweiligen Sprache beizufügen.

B.

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und begründet.

Die angegriffenen gerichtlichen Entscheidungen verletzen das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 103 Abs. 1 GG.

1. Der Ausländer hat im Verfahren vor Gerichten der Bundesrepublik Deutschland die gleichen prozessualen Grundrechte sowie den gleichen Anspruch auf ein rechtsstaatliches Verfahren und auf umfassenden und effektiven gerichtlichen Schutz wie jeder Deutsche (vgl. für Art. 103 Abs. 1 GG: BVerfGE 18, 399 [403]; zu Art. 19 Abs. 4 GG: BVerfGE 35, 382 [401]). Das folgt nicht erst aus Art. 3 Abs. 3 GG, der die Benachteiligung aus Gründen der Abstammung, Rasse, Sprache, Heimat und Herkunft verbietet, sondern unmittelbar aus diesen prozessualen Grundrechten selbst, die, ebenso wie das Recht auf ein faires Verfahren als wesentlicher Grundsatz eines rechtsstaatlichen Verfahrens (BVerfGE 38, 105 [111]), für jedermann gelten. Im gerichtlichen Verfahren fordert bereits Art. 103 Abs. 1 GG, daß die mangelhafte Kenntnis der deutschen Sprache bei einem Ausländer nicht zu einer Verkürzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör führen darf.

2. Das Rechtsinstitut der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand eröffnet im summarischen Strafverfahren und Bußgeldverfahren für den Beschuldigten die letzte Möglichkeit, in der Sache selbst vom Richter gehört zu werden, und so rechtliches Gehör im Sinne von Art. 103 Abs. 1 GG zu erhalten. Deshalb dürfen in diesem Zusammenhang bei der Anwendung und Auslegung der für die Wiedereinsetzung maßgeblichen prozeßrechtlichen Vorschriften die Anforderungen daran nicht überspannt werden, was der betroffene Bürger veranlaßt haben und vorbringen muß, um nach der Versäumung der Einspruchsfrist die Wiedereinsetzung zu erhalten (ständige Rechtsprechung, BVerfGE 38, 35 [38 f.] mit weiteren Nachweisen).

Das Amtsgericht und ihm folgend das Landgericht haben dem Beschwerdeführer die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand mit der Begründung verweigert, er habe sich nicht rechtzeitig genug um einen Dolmetscher bemüht. Hierbei überspannen sie unter Verkennung der Bedeutung und Tragweite des Art. 103 Abs. 1 GG die Anforderungen, die an einen der deutschen Sprache nicht mächtigen Ausländer gestellt werden dürfen, dem ein in deutscher Sprache abgefaßter Strafbefehl zugestellt und der über den ihm zustehenden Rechtsbehelf des Einspruchs nicht in einer ihm verständlichen Sprache belehrt worden ist.

Nach den Feststellungen der angegriffenen Entscheidungen wußte der Beschwerdeführer weder, wessen er durch den Strafbefehl beschuldigt wurde, noch, daß ihm – zur Durchsetzung seines Anspruchs aus Art. 103 Abs. 1 GG – der Rechtsbehelf des Einspruchs zustand, und daß dafür eine Frist in Lauf gesetzt war. Der Vorwurf, sich nicht rechtzeitig nachhaltig genug um eine Übersetzung bemüht zu haben, läßt außer Betracht, daß dem Beschwerdeführer der drohende Ablauf der Einspruchsfrist unbekannt war. Da davon auszugehen ist, daß sich der Beschwerdeführer auch schon ohne die Kenntnis der Frist um die Übersetzung des Strafbefehls bemühte und unverzüglich, nachdem er sie erhalten hatte, einen Rechtsanwalt mit der Einlegung eines Einspruchs betraute, ist anzunehmen, daß er rechtzeitig Einspruch eingelegt hätte, wenn er in einer ihm verständlichen Weise über die Einspruchsfrist belehrt worden wäre. Damit beruht das Fristversäumnis auf den mangelnden Sprachkenntnissen des Beschwerdeführers. Sie können ihm bei der Sachlage ohne Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG nicht entgegengehalten werden. Der der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtige Ausländer, dem ein Strafbefehl (oder Bußgeldbescheid) in deutscher Sprache ohne eine ihm verständliche Belehrung über den Rechtsbehelf des Einspruchs zugestellt worden ist, kann im Falle der Fristversäumnis nicht anders behandelt werden, als wenn die Rechtsmittelbelehrung unterblieben wäre (§ 44 Satz 2 StPO) mit der Folge, daß Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist, wenn die Versäumung der Einspruchsfrist darauf beruht.

3. Da die angegriffenen Beschlüsse gegen Art. 103 Abs. 1 GG verstoßen, waren sie aufzuheben. Die Sache ist gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG an das Gericht erster Instanz zurückverwiesen worden.

4. Die dem Beschwerdeführer entstandenen notwendigen Auslagen sind zu erstatten (§ 34 Abs. 4 BVerfGG). Die Erstattungspflicht trifft den Freistaat Bayern, dem die erfolgreich gerügte Grundrechtsverletzung zuzurechnen ist.

C. Diese Entscheidung ist mit sechs Stimmen gegen eine Stimme ergangen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1677229

BVerfGE, 95

DRiZ 1975, 285

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