Leitsatz (amtlich)

RVO § 555 Fassung: 1963-04-30 ist - in Verbindung mit UVNG Art 4 § 2 Abs 1 - nicht anzuwenden, wenn der kraft Gesetzes als Folge des Arbeitsunfalles geltende Unfall sich bereits vor Inkrafttreten des UVNG ereignet hat.

 

Orientierungssatz

Zur Frage des Unfallversicherungsschutzes auf Wegen zum Arzt (Krankenhaus) nach dem Dritten Buch der RVO idF bis zum Inkrafttreten des UVNG.

 

Normenkette

RVO § 555 Fassung: 1963-04-30; UVNG Art. 4 § 2; RVO § 542 Fassung: 1942-03-09

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 10. Juli 1963 wird zurückgewiesen.

Auf die Revision der Beklagten werden dieses Urteil sowie das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 2. Dezember 1960 aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Der im Jahre 1902 geborene Ehemann der Klägerin war von Beruf Landwirt. Am 3. April 1958 fiel er beim Abladen von Runkelrüben vom Wagen und erlitt eine Prellung des rechten Schultergelenks. Sein behandelnder Arzt überwies ihn am 5. April 1958 zur Röntgenuntersuchung an den Durchgangsarzt ins Krankenhaus F. . Auf dem Heimweg wurde der Ehemann der Klägerin von einem Personenkraftwagen angefahren und so schwer verletzt, daß er noch an demselben Tage starb. Auf Anfrage der Beklagten teilte der Durchgangsarzt Dr. W in seinem Schreiben vom 27. Oktober 1958 mit, nach seiner Erinnerung wäre der Ehemann der Klägerin nach der Untersuchung ohne weiteres in der Lage gewesen, seinen Heimweg von F. aus allein anzutreten.

Die Beklagte übernahm die Behandlungskosten für den Unfall vom 3. April 1958, lehnte jedoch durch Bescheid vom 9. März 1959 eine Entschädigung wegen des Unfalls vom 5. April 1958 ab, da Wege eines Versicherten zum Arzt und zurück nicht unter Versicherungsschutz stünden.

Das Sozialgericht (SG) Kassel hat auf Klage durch Urteil vom 2. Dezember 1960 diesen Bescheid aufgehoben und die Beklagte verurteilt, den Unfall des Ehemannes der Klägerin vom 5. April 1958 als landwirtschaftlichen Unfall anzuerkennen.

Gegen dieses Urteil hat die Beklagte Berufung eingelegt.

Das Hessische Landessozialgericht (LSG) hat durch Urteil vom 10. Juli 1963 das Urteil des SG Kassel geändert und die Beklagte verurteilt, der Klägerin vom 1. Juli 1963 an Witwenrente zu zahlen; im übrigen hat es die Berufung zurückgewiesen und der Beklagten die außergerichtlichen Kosten der Klägerin auferlegt. Das Berufungsgericht hat zur Begründung u. a. ausgeführt: Die Berufung sei nur insoweit begründet, als sie die Zeit vor dem 1. Juli 1963 betreffe. Für diesen Zeitraum hätten die Wege eines Unfallverletzten zum und vom Arzt grundsätzlich nicht unter Versicherungsschutz gestanden. Es bestehe auch nicht die Wahrscheinlichkeit, daß der tödliche Unfall vom 5. April 1958 durch gesundheitliche Folgen des Unfalls vom 3. April 1958 wesentlich mitverursacht worden sei; denn der Ehemann der Klägerin habe nur verhältnismäßig leichte Verletzungen erlitten und sei nach Auffassung von Dr. Werner ohne weiteres in der Lage gewesen, am 5. April 1958 seinen Heimweg von Fritzlar allein anzutreten. Dagegen bestehe die Entscheidung des SG für die Zeit vom 1. Juli 1963 an zu Recht. Nach der Übergangsvorschrift des Art. 4 § 2 Abs. 1 des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes (UVNG) gelte § 555 der Reichsversicherungsordnung (RVO - in der Fassung durch Art. 1 UVNG) auch für solche Arbeitsunfälle, die bereits vor Inkrafttreten des UVNG eingetreten sind. Die Begründung zu der entsprechenden Vorschrift des Art. 3 § 2 Abs. 1 des Gesetzentwurfs laute zwar, aus dem "sozialen Zweck" der Leistungen ergebe sich, daß die besonderen Voraussetzungen für die einzelnen Leistungsarten nach Inkrafttreten der Neufassung erfüllt werden müßten; aber dieser Passus der Begründung habe in der endgültigen Gesetzesfassung keinen Ausdruck gefunden. Der "soziale Zweck" der Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung spreche vielmehr in derartigen Fällen eher dafür, vor und nach dem 1. Juli 1963 eingetretene Arbeitsunfälle grundsätzlich in jeder Hinsicht gleichmäßig zu behandeln. Für den Leistungsbeginn gelte jedoch Art. 4 § 16 Abs. 1 UVNG, nach dem Art. 1 UVNG am 1. Juli 1963 in Kraft trete.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Das Urteil ist den Beteiligten am 2. September 1963 zugestellt worden.

Die Klägerin und die Beklagte haben am 4. bzw. 20. September 1963 Revision eingelegt und sie gleichzeitig begründet.

Die Klägerin führt aus: Der Weg zum Arzt sei als Folge des Unfalls anzusehen. Die Röntgenuntersuchung habe auch im Interesse der Berufsgenossenschaft (BG) gelegen. Der Weg zum Arzt sei deshalb betriebsbedingt gewesen. Außerdem stehe nunmehr ausdrücklich nach § 555 RVO der Weg zum Arzt unter Versicherungsschutz. Diese Vorschrift gelte auch für Arbeitsunfälle vor Inkrafttreten des UVNG; es sei rechtlich unerheblich, ob der Unfall auf dem Wege zum Arzt sich vor dem 1. Juli 1963 ereignet habe oder erst später. Eine Rückwirkung sei aber dann sinnlos, wenn das Berufungsgericht ihr - der Klägerin - Leistungen aus der gesetzlichen UV erst seit dem 1. Juli 1963 zubillige. Die Entschädigung habe vielmehr "nach Eintritt des Arbeitsunfalls" zu erfolgen.

Die Klägerin beantragt,

unter teilweiser Aufhebung des Urteils des Hessischen LSG vom 10. Juli 1963 ihr Witwenrente vom 5. August 1958 an zu gewähren, die Revision der Beklagten zurückzuweisen und der Beklagten die weiteren Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

Die Beklagte beantragt,

die angefochtenen Urteile des SG Kassel vom 2. Dezember 1960 und des Hessischen LSG vom 10. Juli 1963 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Sie ist der Ansicht, das LSG sei zwar zutreffend davon ausgegangen, daß vor Inkrafttreten des UVNG durch einen Arbeitsunfall notwendige Wege eines Unfallverletzten von und zum Arzt grundsätzlich nicht dem Schutz der gesetzlichen UV unterstanden hätten; das Berufungsgericht habe aber zu Unrecht angenommen, daß der Klägerin im Hinblick auf Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG eine Entschädigung auf Grund des § 555 RVO vom 1. Juli 1963 an zustehe.

II

Die von beiden Beteiligten eingelegten Rechtsmittel sind nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthaft.

Die Revision der Klägerin ist indessen nicht begründet.

Das Berufungsgericht ist in Übereinstimmung mit der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats (vgl. Urteil vom 13. März 1956, Az.: 2 RU 52/54; BSG BG 1965, 73; ebenso RVA, EuM 21, 279, 280; 39, 265; 42, 385, 386; Bayerisches LVAmt Breith. 1950, 841; LSG Hamburg BG 1957, 257; Vollmar BG 1962, 209, 210; aA Ludovici WzS 1961, 14, 15) zutreffend davon ausgegangen, daß der Ehemann der Klägerin auf seiner Fahrt zum Krankenhaus in Fritzlar und zurück nicht nach § 543 RVO in der bis zum Inkrafttreten des UVNG geltenden Fassung (aF) unter Versicherungsschutz gestanden hat.

Zur Annahme eines Zusammenhangs im Sinne des § 543 RVO aF zwischen dem Weg zum Arzt und der Tätigkeit in dem Unternehmen reicht es nicht aus, daß der Arbeitsunfall den Anlaß für den Weg zum Arzt gegeben hat. Das eigene Interesse des Versicherten an der ärztlichen Beratung und Behandlung überwiegt auch hier gegenüber dem nur allgemeinen Interesse des Unternehmens an der Durchführung eines ordnungsgemäßen Feststellungsverfahrens und an der Betreuung des Verletzten durch den Versicherungsträger. Besondere Umstände, die über das in jedem Fall gegebene allgemeine Interesse hinaus ein rechtlich wesentliches Interesse des Unternehmens an der Fahrt des Ehemannes der Klägerin in das Krankenhaus begründen könnten (vgl. BSG BG 1965, 73; RVA EuM 42, 385, 386; 23, 166; 24, 324; Hess. LSG Breith. 1961, 416, 417; Baresel BABl 1957, 105), liegen aber auch unter Berücksichtigung der Verhältnisse in dem landwirtschaftlichen Unternehmen des Ehemannes der Klägerin nicht vor.

Der Tod des Ehemannes der Klägerin ist auch nicht die mittelbare Folge des am 3. April 1958 eingetretenen Arbeitsunfalls i. S. des § 542 RVO aF. Das Berufungsgericht hat ohne Rechtsirrtum einen ursächlichen Zusammenhang zwischen diesem Arbeitsunfall und dem tödlichen Unfall am übernächsten Tag verneint; denn nach Lage des zu beurteilenden Falles fehlt es an jeder Grundlage dafür, daß die durch den Arbeitsunfall verursachte Beeinträchtigung des Gesundheitszustandes des Ehemannes der Klägerin den Unfall oder das Ausmaß der Folgen des Unfalls rechtlich wesentlich mitverursacht hat.

Der tödliche Unfall des Ehemannes der Klägerin gilt auch nicht gem. § 555 RVO (idF des UVNG) als Folge des Arbeitsunfalls vom 3. April 1958; denn diese Vorschrift ist hier nicht anwendbar. Deshalb ist die Revision der Beklagten begründet. Das Berufungsgericht hat Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG i. V. m. § 555 RVO unzutreffend angewendet.

Nach Art. 4 § 1 UVNG gilt dieses Gesetz nur für Arbeitsunfälle, die sich nach seinem Inkrafttreten ereignen. Diese Vorschrift entspricht einem nicht nur im Sozialversicherungsrecht geltenden allgemeinen Rechtsgrundsatz, daß "Tatbestände, die nach neuem Recht anspruchsbegründend sind, aber bereits vor Inkrafttreten des neuen Rechts abgeschlossen vorliegen, von der Rechtsänderung nicht erfaßt werden, wenn nicht das neue Recht selbst ausdrücklich oder dem Sinne nach seinen Geltungsbereich auf diese Sachverhalte erstreckt" (BSG 16, 177, 178; vgl. auch BSG 11, 278, 287; 15, 46, 49; BSG SozR 6. BKVO § 4 Nr. 2; RVA AN 1924, 114; 1927, 385, 386; EuM 44, 257, 261; Bayer. LVAmt EuM 22, 164, 165; BGHZ 3, 82, 84; 7, 161, 166; 14, 205, 208; BGH LM BSeuchengesetz § 1 Nr. 1 Bl. 1; RGZ 87, 202, 208; Enneccerus/Nipperdey, Allg. Teil des Bürgerl. Rechts, 15. Aufl., Erster Halbb., § 62 I). Dies widerspricht nicht dem allgemeinen Gleichheitssatz, da Neuregelungen grundsätzlich nur für die Zukunft gedacht sind und insbesondere neueingeführte Vergünstigungen vom Gesetzgeber nicht auf abgeschlossene, in der Vergangenheit liegende Sachverhalte ausgedehnt zu werden brauchen (BSG 11, 278, 287; 14, 95, 97; BSG Breith. 1960, 882; vgl. auch BVerfGE 3, 58, 148; 13, 31, 36; 14, 288, 305). Es steht jedoch im sachgemäßen Ermessen des Gesetzgebers, das neue Recht auf bereits vorliegende Sachverhalte auszudehnen. Dieser Aufgabe dient Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG. Er bestimmt, daß die in ihm aufgeführten Vorschriften auch für Arbeitsunfälle gelten, die vor dem Inkrafttreten des UVNG eingetreten sind. Er bildet vor allem eine notwendige Ergänzung des Art. 4 § 1 UVNG. Ohne eine solche Übergangsregelung wären nämlich Altrentner von Leistungserhöhungen und zusätzlichen Leistungen ausgeschlossen. Die Versicherungsträger müßten noch viele Jahre nach Inkrafttreten des UVNG nicht nur bei der Neufeststellung alter, sondern auch bei der Gewährung neuer Leistungen (zB Abfindung, Witwenrente) prüfen, ob der Arbeitsunfall vor dem 1. Juli 1963 eingetreten ist. Die praktische Rechtsanwendung würde dadurch unerträglich erschwert, daß noch auf Jahrzehnte hinaus "bei neu eintretenden, sonst gleichliegenden Tatbeständen bald das frühere und bald das neue Recht angewendet werden müßte, je nachdem der Unfall unter jenem oder unter diesem sich ereignet hat" (RVA AN 1903, 349, 351).

Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG umfaßt eine Vielzahl von Vorschriften unterschiedlicher Zweckbestimmung und Bedeutung.

Der größte Teil dieser Vorschriften beinhaltet nur eine Verbesserung bereits im alten Recht gegebener, weiterhin von den gleichen tatbestandsmäßigen Voraussetzungen abhängiger Leistungen (vgl. zB § 590 Abs. 1 RVO - § 588 Abs. 1 Satz 1 RVO aF). Ein anderer Teil wirkt sich vornehmlich auf die Verwaltungspraxis der Versicherungsträger aus (s. u. a. § 628 RVO - § 620 RVO aF). Eine weitere Gruppe, zu der § 555 RVO zu zählen ist, erweitert den bezugsberechtigten Personenkreis, sofern bestimmte neue, zusätzliche Tatbestandsmerkmale erfüllt sind. Das einzige verbindende Merkmal dieser vielen verschiedenartigen Vorschriften ist der Begriff des Arbeitsunfalls. Dieser Begriff umfaßt als der in der gesetzlichen Unfallversicherung am häufigsten zu entschädigende Versicherungsfall allein das körperlich schädigende, zeitlich begrenzte Unfallereignis und den ursächlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit (vgl. Brackmann, Handb. d. SozVers. 1.-6. Auflage, Stand: Mai 1964, Bd. II, S. 480, 482 a; Handbuch der Unfallversicherung, 1909, Bd. I, S. 76). Der Begriff des Versicherungsfalls umschreibt nur das versicherte Wagnis und sagt nichts über die Voraussetzungen aus, die für einen Anspruch auf eine Leistung aus der Versicherung sonst noch erfüllt sein müssen; sein Eintritt muß nicht mit der Erfüllung der materiell-rechtlichen Voraussetzungen für die im Einzelfall gewährte Leistung zeitlich zusammenfallen (BSG, Urt. v. 1.12.1964 - Az. 11/1 RA 242/63 zu § 25 Abs. 1, 4 AVG; vgl. auch BSG 20, 48, 50 zu § 25 Abs. 3 AVG; BSG SozR RVO § 1255 Nr. 3; Brackmann, aaO, Bd. III, S. 666 r). Deshalb erscheint eine dem Wesen der einzelnen Vorschrift entsprechende Beurteilung der in einer Rückwirkungsvorschrift (Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG) zusammengefaßten Vorschriften mit unterschiedlichen Ergebnissen nicht ausgeschlossen; der Gesetzgeber hat davon abgesehen, die in Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG zusammengefaßten verschiedenartigen Gruppen von Vorschriften, deren unterschiedliche Zweckbestimmung und Bedeutung sich bei ihrer rückwirkenden Anwendung auf alte Arbeitsunfälle unterschiedlich auswirken muß, im Übergangsrecht des UVNG entsprechend zu ordnen. Dabei ist der Zweck der Übergangsregelung nicht losgelöst von dem Sinn des gesamten Gesetzes zu betrachten.

Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG soll als Übergangsvorschrift im Rahmen der von ihr erfaßten gesetzlichen Vorschriften die bisher nach altem Recht durchgeführte rechtliche Beurteilung der Folgen früherer Arbeitsunfälle in das durch das UVNG geschaffene Recht über leiten. Der Über gang in das neue Recht setzt jedoch voraus, daß der vor dem 1. Juli 1963 eingetretene Arbeitsunfall in den zeitlichen Geltungsbereich des neuen Rechts hineinwirkt. Diese Voraussetzung ist bei im Zeitpunkt des Inkrafttretens des UVNG laufenden Leistungen erfüllt, wie bereits das RVA in ständiger Rechtsprechung entschieden hat (vgl. RVA AN 1903, 349, 350; 1904, 493, 494). § 555 RVO gehört jedoch zu den in Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG aufgeführten - wenigen - Vorschriften, bei denen ein - neuer - Anspruch nur gegeben ist, wenn außer dem Arbeitsunfall noch ein - neues - zusätzliches Tatbestandsmerkmal erfüllt ist; denn der Unfall i. S. des § 555 RVO gilt nicht als Arbeitsunfall i. S. des § 548 RVO, sondern als Folge eines bereits vorangegangenen Arbeitsunfalls. Dies ist nicht nur dem insoweit klaren Wortlaut des § 555 RVO, sondern auch der Entstehungsgeschichte dieser Vorschrift zu entnehmen. Der Vorschlag des Bundesrats (vgl. BT-Drucks. II./3318), den Unfall i. S. des § 555 RVO als Arbeitsunfall zu werten, ist nicht Gesetz geworden. Hat sich der Unfall, der nach § 555 RVO als Folge des Arbeitsunfalls gilt, - als zeitlich begrenzte körperliche Einwirkung - bereits vor Inkrafttreten des UVNG ereignet, so liegt - anders als bei laufenden Leistungen - ein Fortwirken in den Geltungsbereich des neuen Rechts nicht vor.

Diese Auslegung entspricht ebenfalls einem seit langer Zeit in der Rechtsprechung des RVA (vgl. AN 1903, 349, 351, 353; 1904, 493, 494) anerkannten Grundsatz und auch der vom Gesetzgeber bisher geübten Gesetzgebungspraxis (vgl. Art. 131, 132, 134 Zweites Gesetz über die Änderung in der Unfallversicherung - ÄndG - vom 17. Juli 1925 - RGBl I, 97; Art. 35 Drittes ÄndG vom 20. Dezember 1928 - RGBl I, 405; Art. 3 Viertes ÄndG vom 18. April 1937 - RGBl I, 463; Art. 3 §§ 1, 2, 4, 5 Fünftes ÄndG vom 17. Februar 1939 - RGBl I, 267; Art. 2 § 1 Sechstes ÄndG vom 9. März 1942 - RGBl I, 107). Ausnahmen waren ausdrücklich bestimmt und zeitlich begrenzt (vgl. zB Art. 3, Viertes ÄndG aaO).

Die Entstehungsgeschichte des UVNG enthält keine sicheren Hinweise, daß der Gesetzgeber in Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG von diesem Grundsatz und der bisher bestehenden Gesetzgebungspraxis abweichen und die rückwirkende Anwendung der in dieser Übergangsvorschrift aufgeführten Vorschriften ohne zeitliche Begrenzung normieren wollte. Die Begründung zu Art. 3 §§ 1, 2 des Entwurfs des UVNG (= Art. 4 §§ 1, 2 UVNG) (BT-Drucks. IV/120, S. 78/79) lautet u. a.:

"Ferner soll die Entschädigung für die Folgen einer Heilbehandlung oder Untersuchung im Sinne des § 555 nicht davon abhängen, ob der Arbeitsunfall, der die Heilbehandlung oder Untersuchung veranlaßt hat, vor oder nach Inkrafttreten der Neufassung eintritt. Aus dem sozialen Zweck der Leistungen ergibt sich jedoch, daß die besonderen Voraussetzungen für die einzelnen Leistungsarten nach Inkrafttreten der Neufassung erfüllt werden müssen."

Aus den Niederschriften über die Sitzungen des federführenden Ausschusses für Sozialpolitik des Deutschen Bundestages ist entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts nicht ersichtlich, daß der Ausschuß insoweit eine von der Begründung des Gesetzentwurfs abweichende Auffassung vertreten hat. Das gilt auch für die abschließenden Beratungen im Plenum des Deutschen Bundestages. Zwar erwähnt der schriftliche Bericht des Ausschusses für Sozialpolitik (BT-Drucks. IV/938 neu, hier S. 32) die "grundsätzliche Gleichbehandlung aller Unfallverletzten". Dieser Hinweis bezieht sich aber auf die Leistungsverbesserungen, die auf sämtliche laufenden Leistungen ausgedehnt werden sollen. Dem steht jedoch, wie bereits aufgezeigt, die Rechtsansicht des erkennenden Senats nicht entgegen.

Hätte der Gesetzgeber, abweichend von dem durch die Rechtsprechung aufgestellten Grundsatz über die Auslegung von Übergangsvorschriften und entgegen der sich daran anschließenden Gesetzgebungspraxis, bei den Übergangsregelungen des UVNG von einem Fortwirken des vor dem 1. Juli 1963 eingetretenen Arbeitsunfalls in den zeitlichen Geltungsbereich des neuen Rechts als Voraussetzung für die Anwendung der in Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG aufgeführten Vorschriften absehen wollen, so hätte er dies durch eine anderslautende Fassung des Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG zu erkennen geben müssen.

Ein derartiger Wille ist jedoch nur in Art. 4 § 5 UVNG ersichtlich. Diese Sondervorschrift ist indessen - gegenüber § 555 RVO in Verbindung mit Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG - dadurch gekennzeichnet, daß sie in ihren finanziellen Auswirkungen für den Gesetzgeber übersehbar gewesen ist und Arbeitsunfälle betrifft, die bereits unter der Geltung des früheren Rechts festgestellt worden sind und für die eine Entschädigung auf Grund von Notverordnungen weggefallen oder ganz oder teilweise versagt oder gekürzt worden ist. Eine weitere Besonderheit gegenüber § 555 RVO liegt darin, daß Ermittlungen über den Unfall und dessen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit meist bereits kurz nach dem Unfall durchgeführt worden und deshalb in der Regel die wesentlichen Ergebnisse dieser Ermittlungen den Unterlagen des zuständigen Trägers der gesetzlichen Unfallversicherung oder des Verletzten zu entnehmen sind. Daher werden hier Beweisschwierigkeiten nicht annähernd in dem Maße auftreten, wie sie bei einer zeitlich unbegrenzten rückwirkenden Anwendung des § 555 RVO zu erwarten wären.

Aus Art. 4 § 2 Abs. 4 UVNG kann nicht geschlossen werden, daß der Gesetzgeber für die Anwendbarkeit der in Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG angeführten Vorschriften nur bei § 615 Abs. 2 RVO ein Hineinwirken in das neue Recht vorausgesetzt hat; bereits die Begründung des Gesetzentwurfs (aaO) hebt hervor, daß es sich bei Art. 3 § 2 Abs. 4 des Entwurfs (= Art. 4 § 2 Abs. 4 UVNG) um eine vorsorgliche Klarstellung handelt.

Aus diesen Gründen tritt der Senat der in Rechtsprechung und Schrifttum überwiegend vertretenen Ansicht bei, daß § 555 RVO bei Arbeitsunfällen vor dem 1. Juli 1963 nur anwendbar ist, wenn die besonderen Tatbestände dieser Vorschrift erst nach dem 30. Juni 1963 erfüllt worden sind (vgl. LSG Saarland Breith. 1964, 295; Lauterbach, Unfallvers., 3. Aufl., § 555 Anm. 12; Bereiter/Hahn, Komm. zur Unfallvers., § 555 Anm. 2; Etmer, RVO, 3. Buch, Unfallvers., Vorbem. zu §§ 1, 2 des Art. 4 UVNG; Haase/Koch, Die Unfallvers., Art. 4 § 2 Anm. 1; Miesbach/Baumer, Die gesetzl. Unfallvers., § 555 Anm. 7; Noell/Breitbach, Landwirtsch. Unfallvers., Art. 4 § 2 Anm. 1, § 555 Anm. 8; Wagner, Der Arbeitsunfall, 4. Aufl., S. 381 zu § 555; Ilgenfritz, BG 1963, 327, 330; Kerfack, ErsK 1963, 254; Wickenhagen, ZSR 1963, 321, 325; Rundschreiben des Hauptverbandes der gewerblichen Berufsgenossenschaften vom 20.7.1963 - VB 98/63, S. 6 zu § 555 RVO; a. A. Gotzen/Doetsch, Komm. zur Unfallvers., Anm. zu Art. 4 §§ 1, 2, S. 330; Jäger, SV 1964, 23; Dähne, SozSich 1963, 366, 367; zweifelnd Knoll/Schieckel/Gurgel, RVO-Ges. Komm., § 555 Anm. 3).

An dieser Voraussetzung fehlt es im vorliegenden Fall, da der Ehemann der Klägerin vor dem Inkrafttreten des UVNG auf dem Wege vom Arzt tödlich verunglückt ist. Auch § 555 RVO i. V. m. Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG rechtfertigt somit nicht das Klagebegehren der Klägerin.

Die von der Beklagten angefochtenen Urteile waren daher im vollen Umfange aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 707708

BSGE, 139

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