Entscheidungsstichwort (Thema)

Schulunfall. Selbsttötungsabsicht

 

Leitsatz (amtlich)

Zur Frage des Schulunfalls beim Sprung eines Schülers in Selbsttötungsabsicht aus einem Fenster der Schule.

 

Orientierungssatz

1. Auch Vorgänge im Bereich des Psychischen oder Geistigen - selbst bei einer zu psychischen Reaktionen neigenden Anlage des Versicherten - können Ursachen im Rechtssinn sein (vgl BSG 5.2.1980 2 BU 31/79 = Meso B 320/35).

2. War die seelische Belastung eines Schülers durch eine Klassenarbeit allenfalls das letzte Glied einer Kette zahlreicher einander etwa gleichwertiger Einwirkungen auf seine Psyche kann sie nicht als eine rechtlich wesentliche Bedingung für seinen Sturz aus dem Schulfenster gewertet werden.

 

Normenkette

RVO § 539 Abs. 1 Nr. 14 Buchst. b Fassung: 1971-03-18, § 548 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1963-04-30

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 18.01.1984; Aktenzeichen L 17 U 3/82)

SG Dortmund (Entscheidung vom 28.10.1981; Aktenzeichen S 1 U 127/78)

 

Tatbestand

Die Klägerin, bei welcher der Vater des Beigeladenen gesetzlich gegen Krankheit versichert war, begehrt die Feststellung, daß ihr der beklagte Unfallversicherungsträger die für die Folgen der Verletzungen des Beigeladenen erbrachten Aufwendungen zu ersetzen hat.

Der im Dezember 1961 geborene Beigeladene war Schüler der zehnten Klasse eines Gymnasiums. Am 25. April 1978 sollte in zwei Unterrichtsstunden, beginnend um 10.05 Uhr, eine Lateinarbeit geschrieben werden. Der Beigeladene verließ gegen 10.30 Uhr mit Einverständnis der Lehrerin den Klassenraum. Er begab sich in das darüberliegende dritte Stockwerk und sprang beim Ertönen des Pausenzeichens aus einem Fenster, nachdem er zuvor vergeblich zur Umkehr bewegt worden war. Auf seinem Arbeitstisch fand die Lehrerin statt der Lateinarbeit ein handgeschriebenes Schriftstück mit folgenden Inhalt: "Klassenarbeit Nr 5 Gruppe A Ich habe mich für den Tod entschieden, da ich für mein Leben keinen Sinn mehr sehe. Ich habe immer versagt und werde auch ein Leben lang versagen (besonders in der Schule). Da ich das nicht länger ertragen kann, muß ich sterben. Ich habe schon zu lange gewartet, aber heute, am 25.04.1978 ist für mich das Ende gekommen. Allen, die zurückbleiben, wünsche ich viel Erfolg, mehr Erfolg und Glück, als ich je hatte. Betet für mich!" (Unterschrift).

Der Beigeladene stürzte auf ein Vordach und zog sich dabei erhebliche Verletzungen zu. Seinen Entschädigungsantrag lehnte die Beklagte mit der Begründung ab, zwischen dem Schulbesuch und der Selbsttötungsabsicht habe kein rechtlich wesentlicher Zusammenhang festgestellt werden können (Bescheid vom 22. September 1978). Den hiergegen erhobenen Widerspruch nahm der Beigeladene zurück, nachdem ihm die Beklagte zugesichert hatte, ihm Entschädigung zu leisten, falls der Ersatzanspruch der Klägerin in diesem Rechtsstreit zu deren Gunsten entschieden werde.

Das Sozialgericht (SG) Dortmund hat die im Dezember 1978 erhobene Klage abgewiesen (Urteil vom 28. Oktober 1981). Die Klägerin könne Ersatz ihrer Aufwendungen von der Beklagten nicht verlangen, da sich der Beigeladene seine Verletzungen nicht durch einen Arbeitsunfall (Schülerunfall) zugezogen habe. Ein bei der Lateinarbeit eingetretenes seelisches Trauma sei nicht eine rechtlich wesentliche Mitursache des Suizidversuchs gewesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen (Urteil vom 18. Januar 1984). Es ist ebenfalls zu dem Ergebnis gelangt, daß der Beigeladene nicht einen Arbeitsunfall erlitten hat. Es fehle an dem rechtlich wesentlichen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Suizidversuch und der versicherten Tätigkeit - dem Besuch der Schule -, weil die seelische Belastung durch die Lateinarbeit lediglich das letzte Glied einer Kette belastender Einwirkungen auf die Psyche des Beigeladenen gewesen sei, ohne daß sie sich im Verhältnis zu anderen Belastungen besonders herausgehoben habe.

Die Klägerin hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Nach ihrer Auffassung war die vom Beigeladenen nicht zu bewältigende Lateinarbeit mit Wahrscheinlichkeit zumindest eine rechtlich wesentliche Mitursache seines Selbsttötungsversuchs. Das LSG habe die Voraussetzungen eines Arbeitsunfalls für die nach § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst b der Reichsversicherungsordnung (RVO) versicherten Schüler, insbesondere den Begriff der rechtlich wesentlichen Ursache, verkannt, bei der Würdigung der fachärztlichen Gutachten die Grenzen des Rechts auf die richterliche Beweiswürdigung überschritten (§ 128 Abs 1 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-) und sei außerdem von dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 18. Dezember 1979 - 2 RU 77/77 - abgewichen.

Sie beantragt, das angefochtene Urteil sowie das Urteil des SG aufzuheben und festzustellen, daß die Beklagte verpflichtet ist, ihr die anläßlich des Unfalls des Beigeladenen vom 25. April 1978 erbrachten Aufwendungen zu ersetzen.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Sie hält die Entscheidung des LSG und des SG für zutreffend.

Der Beigeladene schließt sich der Revisionsbegründung und dem Antrag der Klägerin an.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin ist nicht begründet.

Die Klägerin hat als Träger der Krankenversicherung des bei ihr versicherten Vaters des beigeladenen Schülers nur dann gegen die Beklagte einen Anspruch auf Ersatz der Kosten, die sie im Rahmen der Familienkrankenhilfe (§ 20 RKG iVm § 205 RVO) für den Beigeladenen aufgewendet hat, wenn die Verletzung des Beigeladenen Folgen eines Arbeitsunfalles sind. Bei der Prüfung des geltend gemachten Ersatzanspruches ist nicht mehr von der analogen Anwendung der bis zum 30. Juni 1983 geltenden Vorschrift des § 1510 Abs 2 RVO (s BSGE 39, 24, 26), sondern von den Vorschriften des Dritten Kapitels des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - SGB X - (Art 2 § 3 Nr 1, § 25 des Gesetzes vom 4. November 1982 - BGBl I 1450) auszugehen (s BSG Urteile vom 13. September 1984 - 4 RJ 37/83 - und 28. März 1985 - 2 RU 30/84 -; BT-Drucks 9/95, S 30). Ebenso wie nach früherem Recht ist jedoch auch nach allen in Betracht kommenden Vorschriften des SGB X (s §§ 88, 91 SGB X - so Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. - 10. Aufl, S 979 e, BT-Drucks aaO - und § 105 SGB X - so Schroeder-Printzen/Engelmann/Schmalz/Wiesner/von Wulffen, SGB X, Ergänzungsband 1984, § 105 Anm 2.4) Voraussetzung für den Ersatzanspruch - die Ersatzpflicht des beklagten Trägers der Unfallversicherung -, daß der Beigeladene einen Arbeitsunfall erlitten hat. Daran fehlt es hier jedoch.

Arbeitsunfall ist ein Unfall, den ein Versicherter bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten erleidet (§ 548 Abs 1 Satz 1 RVO). Der Beigeladene war während des Besuchs des Gymnasiums, einer allgemeinbildenden Schule, gemäß § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst b RVO gegen Arbeitsunfall (Schulunfall) versichert. Für den Versicherungsschutz nach dieser Vorschrift reicht es aber nicht aus, daß sich der Unfall innerhalb des organisatorischen Verantwortungsbereichs der Schule (s BSGE 35, 207, 211; 41, 149, 150) während des Unterrichts oder einer Pause ereignet. Erforderlich ist vielmehr, daß das Verhalten des Schülers, das zu seinem Unfall führt, in einem wesentlichen inneren Zusammenhang mit dem Schulbesuch - seiner "versicherten Tätigkeit" - steht (s BSG SozR 2200 § 548 Nr 48; BSG Urteil vom 18. Dezember 1979 - 2 RU 77/77 - USK 79208; Brackmann aaO S 483 o).

Nach den tatsächlichen Feststellungen im Urteil des LSG, gegen die keine durchgreifenden Revisionsgründe vorgebracht und die deshalb für das BSG bindend sind (§§ 163, 170 Abs 3 Satz 1 SGG), hat der Beigeladene etwa 25 Minuten nach Beginn der Unterrichtsstunde das Klassenzimmer mit Einverständnis der Lehrerin unter einem Vorwand verlassen, nachdem er statt der Lösung von Aufgaben einer Lateinarbeit einen Abschiedsbrief im wesentlichen mit dem Inhalt geschrieben hatte, er habe sich "für den Tod entschieden"; er begab sich auf ein Fensterbrett im dritten Stock des Schulgebäudes und sprang beim Ertönen des Pausenzeichens, nachdem zuvor vergeblich versucht worden war, ihn zur Umkehr zu bewegen, von dort hinab. Wie das LSG weiterhin - zur Ermittlung der Motive des Beigeladenen für den Sprung aus dem Fenster - festgestellt hat, bestand bei dem damals Sechzehnjährigen aufgrund eigener Leistungsmotivation schon längere Zeit das Gefühl allgemeinen Versagens, so daß er sich bereits vor der Lateinarbeit wiederholt mit der Frage beschäftigt hatte, seinem Leben ein Ende zu setzen. Sein Wunsch, einen guten Notendurchschnitt zu erreichen, um jedes Studium - insbesondere das der Medizin - aufnehmen zu können, sah der Beigeladene dadurch gefährdet, daß seine schriftlichen Klassenarbeiten im laufenden Schuljahr in den Fächern Mathematik (mit 3, 6, 5 und 5) und Latein (5, 4, 5 und 4) schlecht benotet worden waren.

Bei der Prüfung, ob unter diesen in tatsächlicher Hinsicht festgestellten Umständen die vorangegangene "seelische Belastung" durch die Klassenarbeit als ein der versicherten Tätigkeit (dem Besuch der Schule) zuzurechnendes Ereignis eine rechtlich wesentliche Bedingung für den Sturz des Beigeladenen aus dem Schulfenster war, ist das LSG zutreffend davon ausgegangen, daß auch Vorgänge im Bereich des Psychischen oder Geistigen - selbst bei einer zu psychischen Reaktionen neigenden Anlage des Versicherten - Ursachen im Rechtssinn sein können (s BSGE 18, 163 ff und 173 ff; Urteil vom 18. Dezember 1962 - 2 RU 56/58 - Breithaupt 1963, 768; BSG Urteile vom 29. April 1964 - 2 RU 215/60 -, vom 29. Mai 1964 - 2 RU 96/59 - und vom 24. Februar 1967 - 2 RU 114/65 - SGb 1967, 542; s auch BSG Urteil vom 18. Dezember 1979 - 2 RU 77/77 - USK 79208; Urteil des Hessischen LSG vom 25. Oktober 1978 - L 3 U 180/74 - und den Beschluß des BSG vom 5. Februar 1980 - 2 BU 31/79 -). Ebenfalls zutreffend ist das LSG ferner davon ausgegangen, daß eine schädigende Einwirkung den Tatbestand eines Unfalles nur erfüllt, wenn sie innerhalb eines verhältnismäßig kurzen Zeitraumes, höchstens innerhalb einer Arbeitsschicht geschehen ist (ständige Rechtsprechung, s die Nachweise bei Brackmann aaO S 479 f ff) und daß eine von mehreren, nacheinander in verschiedenen Arbeitsschichten insgesamt den Versicherten treffende Einwirkungen, die zu der Schädigung führen, nur dann als wesentliche Bedingung zu werten ist, wenn sie sich aus der Gesamtheit der Einwirkungen derart hervorhebt, daß sie nicht nur die letzte mehrerer gleichwertiger Einwirkungen bildet (BSG Urteil vom 30. Juli 1965 - 2 RU 57/67 - BG 1966, 360; BSG SozR Nr 14 zu § 548 RVO; BSG Beschluß vom 5. Februar 1980 aaO). Das LSG ist unter Beachtung der Rechtsprechung des BSG insbesondere auch zum Begriff der rechtlich wesentlichen Bedingung und ohne Verstoß gegen § 128 Abs 1 SGG zu dem Ergebnis gelangt (s S 17 des Urteils), daß die seelische Belastung des Beigeladenen durch die Lateinarbeit allenfalls das letzte Glied einer Kette zahlreicher einander etwa gleichwertiger Einwirkungen auf seine Psyche war, "der letzte Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte". Demnach hat das LSG zutreffend eine psychische Belastung des Beigeladenen durch die Klassenarbeit nicht als eine rechtlich wesentliche Bedingung für den Sprung aus dem Schulfenster gewertet. Von dem Urteil des erkennenden Senats vom 18. Dezember 1979 - 2 RU 77/77 - (USK 79 208) ist das LSG entgegen dem Revisionsvorbringen hierbei nicht abgewichen, weil nach dem dieser Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt - anders als hier - die dem Sprung eines Schülers aus dem Fenster unmittelbar vorangegangenen Einwirkungen schulbedingter Umstände auf seine Psyche erst die kurzschlußartige Reaktion wesentlich bedingt hatten.

Die Revision ist somit zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 und 3 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1664718

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