Beteiligte

Rechtsanwälte Professor Dr. Jochen Plagemann, Dr. Erich Schlegelmuch und Koll.

 

Verfahrensgang

BSG (Urteil vom 19.01.1995; Aktenzeichen 2 RU 14/94)

Schleswig-Holsteinisches LSG (Urteil vom 19.01.1994; Aktenzeichen L 8 U 63/92)

 

Tenor

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

 

Tatbestand

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Anerkennung und Entschädigung von Erkrankungen der Wirbelsäule als Berufskrankheit im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung.

I.

Die gesetzliche Unfallversicherung bietet den Versicherten Schutz gegen die Folge von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten. Die Einzelheiten für die Gewährung von Leistungen im Falle einer Berufskrankheit regelte für den hier in Frage stehenden Fall die Vorschrift des § 551 RVO, die inzwischen durch § 9 SGB VII abgelöst ist. Sie lautete:

(1) Als Arbeitsunfall gilt ferner eine Berufskrankheit. Berufskrankheiten sind die Krankheiten, welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates bezeichnet und die ein Versicherter bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 genannten Tätigkeiten erleidet. Die Bundesregierung wird ermächtigt, in der Rechtsverordnung solche Krankheiten zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre Arbeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind; sie kann dabei bestimmen, dass die Krankheiten nur dann Berufskrankheiten sind, wenn sie durch die Arbeit in bestimmten Unternehmen verursacht sind.

(2) Die Träger der Unfallversicherung sollen im Einzelfalle eine Krankheit, auch wenn sie nicht in der Rechtsverordnung bezeichnet ist oder die dort bestimmten Voraussetzungen nicht vorliegen, wie eine Berufskrankheit entschädigen, sofern nach neuen Erkenntnissen die übrigen Voraussetzungen des Absatzes 1 erfüllt sind.

(3) bis (4) …

Auf der Grundlage der Ermächtigung des § 551 Abs. 1 Satz 2 RVO erließ die Bundesregierung eine Reihe von Rechtsverordnungen und insbesondere die hier angegriffene Zweite Verordnung zur Änderung der Berufskrankheiten-Verordnung vom 18. Dezember 1992 (BGBl I S. 2343; im folgenden: Berufskrankheiten-Verordnung 1992). Nach deren Art. 1 Nr. 4 wurden unter der Nummer 2108 der Anlage 1 (Liste der Berufskrankheiten) „bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung” als Berufskrankheit anerkannt. Weiter enthält die Rechtsverordnung in Artikel 2 folgende Regelung:

(1) Diese Verordnung tritt am 1. Januar 1993 in Kraft.

(2) Leidet ein Versicherter beim Inkrafttreten dieser Verordnung an einer Krankheit, die erst auf Grund dieser Verordnung als Berufskrankheit im Sinne des § 551 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung anerkannt werden kann, ist eine Berufskrankheit auf Antrag anzuerkennen, wenn der Versicherungsfall nach dem 31. März 1988 eingetreten ist. Bindende Bescheide und rechtskräftige Entscheidungen stehen nicht entgegen. Eine Entschädigung wird rückwirkend längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren erbracht; dabei ist der Zeitraum von vier Jahren vom Beginn des Jahres an zu rechnen, in dem der Antrag gestellt worden ist. § 1546 der Reichsversicherungsordnung gilt mit der Maßgabe, dass die Zweijahresfrist mit Inkrafttreten dieser Verordnung zu laufen beginnt.

 

Entscheidungsgründe

II.

1. Die Beschwerdeführer sind Erbeserben des 1921 geborenen und Ende 1997 verstorbenen Versicherten. Sie führen dessen Verfassungsbeschwerde fort. Der Versicherte war seit 1937 mit Unterbrechung durch den Kriegsdienst als Melker, später als Melkmeister auf einem landwirtschaftlichen Gut beschäftigt, wobei er schwere körperliche Arbeiten verrichten musste. Seit 1977 war er wegen Wirbelsäulenbeschwerden arbeitsunfähig krank. Ab Juli 1979 bezog er Rente wegen Berufsunfähigkeit; seit März 1980 erhielt er Rente wegen Erwerbsunfähigkeit.

Im Jahr 1989 stellte der Versicherte einen Antrag auf Anerkennung seiner Wirbelsäulenerkrankung als Berufskrankheit, den die zuständige Berufsgenossenschaft – wie schon bei einem 1980 gestellten Antrag – ablehnte. Auf seine Klage hin verurteilte das Sozialgericht den Unfallversicherungsträger, ihm unter Anerkennung der berufsbedingten Verschlimmerung einer anlagebedingten Erkrankung der Wirbelsäule Rentenleistungen nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 20 von Hundert gemäß § 551 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zu gewähren. Das Landessozialgericht hob das Urteil auf und wies die Klage ab.

Die dagegen eingelegte Revision wies das Bundessozialgericht zurück. Ein Anspruch auf Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung wegen der Gesundheitsschäden im Bereich der Wirbelsäule bestehe nicht. Eine Anerkennung seiner Krankheit als eine entschädigungspflichtige Berufskrankheit nach Nr. 2108 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung 1992 komme nicht in Betracht. Da der von ihm behauptete Versicherungsfall vor dem 1. April 1988 eingetreten sei, werde er von der Rückwirkungsklausel des Art. 2 Abs. 2 dieser Verordnung nicht erfasst. Eine Anwendung des § 551 Abs. 2 RVO auf Versicherungsfälle vor diesem Zeitpunkt sei ausgeschlossen.

Die Vorschrift des Art. 2 Abs. 2 der Verordnung halte sich im Rahmen der Ermächtigung in § 551 Abs. 1 der RVO und verletze auch nicht Art. 3 Abs. 1 GG. Die Festlegung des Rückwirkungszeitraums sei durch das Auftreten neuer medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnisse sachlich gerechtfertigt und ausreichend bemessen. Auch eine ungleiche Behandlung des Beschwerdeführers gegenüber den ehemaligen Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik sei nicht gegeben. Er habe keinen Anspruch auf Gleichbehandlung mit den Versicherten im Beitrittsgebiet, denen der Gesetzgeber einen nach dem Sozialversicherungsrecht der Deutschen Demokratischen Republik zustehenden Vorteil belassen habe. Ein Anspruch nach § 551 Abs. 2 RVO scheide aus, da § 551 Abs. 1 RVO in Verbindung mit den Regelungen der Berufskrankheiten-Verordnung insoweit vorrangig sei.

2. Mit der Verfassungsbeschwerde rügen die Beschwerdeführer die Verletzung von Art. 3 Abs. 1 sowie Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 80 GG und dem Rechtsstaatsprinzip.

Der Versicherte sei infolge der Rückwirkungsklausel willkürlich anders behandelt worden als jemand, der die schädigende Tätigkeit erst nach dem 31. März 1988 aufgegeben habe. Für die Ungleichbehandlung seien keine vernünftigen, aus der Natur der Sache sich ergebenden oder sonst einleuchtenden Gründe ersichtlich. Die Stichtagsregelung orientiere sich nicht am vorgegebenen Sachverhalt. Auch liege eine willkürliche Ungleichbehandlung mit Personen gleichen beruflichen Lebenslaufs und gleicher Erkrankung vor, die zum Stichtag in der Deutschen Demokratischen Republik wohnten.

Die Verneinung eines Anspruchs nach § 551 Abs. 2 RVO verletze Art. 3 Abs. 1 GG. Dessen Auslegung durch das Bundessozialgericht widerspreche dem vom Bundesverfassungsgericht geforderten, durch § 551 Abs. 2 RVO herzustellenden lückenlosen Unfallversicherungsschutz. Schließlich sei Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 80 GG verletzt. Der Verordnungsgeber sei zur Aufnahme einer Stichtagsregelung nicht ermächtigt.

III.

1. Namens der Bundesregierung hat sich der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung geäußert. Er hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet und bezieht sich im Wesentlichen auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts.

2. Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände hält die Stichtagsregelung wegen nicht absehbarer Kostenfolgen und der wirtschaftlichen Belastung der Unfallversicherungsträger sachlich für gerechtfertigt. Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zu § 551 RVO sei verfassungsgemäß, da sie der Systematik des Mischsystems, die sich aus § 551 Abs. 1 und 2 RVO ergebe, entspreche. Andernfalls bestünde die Gefahr einer unerwünschten Präjudizierung des Verordnungsgebers durch die Verwaltung.

3. Der Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaft hat Zahlen zur Anerkennungspraxis der gewerblichen Berufsgenossenschaften bei Wirbelsäulenschäden mitgeteilt.

IV.

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen. Die Voraussetzungen nach § 93 a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor (vgl. BVerfGE 90, 22 ≪25≫).

1. Die Verfassungsbeschwerde hat keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung. Die durch sie aufgeworfenen Fragen sind in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geklärt (vgl. BVerfGE 58, 369; zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen an Stichtagsregelungen vgl. BVerfGE 79, 212 ≪219 f.≫; 80, 297 ≪311≫; 87, 1 ≪43≫).

2. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist auch nicht zur Durchsetzung der von den Beschwerdeführern als verletzt bezeichneten Verfassungsrechte des Versicherten angezeigt. Sie hat keine Aussicht auf Erfolg. Die mittelbar angegriffene Stichtagsregelung des Art. 2 Abs. 2 der Berufskrankheiten-Verordnung 1992 ist in der Auslegung, die ihr das Bundessozialgericht in der hier angegriffenen Entscheidung gegeben hat, mit dem Grundgesetz vereinbar. Auch im übrigen ist eine Verletzung von Grundrechten des Beschwerdeführers nicht ersichtlich.

a) Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, die in den hier angegriffenen sozialgerichtlichen Entscheidungen fortgeführt wird, können Leistungen auf der Grundlage des § 551 Abs. 1 RVO für Krankheiten gewährt werden, die in einer Rechtsverordnung der Bundesregierung gemäß § 551 Abs. 1 Satz 2 RVO als Berufskrankheiten anerkannt sind. Dabei ist es Sache des Verordnungsgebers zu entscheiden, ab welchem Zeitpunkt eine Krankheit als Berufskrankheit anerkannt wird. Sieht die jeweilige Verordnung entsprechend der bisherigen Praxis vor, dass bestimmte Krankheiten als Berufskrankheiten auch dann anzuerkennen sind, wenn der Betroffene an ihnen vor ihrem Inkrafttreten gelitten hat, so ist der vom Verordnungsgeber gewählte Stichtag bindend. Vor diesem Stichtag eingetretene Versicherungsfälle können nicht nach § 551 Abs. 1 RVO entschädigt werden (vgl. BSGE 72, 303 ≪304 ff.≫; 75, 51 ≪52 ff.≫). Die Stichtagsregelung hat nach Auffassung des Bundessozialgerichts darüber hinaus für die Gewährung von Leistungen auf der Grundlage des § 551 Abs. 2 RVO Bedeutung. Sie bewirkt, dass Krankheiten, die vor diesem Zeitpunkt eingetreten sind, auch nicht im Einzelfall nach dieser Vorschrift als Berufskrankheiten entschädigt werden können, selbst wenn es sich um Krankheiten handelt, die inzwischen nach der Berufskrankheiten-Verordnung anerkannt sind (BSG, a.a.O.).

b) Diese Rechtsprechung ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

aa) Der Verordnungsgeber überschreitet auch bei dieser Auslegung mit der hier angegriffenen Bestimmung des Art. 2 Abs. 2 nicht die ihm durch die gesetzliche Ermächtigung des § 551 Abs. 1 Satz 2 RVO gezogenen Grenzen. Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG ist nicht verletzt. Nach dem Konzept des Gesetzgebers ist es primär Aufgabe des Verordnungsgebers, die Liste der Berufskrankheiten nach der Entwicklung des Standes der Wissenschaft zur Sicherung der Rechtsanwendungsgleichheit allgemeinverbindlich fortzuschreiben. Zwar eröffnet die Vorschrift des § 551 Abs. 2 RVO im Interesse der materiellen Entschädigungsgerechtigkeit die Möglichkeit, durch Einzelfallregelung eine Krankheit als Berufskrankheit anzuerkennen, auch wenn sie nicht in der Rechtsverordnung bezeichnet ist oder die dort bestimmten Voraussetzungen nicht vorliegen, sofern nach neuen Erkenntnissen die übrigen Voraussetzungen des § 551 Abs. 1 RVO erfüllt sind. Damit schließt sie Lücken, die sich daraus ergeben, dass sich neue Erkenntnisse über den Zusammenhang von beruflicher Exposition und Krankheit einstellen können, bevor die Berufskrankheiten-Verordnung eine entsprechende Anpassung erfährt. Ist diese Anerkennung in Bezug auf den einzelnen Krankheitssachverhalt erfolgt, dann kommt der Vorrang der generellen Entscheidung durch den Verordnungsgeber gegenüber der Einzelfallentscheidung nach § 551 Abs. 2 RVO zur Geltung. Es begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, wenn das Bundessozialgericht aus diesem systematischen Verhältnis des § 551 Abs. 1 zu § 551 Abs. 2 RVO der Regelung des Verordnungsgebers auch insoweit grundsätzlich Vorrang einräumt, als es um die Anerkennung von Krankheiten als Berufskrankheiten geht, die vor dem Inkrafttreten der Verordnung eingetreten sind. Ein solcher Vorrang ist in der gesetzlichen Konzeption der Regelung angelegt und entspricht wegen der bundesweiten Geltung der Verordnung in besonderem Maße dem Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit nach Art. 3 Abs. 1 GG. Dies genügt den Anforderungen des Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG, der einen Entscheidungs- und Gestaltungsspielraum des Verordnungsgebers nicht ausschließt (vgl. Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III, 2. Aufl., 1996, § 64 Rn. 34).

bb) Eine andere Auslegung des § 551 Abs. 1 und 2 RVO ist auch aus grundrechtlicher Sicht nicht geboten. Der Gesetzgeber ist danach nicht gehalten, Verbesserungen bei den Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung auf der Grundlage neuerer medizinischer Erkenntnisse auf alle Personen zu erstrecken, deren Krankheit vor dem Zeitpunkt dieser Erkenntnisse eingetreten ist. Insbesondere gebietet Art. 3 Abs. 1 GG keine Auslegung des § 551 Abs. 2 RVO, die den Zugang zu Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung in allen so genannten Altfällen ohne zeitliche Einschränkung eröffnet.

Ein solches Gebot lässt sich auch nicht aus der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts herleiten. Zwar zielen nach Auffassung des Gerichts die Regelungen des § 551 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 RVO in ihrem Zusammenwirken auf Lückenlosigkeit des Schutzes für alle Versicherten, die an einer durch Berufstätigkeit verursachten Krankheit leiden (vgl. BVerfGE 58, 369 ≪374≫). Damit ist jedoch keine verfassungsrechtliche Verpflichtung des Gesetz- und Verordnungsgebers festgestellt, medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse zum Vorliegen eines spezifischen Zusammenhangs zwischen Beruf und Krankheit allen zugute kommen zu lassen, bei denen der Versicherungsfall eingetreten ist, bevor sich diese Erkenntnisse verfestigt haben.

Maßstab für die Bestimmung des maßgeblichen Zeitpunkts für die Anerkennung einer Krankheit als Berufskrankheit ist Art. 3 Abs. 1 GG. Es genügt den Anforderungen des Gleichheitssatzes, wenn der Verordnungsgeber den Stichtag für die Bestimmung der Entschädigungsfähigkeit so genannter Altfälle an dem Zeitpunkt ausrichtet, zu dem nach seiner Einschätzung die entsprechenden wissenschaftlichen Erkenntnisse vorgelegen und Umsetzungsreife im Sinne der § 551 Abs. 1 Satz 2 RVO aufgewiesen haben (vgl. Koch, in: Schulin, Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd. 2: Unfallversicherungsrecht 1996, § 37 Rz. 27; ders., in: Lauterbach, Unfallversicherung, Sozialgesetzbuch VII, Bd. 1, 4. Aufl., § 9 Rn. 296 ≪Bearbeitungsstand 1999≫). Eine daran orientierte Wahl des Stichtags ist dann sachgerecht im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfGE 87, 1 ≪43≫; stRspr.). Dabei steht dem Verordnungsgeber ein fachlicher und auch sozialpolitischer Bewertungsspielraum in Bezug auf die Frage zu, ob die Voraussetzungen des § 551 Abs. 1 Satz 2 RVO gegeben sind. Das Bundesverfassungsgericht kann den Verordnungsgeber nur daraufhin überprüfen, ob er diesen Spielraum vertretbar ausgefüllt hat. Dieser ist ihm insbesondere im Hinblick auf die häufig komplexen und deshalb naturgemäß in der Wissenschaft kontroversen Zusammenhänge zwischen Krankheit und beruflicher Exposition eingeräumt (vgl. näher Koch, in: Lauterbach, a.a.O., § 9 Rn. 99, 160, 169, 180 ff., 191 ff., 228, 270). Es ist primär Sache des Verordnungsgebers zu entscheiden, ab welchem Zeitpunkt wissenschaftliche Erkenntnisse die Umsetzungsreife aufweisen, die Voraussetzung für eine Regelung nach § 551 Abs. 1 Satz 2 RVO ist.

cc) Genügt die Festlegung des Stichtags diesen Anforderungen, so ist die Auffassung des Bundessozialgerichts, für den vor diesem Stichtag liegenden Zeitraum komme eine Anwendung des § 551 Abs. 2 RVO nicht in Betracht, im Hinblick auf Art. 3 Abs. 1 GG nicht zu beanstanden. Damit wird nicht grundgesetzwidrig in verfassungsrechtlich geschützte Positionen der Betroffenen eingegriffen. Denn der Gesetzgeber hat die Gewährung von Leistungen auf der Grundlage des § 551 Abs. 2 RVO erkennbar unter den Vorbehalt gestellt, dass die in Frage stehende Krankheit noch nicht in der Berufskrankheiten-Verordnung als Berufskrankheit bezeichnet ist. Soweit sich der Vorrang der allgemeinen Regelung des § 551 Abs. 1 RVO unter Einschluss einer entsprechenden Rückwirkungsanordnung verwirklicht, wird deshalb dem Betroffenen keine Rechtsposition entzogen, die er vorher innehatte, sofern nur die Entfaltung dieses Vorrangs in zeitlicher Hinsicht auf einer sachgerechten Festlegung des Stichtags beruht (vgl. oben unter bb).

dd) Der Vorrang der Anerkennungsentscheidung des Verordnungsgebers kommt allerdings erst zur Geltung, wenn die Regelungen der jeweiligen Berufskrankheiten-Verordnung über ihren zeitlichen Anwendungsbereich in Kraft getreten sind. Vorher ist es dem Unfallversicherungsträger im Hinblick auf Art. 3 Abs. 1 GG verwehrt, die Entscheidung über einen Antrag nach § 551 Abs. 2 RVO zurückzustellen, wenn eine Änderung der Berufskrankheiten-Verordnung in Sicht ist, in der auch über die Anerkennung der im Einzelfall in Frage stehenden Krankheit als Berufskrankheit entschieden wird (vgl. zum Meinungsstand in dieser Frage Koch, in: Lauterbach, a.a.O., Rn. 286, 287). Bis zum Inkrafttreten der jeweiligen Änderungsverordnung hat der Unfallversicherungsträger nach § 551 Abs. 2 RVO entsprechend den allgemeinen Grundsätzen des Verwaltungsverfahrensrechts zügig zu entscheiden. Ist eine Anerkennung vor dem Inkrafttreten der in Aussicht genommenen Änderung der Berufskrankheiten-Verordnung erfolgt, so wird eine Rechtsposition zugunsten des Versicherten begründet, die aus rechtsstaatlichen Erwägungen von den Vorschriften der Verordnung über den zeitlichen Anwendungsbereich grundsätzlich nicht mehr in Frage gestellt werden kann.

c) Wendet man die vorgenannten Grundsätze auf den vorliegenden Fall an, so ist eine Verletzung von Grundrechten des Versicherten nicht erkennbar.

aa) Es kann offen bleiben, ob die mittelbar angegriffene Rückwirkungsregelung schon deshalb nicht in eine Rechtsposition des Beschwerdeführers eingreift, weil der Verordnungsgeber sich bei Erlass der Verordnung zur Änderung der Berufskrankheiten-Verordnung vom 22. März 1988 (BGBl I S. 400) aufgrund der vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse gegen die Aufnahme der Wirbelsäulenkrankheiten in die Liste der Berufskrankheiten entschieden hat (vgl. BRDrucks 773/92, S. 15). Jedenfalls hat der Verordnungsgeber in der angegriffenen Vorschrift des Art. 2 Abs. 2 Berufskrankheiten-Verordnung 1992 einen Stichtag gewählt, der den dargestellten verfassungsrechtlichen Anforderungen genügt. Es ist unter Berücksichtigung seines weiten Einschätzungsermessens nicht zu erkennen, dass der Stand der Wissenschaft zum Zusammenhang zwischen schwerer beruflicher Arbeit und Erkrankungen der Wirbelsäule bereits vor dem 1. April 1988 zur Anerkennung als Berufskrankheit hätte führen müssen (vgl. aber auch Eilebrecht, in: Die Berufsgenossenschaft 1993, S. 187 ≪188≫). Möglicherweise bestanden selbst zu diesem Zeitpunkt noch fachliche Zweifel, die der Verordnungsgeber aber zurückgestellt hat, um nach der Wiedervereinigung Rechtsgleichheit bei der Anerkennung von Wirbelsäulenschäden als Berufskrankheit im Bundesgebiet herzustellen.

bb) Der Verordnungsgeber war auch nicht im Hinblick auf Art. 3 Abs. 1 GG gehalten, eine für die Versicherten in der Deutschen Demokratischen Republik vorteilhafte Rechtslage bei der Anerkennung von Krankheiten der Wirbelsäule als Berufskrankheit (vgl. BRDrucks 773/92, S. 7 zu Artikel 1 Nr. 4 unter a) auf die Fälle entsprechender Erkrankungen westdeutscher Versicherter zur Anwendung zu bringen, die vor dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des Einigungsvertrages eingetreten sind. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts war der gesamtdeutsche Gesetzgeber von Verfassungs wegen nicht verpflichtet, im Sozialversicherungsrecht die Versicherten im Beitrittsgebiet so zu stellen, als hätten sie von Anfang an im alten Bundesgebiet gelebt (vgl. BVerfGE 100, 1 ≪40≫). Dies gilt auch umgekehrt; es ist mit dem Grundgesetz vereinbar, wenn den Versicherten in den alten Bundesländern nicht rückwirkend Regelungen zugute kommen, die im Unfallversicherungsrecht der Deutschen Demokratischen Republik vorteilhafter waren.

cc) Es ist schließlich nicht erkennbar, dass der Versicherte im Zuge des von ihm beantragten Feststellungsverfahrens nach § 551 Abs. 2 RVO Grundrechtsverletzungen hat hinnehmen müssen. Insbesondere wurde das Feststellungsverfahren nicht in einer Weise vom Unfallversicherungsträger betrieben, die ihm willkürlich eine Entscheidung nach § 551 Abs. 2 RVO vor dem Inkrafttreten der Stichtagsregelung des Art. 2 Abs. 2 Berufskrankheiten-Verordnung 1992 vorenthalten hat.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

 

Unterschriften

Papier, Steiner, Hoffmann-Riem

 

Fundstellen

Haufe-Index 565244

SozSi 2001, 30

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