Beteiligte

Kläger und Revisionsbeklagter

Beklagte und Revisionsklägerin

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger die Knappschaftsrente wegen Erwerbsunfähigkeit als Gesamtleistung nach §§ 47 Abs. 2 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG), 1247 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zu gewähren ist.

Der 1931 geborene Kläger war von 1945 bis 1948 als Schlosserlehrling beschäftigt. Danach war er bis Januar 1958 mit Unterbrechungen im Bergbau als Berglehrling, Knappe, Schlepper, Lehrhauer und Hauer tätig. Nach kurzer Arbeitslosigkeit arbeitete er dann außerhalb des Bergbaues als ungelernter oder kurzfristig als angelernter Arbeiter, zuletzt von 1973 bis 1976 als Spritzlackierer in einer Lampenfabrik. Seit September 1976 ist er nicht mehr erwerbstätig und bezieht seit dem 1. Mai 1978 die Bergmannsrente wegen verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit. Am 29. März 1979 beantragte er die Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit. Mit Bescheid vom 22. Mai 1980 und Widerspruchsbescheid vom 11. Juli 1980 lehnte die Beklagte den Antrag ab.

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage durch Urteil vom 24. Juni 1981 abgewiesen, da der Kläger noch als Verwieger, Lampenwärter, Lampenstubenarbeiter, Pförtner an der Nebenpforte oder Hilfsarbeiter im Büro tätig sein könne. Das Landessozialgericht (LSG) hat das Urteil des SG aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger unter Annahme eines Zustandes der Erwerbsunfähigkeit seit März 1979 die Gesamtleistung nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmung zu gewähren (Urteil vom 7. Juni 1983). Der Kläger sei erwerbsunfähig, da er mit seinem eingeschränkten Leistungsvermögen auf keine Tätigkeit mehr verwiesen werden könne. Für ihn kämen nur noch körperlich leichte Tätigkeiten ohne große Verantwortung, Nacht- und Wechselschicht, psychische Belastungen wie Akkord- und Fließbandarbeit, Zwangshaltungen, langes Sitzen, ständiges Gehen, Zugluft, Staub und chemische Dämpfe in Betracht. Die Arbeiten müsse er abwechselnd im Gehen, Stehen und Sitzen sowie nicht an laufenden Maschinen verrichten können. Der Kläger sei weder auf die vom SG genannten Tätigkeiten noch auf Arbeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes zu verweisen, da er zwar vollschichtig und regelmäßig arbeiten könne, jedoch nicht unter den üblichen Arbeitsbedingungen. Der Arbeitsmarkt sei für ihn als verschlossen anzusehen, da er wegen des chronischen Geschwürsleidens am Zwölffingerdarm zusätzlich zu den betriebsüblichen Pausen vor- und nachmittags eine Pause von jeweils 10 Minuten Dauer zur Einnahme von Zwischenmahlzeiten einlegen müsse.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung der §§ 46 Abs. 2, 47 Abs. 2 RKG, 1246 Abs. 2, 1247 Abs. 2 RVO, Art 103 Grundgesetz (GG), §§ 103, 62 i.V.m. § 128 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Die Beklagte beantragt, das Urteil des LSG vom 7. Juni 1983 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG vom 24. Juni 1981 zurückzuweisen,

hilfsweise, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

II

Die durch Zulassung statthafte Revision der Beklagten hat mit dem Hilfsantrag insofern Erfolg, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden muß (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG). Insoweit greift bereits die Rüge einer materiellen Rechtsverletzung durch, so daß es auf die von der Beklagten außerdem geltend gemachten Verfahrensmängel nicht ankommt.

Das LSG hat beim Kläger Erwerbsunfähigkeit i.S. der §§ 47 Abs. 2 RKG, 1247 Abs. 2 RVO bejaht, weil er keine Tätigkeiten mehr unter den üblichen Arbeitsbedingungen verrichten könne. Dies begründet das Berufungsgericht damit, daß der Kläger bei einem an sich noch möglichen Einsatz in vollen Schichten jedoch zusätzlich zu den betriebsüblichen Pausen vor- und nachmittags weitere zur Einnahme von Zwischenmahlzeiten einlegen müsse. Daraus allein läßt sich eine Verschlossenheit des Arbeitsmarktes nicht herleiten.

Zutreffend geht das LSG davon aus, daß es beim Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit erheblich ist, ob Arbeitsplätze vorhanden sind, auf denen tätig zu sein dem Kläger zuzumuten ist und die er mit der ihm verbliebenen Leistungsfähigkeit noch ausfüllen kann (vgl. Beschluß des Großen Senats des Bundessozialgerichts - BSG - in BSGE 43, 75, 79 = SozR 2200 § 1246 Nr. 13). In der Regel ist bei Vollzeittätigkeiten von einer hinreichenden Zahl von Arbeitsplätzen jedenfalls dann auszugehen, wenn sie in Tarifverträgen erfaßt sind. Ausnahmsweise ist auch dann zu prüfen, ob es Arbeitsplätze in ausreichendem Umfang gibt, wenn der Versicherte die Erwerbstätigkeit u.a. nicht unter üblichen Arbeitsbedingungen verrichten kann (vgl. BSG in SozR a.a.O. Nr. 90 m.w.N.).

Auf zusätzliche, in § 12 Abs. 2 der Arbeitszeitordnung (AZO) vom 30. April 1938 nicht vorgesehene Pausen besteht - worin dem LSG beizupflichten ist - kein Rechtsanspruch. Abs. 2 dieser Vorschrift fordert nach einer Arbeitszeit von mehr als sechs Stunden mindestens eine halbstündige Pause oder zwei viertelstündige Ruhepausen. Abgesehen von besonderen tarifvertraglichen Regelungen können weitere Arbeitsunterbrechungen allenfalls bei bereits bestehendem Beschäftigungsverhältnis aus der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers hergeleitet werden. Der Bewerber um einen Arbeitsplatz kann dagegen nicht mit seiner Einstellung rechnen, wenn er zusätzliche, in der AZO nicht vorgesehene Pausen benötigt (so der erkennende Senat in seinen Urteilen vom 31. Juli 1975 - 5 RJ 203/73 -, 26. Januar 1978 - 5 RJ 106/77 - und 27. Januar 1981 - 5 b/5 RJ 80/80 -). Daraus allein durfte das LSG jedoch noch nicht den Schluß ziehen, dem Kläger sei der Arbeitsmarkt verschlossen. Der fehlende Rechtsanspruch auf zusätzliche Pausen besagt nichts darüber, ob gleichwohl in der Praxis Arbeitnehmer zu solchen Bedingungen eingestellt werden. Der Arbeitgeber ist nur gehalten, die vorgeschriebenen Pausen zuzubilligen. Er ist nicht gehindert, darüber hinaus Zugeständnisse zu machen. Abzustellen ist auf die tatsächlichen Verhältnisse am Arbeitsmarkt, die maßgebend dafür sind, ob für den Versicherten überhaupt eine Möglichkeit besteht, mit der verbliebenen Leistungsfähigkeit Erwerbseinkommen zu erzielen.

Im Falle des Klägers bedarf es somit noch der Prüfung, in welchem Umfange ggf. Beschäftigungsverhältnisse eingegangen werden, bei denen dem Arbeitnehmer zusätzliche Pausen zugestanden werden oder der Arbeitsablauf es ohnehin gestattet, die beim Kläger erforderlichen Zwischenmahlzeiten einzunehmen. Der genannten und auch vom LSG zitierten Rechtsprechung des erkennenden Senats ist nicht zu entnehmen, daß derartige Feststellungen bei der Entscheidung über die Erwerbsunfähigkeit entbehrlich seien. Dies hat das LSG verkannt.

Zu dem in § 103 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) verwendeten Begriff der "üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes" hat das BSG entschieden, diese brauchten zwar nicht in der Mehrzahl der

Arbeitsverhältnisse, wohl aber in einer beachtlichen Zahl vorhanden zu sein, aus der eine entsprechende Übung entnommen werden könne (vgl. BSGE 44, 164, 172; 46, 244, 249 = SozR 4100 § 134 Nr. 3 und § 168 Nr. 7 m.w.N.). Diese Rechtsprechung läßt sich auf die gesetzliche Rentenversicherung übertragen, soweit es in ihr auf die Verschlossenheit des Arbeitsmarktes ankommt. Für das Vorhandensein von Tätigkeiten, deren Arbeitsablauf an sich Gelegenheit zu Pausen bietet, spricht z.B. § 12 des Manteltarifvertrages für die Arbeiter des rheinisch-westfälischen Steinkohlenbergbaus. Dieser unterscheidet in Abs. 1 zwischen der Arbeitszeit von acht Stunden und der Schichtzeit einschließlich einer halbstündigen Pause von achteinhalb Stunden Dauer. In Abs. 2 dieser Vertragsbestimmung ist dagegen vorgesehen, daß für bestimmte Arbeiter die Arbeits- und Schichtzeit einheitlich acht Stunden sein kann. Hierunter fallen Lampenstubenarbeiter, Pförtner, Markenausgeber, Telefonisten, Kauenwärter, Wächter und Heildiener. Diese und ähnliche tarifvertragliche Regelungen bieten jedoch nur einen Anhaltspunkt für die Existenz von Tätigkeiten mit identischer Arbeits- und Schichtzeit, bei denen es möglich sein kann, die im Falle des Klägers erforderlichen Zwischenmahlzeiten einzunehmen. In welchem Umfange indes das der betrieblichen Praxis entspricht, bedarf noch näherer Feststellungen.

Das LSG wird die somit fehlenden Feststellungen nachzuholen haben. Zwar hat es angedeutet, zweifelhaft sei, ob der Kläger angesichts seiner vielfältigen Behinderungen und Einschränkungen der Leistungsfähigkeit überhaupt noch den Anforderungen genügen könne, die die von der Beklagten und dem SG genannten Verweisungstätigkeiten an ihn stellten. Da das Berufungsgericht diese Frage aber offen gelassen hat, kann der Senat auch nicht darüber befinden, ob der Kläger aus solchen Gründen erwerbsunfähig ist.

Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.5a RKn 18/83

Bundessozialgericht

Im Namen des Volkes

Urteil

 

Fundstellen

Dokument-Index HI518486

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