Beteiligte

Klägerin und Revisionsklägerin

Beklagte und Revisionsbeklagte

 

Tatbestand

I

Im Streit ist ein Anspruch auf die Gewährung einer sogenannten "Geschiedenen-Witwenrente" für die Zeit vom 1. März 1978 bis 25. April 1979.

Die Klägerin war mit dem am 25. Januar 1978 verstorbenen Detlef St… (im folgenden: Versicherter) verheiratet. Die Ehe wurde durch das am selben Tage rechtskräftig gewordene Urteil des Landgerichts (LG) Fulda vom 18. Juni 1976 aus beiderseitigem Verschulden der Eheleute geschieden.

Den Antrag der Klägerin vom 22. Februar 1978 auf Gewährung einer Hinterbliebenenrente lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 16. Juni 1978 ab, weil der Versicherte im letzten Jahr vor seinem Tode der Klägerin keinen Unterhalt gezahlt habe und angesichts seiner Einkom-mensverhältnisse auch nicht zur Zahlung eines Unterhaltsbeitrages nach § 60 des Ehegesetzes (EheG) verpflichtet gewesen sei. Wegen der Scheidung der Ehe aus beiderseitigem Verschulden habe den Versicherten zur Zeit seines Todes gemäß dem Urteil des Bundesso-zialgerichts (BSG) vom 28. Juni 1972 - 4 RJ 145/71 - (BSG SozR Nr. 63 zu § 1265 RVO) auch eine Unterhaltsverpflichtung im Sinne des § 1265 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) nicht getroffen. Der Bescheid vom 16. Juni 1978 wurde nach Zurückweisung des dagegen erhobenen Widerspruchs (Widerspruchsbescheid vom 31. Januar 1979) bindend.

Am 14. Oktober 1980 beantragte die Klägerin erneut die Gewährung einer Hinterbliebenenrente sowie die Überprüfung ihres früheren Rentenantrages. Mit Bescheid vom 18. Mai 1981 bewilligte ihr die Beklagte die Rente für die Zeit ab 1. November 1980. Den Wider-spruch der Klägerin leitete sie als Klage dem Sozialgericht (SG) Fulda zu.

Das SG hat die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 18. Mai 1981 verurteilt, der Klägerin auch für die Zeit vom 1. März 1978 bis zum 31. Oktober 1980 Geschiedenen-Witwenrente zu zahlen (Urteil vom 2. September 1982). Auf die zugelassene Berufung der Beklagten hat das Hessische Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG aufgehoben, soweit es die Beklagte zur Gewährung der Hinterbliebenenrente auch für die Zeit vom 1. März 1978 bis 25. April 1979 verpflichtet hat, und insoweit die Klage abgewiesen (Urteil vom 27. Oktober 1983). Zur Begründung hat das LSG im wesentlichen ausgeführt:

Aufgrund des bindenden Bescheides vom 16. Juni 1978 stehe zwischen den Beteiligten fest, daß der Klägerin für den allein noch streiti-gen Zeitraum vom 1. März 1978 bis 25. April 1979 ein Anspruch auf Hinterbliebenenrente nicht zustehe. Bezüglich dieses Zeitraums lägen die Voraussetzungen des § 44 Abs. 1 des Sozialgesetzbuchs, Zehntes Buch, Verwaltungsverfahren (SGB 10) vom 18. August 1980 (BGBl I S. 1469) für eine Rücknahme des Bescheides vom 16. Juni 1978 zugunsten der Klägerin mit Wirkung für die Vergangenheit nicht vor. Die Beklagte habe bei Erlaß des Bescheides das Recht nicht unrichtig angewendet. § 44 Abs. 1 SGB 10 müsse im Zusammenhang mit § 48 SGB 10 gesehen werden. Durch den Hinweis in dessen Abs. 2 Halbsatz 2 auf § 44 SGB 10 sei klargestellt, daß bei Verwaltungsakten mit Dauerwirkung zwar eine Aufhebung für die Vergangenheit in Betracht kommen könne, wenn der zuständige oberste Gerichtshof des Bundes in ständiger Rechtsprechung nachträglich das Recht anders auslege, als dies die Behörde bei Erlaß des Verwaltungsaktes getan habe. Grundsätzlich aber habe das Gesetz die Aufhebung lediglich für die Zukunft statuiert. Eine Aufhebung für die Vergangenheit komme ausnahmsweise in Betracht, wenn der nachträglich beanstandete Verwaltungsakt allein auf einer bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht gerichtlich überprüften Verwaltungspraxis beruhe oder wenn die Berufung auf die bei Erlaß des Verwaltungsaktes herrschende Rechtspre-chung rechtsmißbräuchlich wäre. Diese Voraussetzungen seien nicht erfüllt. Die im Bescheid vom 16. Juni 1978 vertretene Auffassung der Beklagten, den Versicherten habe zur Zeit seines Todes eine Unterhaltsverpflichtung im Sinne des § 1265 Satz 2 RVO nicht getroffen, habe auf einer gefestigten Rechtsprechung des BSG beruht. Sie sei erst mit dem Beschluß des Großen Senats (GS) des BSG vom 25. April 1979 (BSGE 48, 146 SozR 2200 § 1265 Nr. 41) aufgegeben worden. Wenn sich die Beklagte für die Zeit vorher auf die bisherige Rechtsprechung berufe, so könne dies nicht als rechtsmißbräuchlich angesehen werden. Sie habe damit nicht das Recht "unrichtig" angewendet.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung der § 44 Abs. 1 und § 48 SGB 10. Das LSG habe das Verhält-nis dieser beiden Vorschriften zueinander verkannt. Die Beklagte sei bei Erlaß des Bescheides vom 16. Juni 1978 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. Januar 1979 hinsichtlich der Auslegung des § 1265 RVO in Verbindung mit § 60 EheG von einer ande-ren als der durch den Beschluß des GS des BSG vom 25. April 1979 festgelegten rechtlichen Beurteilung ausgegangen. Dieser Beschluß habe nicht neues Recht gesetzt, sondern lediglich den seit dem 1. Januar 1973 geltenden § 1265 Satz 2 RVO ausgelegt und damit allein deklaratorische Bedeutung. Diese Änderung der Rechtsauffassung habe sich im übrigen bei Erlaß des angefochtenen Bescheides bereits abgezeichnet und müsse im damaligen Zeitpunkt schon weit im Vordringen gewesen sein. Durch die nunmehr feststehende Recht-sprechung des BSG sei die Rechtswidrigkeit der angefochtenen Bescheide nicht begründet worden, sondern lediglich erkennbar gewor-den. Entgegen der Auffassung des LSG könne in derartigen Fällen eine Aufhebung für die Vergangenheit nicht nur ausnahmsweise in Betracht kommen. Dem widerspreche die umfassende Verweisung auf § 44 in § 48 Abs. 2 Halbsatz 2 SGB 10. Insbesondere werde darin, worauf das LSG überhaupt nicht eingegangen sei, auch auf § 44 Abs. 2 SGB 10 verwiesen. Er verpflichte die Behörde sogar in den Fällen, in denen die strengen Kriterien des Abs. 1 der Vorschrift nicht vorlägen, nach pflichtgemäßem Ermessen darüber zu entscheiden, ob eine Rücknahme auch für Vergangenheit zu erfolgen habe. Insofern komme im vorliegenden Fall wiederum dem Umstand Bedeutung zu, daß sich im Zeitpunkt des Erlasses des ursprünglichen Bescheides bereits eine Änderung der Rechtsauffassung abgezeichnet habe, welche die Beklagte hätte berücksichtigen müssen.

Die Klägerin beantragt, das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 27. Oktober 1983 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Fulda vom 2. September 1982 zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt, die Revision der Klägerin zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und ist insbesondere der Meinung, sie habe bei Erlaß des Bescheides vom 16. Juni 1978 nicht das Recht unrichtig angewendet.

II

Die durch Zulassung statthafte Revision der Klägerin ist zulässig und begründet.

Gegenstand des Rechtsstreits in der Revisionsinstanz ist der Anspruch der Klägerin auf Gewährung einer Geschiedenen-Witwenrente allein noch für die Zeit vom 1. März 1978 bis 25. April 1979. Soweit das SG die Beklagte zur Gewährung der Rente auch für die anschlies-sende Zeit vom 26. April 1979 bis 31. Oktober 1980 verurteilt hat, ist das Urteil von der Beklagten schon mit der Berufung nicht angefoch-ten worden und damit in Rechtskraft erwachsen (§ 141 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

Rechtsgrundlage des von der Klägerin erhobenen Anspruchs ist, wovon das LSG zutreffend ausgegangen ist, § 44 Abs. 1 SGB 10. Zwar ist diese Vorschrift, worauf an anderer Stelle einzugehen sein wird, im Zusammenhang mit § 48 SGB 10 zu sehen. Er kommt jedoch als Rechtsgrundlage des Anspruchs der Klägerin nicht in Betracht.

Nach § 48 Abs. 1 SGB 10 ist, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlaß eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft und unter bestimmten Voraussetzungen mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufzuheben. Der Verwaltungsakt ist im Einzelfall mit Wirkung für die Zukunft auch dann aufzuheben, wenn der zuständige oberste Gerichtshof des Bundes in ständiger Rechtsprechung nachträglich das Recht anders auslegt als die Behörde bei Erlaß des Verwaltungsaktes und sich dieses zugunsten des Berechtigten auswirkt; § 44 SGB 10 bleibt unberührt (§ 48 Abs. 2 SGB 10). § 48 SGB 10 enthält damit eine gegenüber §§ 44 bis 47 SGB 10 gesonderte und zusätzliche Aufhebungsregelung speziell und ausschließlich für Verwaltungsakte mit Dauerwirkung. Nach dem Urteil des erkennenden Senats vom 16. Februar 1984 (BSG SozR 1300 § 45 Nr. 6 S. 15 ff) ist es zur Begründung einer "Dauerwirkung" des Verwaltungsaktes nicht erforderlich, daß dieser zumindest für eine gewisse Dauer tatsächliche Wirkungen etwa in Form der faktischen Erbringung von Rentenleistungen hat. Vielmehr ist insoweit allein auf die rechtlichen Wirkungen des Verwaltungsaktes abzustellen und ihm bereits dann Dauerwirkung beizule-gen, wenn er in rechtlicher Hinsicht über den Zeitpunkt seiner Bekanntgabe bzw. Bindungswirkung hinaus Wirkungen zeitigt. Demnach hat Dauerwirkung auch der Verwaltungsakt, dessen rechtliche Wirkungen sich über eine einmalige Gestaltung der Rechtslage hinaus auf eine gewisse zeitliche Dauer erstrecken (dem folgend Urteil vom 14. Juni 1984 - 10 RKg 5/83 -).

Das Urteil vom 16. Februar 1984 ist - weniger wegen seines rechtlichen Ansatzpunktes als vielmehr insbesondere wegen der daraus her-geleiteten Entscheidung des Senats, ein Bescheid über die Vormerkung einer Ersatzzeit sei ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung - im Schrifttum von Francke (RV 1984, 141 ff) und von Thelen (DAngVers 1984, 381 ff) kritisiert worden (zustimmend hingegen Tannen DRV 1984, 470, 474). Nach Auffassung Franckes ist der entscheidende Gesichtspunkt bei der Abgrenzung des Verwaltungsaktes mit Dauer-wirkung zum Verwaltungsakt ohne Dauerwirkung, daß ersterer darauf zielen müsse, tatsächliche oder rechtliche Folgen zu wiederholen. Aufgrund eines Verwaltungsaktes ohne Dauerwirkung "geschehe" in Form einer tatsächlichen oder/und rechtlichen Folge nur einmal etwas, und nur dieses "einmalige Geschehen" sei auch beabsichtigt. Mit dem Erlaß des Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung hingegen müsse beabsichtigt sein, ein "mehrmaliges Geschehen" in Form einer tatsächlichen oder rechtlichen Folge eintreten zu lassen, wobei es nicht darauf ankomme, ob diese Folgen auch wirklich eintreten (aaO, S. 143). Nach Meinung Thelens hat im Bereich des Rentenversiche-rungsrechts Dauerwirkung derjenige Verwaltungsakt, der darauf gerichtet ist, zukünftige wiederkehrende Leistungen des Leistungsträgers oder Entrichtung oder Befreiung von Beiträgen unmittelbar zu regeln (aaO, S. 385).

Eine Auseinandersetzung mit diesen unter sich teilweise divergierenden Einwendungen ist hier nicht erforderlich. Die Beteiligten des vor-liegenden Rechtsstreits streiten nicht um die Aufhebung eines Bescheides über die Vormerkung einer Versicherungszeit. Die Klägerin begehrt vielmehr die (vollständige) Aufhebung des Bescheides vom 16. Juni 1978 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. Januar 1979. Mit diesen Bescheiden ist ihr Antrag auf Gewährung einer Hinterbliebenenrente abgelehnt worden. Der Bescheid über die Ablehnung einer Leistungsgewährung kann aber sowohl auf der Grundlage des Urteils des Senats vom 16. Februar 1984 als auch unter Berücksichtigung der dagegen von Francke und Thelen vorgebrachten Einwendungen nicht als Verwaltungsakt mit Dauerwirkung angese-hen werden. Zwar steht spätestens mit dem Eintritt der Bindungswirkung eines Rentenablehnungsbescheides (§ 77 SGG) nicht nur für den Zeitpunkt seines Erlasses, sondern auch für die folgende Zeit zwischen den Beteiligten fest, daß dem Antragsteller die begehrte Leistung nicht zusteht. Das ist jedoch allein das Ergebnis der Bindungswirkung des ablehnenden Bescheides und vermag eine davon zu unter-scheidende Dauerwirkung (vgl. Senat in BSG SozR 1300 § 45 Nr. 6 S. 18) nicht zu begründen. Hierfür ist entscheidend, daß mit der Ablehnung eines Rentenantrages die Rechtslage im Verhältnis zwischen Antragsteller und Leistungsträger einmalig gestaltet und das Bestehen eines Leistungsrechtsverhältnisses mit sich daraus zumindest für eine gewisse Dauer ergebenden rechtlichen oder tatsächli-chen Wirkungen gerade verneint wird (vgl. auch Wiesner bei Schroeder - Printzen u.a., Sozialgesetzbuch, Verwaltungsverfahren - SGB X, 1981, § 48 Anm. 2). Der Verwaltungsakt, dessen Aufhebung die Klägerin auch für die Zeit vom 1. März 1978 bis 25. April 1979 begehrt, hat somit keine Dauerwirkung gehabt. Allein diesem Umstand schließt eine Heranziehung des § 48 SBB 10 zwar nicht zur Auslegung des § 44 SGB 10, wohl aber als unmittelbare Rechtsgrundlage einer Aufhebung des Bescheides vom 16. Juni 1978 aus. Angesichts dessen kann vorerst an dieser Stelle auf sich beruhen, was unter einer "nachträglichen anderen Auslegung des Rechts" im Sinne des § 48 Abs. 2 SGB 10 zu verstehen und ob in diesem Sinne durch den Beschluß des GS des BSG vom 25. April 1979 nachträglich das Recht anders ausgelegt worden ist.

Als Rechtsgrundlagen für die von der Klägerin erstrebte vollständige Aufhebung des Bescheides vom 16. Juni 1978 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. Januar 1979 kommen damit - zunächst unter Außerachtlassung der Frage, ob die Bescheide rechts-widrig oder rechtmäßig gewesen sind - lediglich § 44 oder § 46 SGB 10 - in Betracht. Letztere Vorschrift stützt jedoch das Begehren der Klägerin von vornherein nicht. Nach dieser Bestimmung kann ein rechtmäßiger nicht begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft widerrufen werden, außer wenn ein Verwaltungsakt gleichen Inhalts erneut erlassen werden müßte oder aus anderen Gründen ein Widerruf unzulässig ist. Die Klägerin begehrt eine Aufhebung des ablehnenden Bescheides vom 16. Juni 1978 nicht nur mit Wirkung für die Zukunft. Ihr Klageziel insbesondere in der Revisionsinstanz ist vielmehr ausschließlich auf die Aufhebung für die Zeit vor der erneuten Antragstellung am 14. Oktober 1980 und damit gerade für die Vergangenheit gerichtet. Für eine solche rückwirkende Aufhebung eines nicht begünstigenden Verwaltungsaktes findet sich eine Rechts-grundlage lediglich in § 44 SGB 10.

Nach dieser Vorschrift ist, soweit sich im Einzelfall ergibt, daß bei Erlaß eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen (§ 44 Abs. 1 Satz 1 SGB 10). Im übrigen ist ein rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen. Er kann auch für die Vergangen-heit zurückgenommen werden (§ 44 Abs. 2 SGB 10).

Die Voraussetzungen einer Rücknahme des Bescheides vom 16. Juni 1978 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 31. Januar 1979 mit Wirkung für die Vergangenheit nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB 10 sind erfüllt. Die Beklagte hat bei Erlaß dieser Bescheide das Recht unrichtig angewandt und deswegen der Klägerin in der allein noch streitigen Zeit vom 1. März 1978 bis 25. April 1979 Sozialleistun-gen in Gestalt der Geschiedenen-Witwenrente zu Unrecht nicht erbracht. Die unrichtige Rechtsanwendung hat darin bestanden, daß die Beklagte unter Hinweis auf die Scheidung der Ehe der Klägerin aus beiderseitigem Verschulden die Voraussetzungen des § 1265 Satz 2 RVO für eine Unterhaltsverpflichtung des Versicherten zur Zeit seines Todes verneint hat. Das widerspricht dem Beschluß des GS des BSG vom 25. April 1979 (BSGE 48, 146 = SozR 2200 § 1265 Nr. 41). Danach ist die Unterhaltsbeitragspflicht des Versicherten gegen-über seiner früheren, von ihm gleichschuldig geschiedenen Ehefrau nach § 60 EheG eine Unterhaltsverpflichtung im Sinne des § 1265 Satz 2 RVO.

Der Widerspruch der einem Verwaltungsakt zugrunde gelegten Rechtsauffassung zu einer höchstrichterlichen Rechtsprechung begründet im Sinne des § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB 10 eine Unrichtigkeit der Rechtsanwendung. Das ist, soweit ersichtlich, unbestritten für den Fall, daß die höchstrichterliche Rechtsprechung bei Erlaß des Verwaltungsaktes bereits vorgelegen hat und von der Verwaltungsbehörde bewußt oder unbewußt nicht berücksichtigt worden ist. Aber auch eine erst nach Erlaß des Verwaltungsaktes erstmals gebildete oder - worauf es im vorliegenden Fall allein ankommt - geänderte ständige höchstrichterliche Rechtsprechung kann zur Unrichtigkeit des vorher erlassenen und der (geänderten) ständigen Rechtsprechung widersprechenden Verwaltungsaktes führen. Das ergibt sich aus dem Zusammenhang zwischen § 44 Abs. 1 und § 48 Abs. 2 SGB 10. Allerdings werden für die hier zu entscheidende Frage, wann eine geän-derte ständige höchstrichterliche Rechtsprechung zur Unrichtigkeit eines bereits vorher erlassenen Verwaltungsaktes führt, der Zusam-menhang zwischen § 44 Abs. 1 und § 48 Abs. 2 SGB 10 und insbesondere Sinn und Anwendungsbereich des Halbsatzes 2 der letzteren Vorschrift, wonach § 44 SGB 10 unberührt bleibt, unterschiedlich beurteilt. Der 5a-Senat des BSG hat sich in seinem Urteil vom 20. April 1983 (BSGE 55, 87, 89 = SozR 1300 § 44 Nr. 4 S 12 f) auf die dem Gesetzestext entsprechende Aussage beschränkt, die Regelung des § 48 Abs. 2 SGB 10, die den einer Änderung der Verhältnisse gleichgestellten Fall einer von der Rechtsauslegung der Behörde bei Erlaß des Verwaltungsaktes abweichenden nachträglichen Rechtsauslegung durch die ständige Rechtsprechung des zuständigen obersten Gerichtshofes des Bundes betreffe, beseitige nicht die Pflicht, den unanfechtbar gewordenen Verwaltungsakt gemäß § 44 Abs. 1 SGB 10 für die Vergangenheit zurückzunehmen, wenn bei Erlaß des Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewendet worden sei. Ähnlich meinen Eicher/Haase/Rauschenbach (Die Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten, 7. Aufl., Stand: März 1984, § 48 SGB 10, Anm. 4), § 48 Abs. 2 Halbsatz 2 SGB 10 begründe eine Verpflichtung des Versicherungsträgers zur rückwirkenden Aufhebung des Verwaltungsaktes, wenn die Voraussetzungen des § 44 Abs. 1 SGB 10 gegeben seien. Nach Wiesner (aaO, § 48, Anm. 4 a.E.) bedeutet die Verweisung des § 48 Abs. 2 auf § 44 Abs. 1 SGB 10, daß die Verwaltung prüfen müsse, ob der Verwaltungsakt nicht nach § 44 Abs. 1 SGB 10 auch für die Vergangenheit aufzuheben sei. Der 11. Senat des BSG hat in seinem Urteil vom 25. Oktober 1984 - 11 RAz 3/83 - unbeantwortet gelassen, welcher Anwendungsbereich dem nach Inkrafttreten des SGB 10 zweitrangig gewordenen § 48 Abs. 2 SGB 10 sinnvoll verbleibe. Jedenfalls sei davon auszugehen, daß nach dem Willen des Gesetzgebers § 44 neben § 48 SGB 10 anwendbar sein und der Anwendungsbereich des § 44 Abs. 1 SGB 10 nicht durch § 48 Abs. 2 SGB 10 geschmälert werden solle. Wesentlich sei für § 44 SGB 10 nur, ob der Verwaltungsakt bei der Entscheidung über die Anwendung der Vorschrift als rechtswidrig anzusehen sei. Dabei sei gleichgültig, woraus die Erkenntnis der Rechtswidrigkeit gewonnen werden. § 44 Abs. 1 SGB 10 greife deshalb auch ein, wenn eine - erstmalige oder geänderte - sozialgerichtliche Rechtsprechung die Basis dieser Erkenntnis sei. Im Gegensatz dazu wird im Verbands-kommentar (Kommentar zum Recht der Gesetzlichen Rentenversicherung, herausgegeben vom Verband Deutscher Rentenversicherungs-träger, § 48 SGB 10, Stand: 1. Juli 1983, Anm. 19) die Ansicht vertreten, die Frage, ob eine Änderung der ständigen Rechtsprechung zugunsten des Versicherten den Verwaltungsakt auch für die Vergangenheit rechtswidrig mache mit der Folge, daß er ex tunc nach § 44 SGB 10 aufzuheben wäre, sei grundsätzlich zu verneinen. Lediglich in besonders gelagerten Einzelfällen, wenn eine Berufung auf die bei Erlaß des Verwaltungsaktes vorhandene Rechtsprechung rechtsmißbräuchlich wäre, könne im Einzelfall eine Aufhebung für die Vergan-genheit in Betracht kommen. Es erscheine nicht gerechtfertigt, von einer unrichtigen Anwendung des geltenden Rechts bei Erlaß des Ver-waltungsaktes zu sprechen, wenn die Behörde ihre Entscheidung auf der Grundlage der durch die höchstrichterliche Rechtsprechung verbindlich festgelegten Auslegung des Gesetzes getroffen habe. Dies folge auch aus der Regelung des § 48 Abs. 2 SGB 10 selbst, wenn dort lediglich die Verpflichtung zur Aufhebung für die Zukunft verlangt werde. Wäre grundsätzlich auch eine Aufhebung ex tunc gewollt, dann hätte dies hier seinen Ausdruck finden müssen. Eine differenzierende Ansicht vertreten Hauck/Haines/Vöcking (SGB X/1, 2, K § 44, Rdz. 9): Eine Beurteilung des Bescheides im Lichte einer eventuell geläuterten Rechtsauffassung (ex post) sei vor allem dann angebracht, wenn sich eine höchstrichterliche Rechtsprechung erst nach Unanfechtbarkeit des ersten Bescheides gebildet habe. In einem solchen Fall bringe die Rechtsprechung in ihrem Bestreben, allgemeine Rechtsgrundsätze zu entwickeln, das zum Ausdruck, was aufgrund der Norm bereits in der Vergangenheit gegolten habe, aber nicht beachtet worden sei. Für einen Wandel der Rechtsprechung gelte dies nicht uneingeschränkt. Da die Änderung der Rechtsprechung nicht allein die Korrektur früherer Entscheidungen bedeuten müsse, sondern auch unter Umständen veränderten sozialen oder rechtlichen Anschauungen Rechnung tragen wolle, sei im Einzelfall zu prüfen, ob eine Ände-rung der Rechtsprechung Folgen haben solle bzw. könne für eine Entscheidung, die im Rahmen und zur Zeit anderer sozialer oder sozial-rechtlicher Verhältnisse gewirkt habe. Dies ergebe sich auch aus § 48 Abs. 2 Halbsatz 2 SGB 10. Unbeschadet der danach aus einem Wandel der höchstrichterlichen Rechtsprechung in jedem Fall resultierenden Pflicht zur Aufhebung des Bescheides für die Zukunft bleibe, die Änderung der Rechtsprechung als so weitgreifend aufzufassen, daß sie einen Bescheid auch für die Vergangenheit erfasse und zu einer Änderung in der Beurteilung der zunächst angenommenen Rechtmäßigkeit führe. Daher sei eine Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung stets eingehender zu würdigen als eine Änderung des positiven Rechts, die nur bei einer mit rückwirkender Kraft ausgestatteten Rechtsänderung zur Rechtswidrigkeit früherer rechtmäßiger Bescheide führe.

Der Senat hält diese Ansicht über den Zusammenhang zwischen § 44 Abs. 1 und § 48 Abs. 2 SGB 10 für überzeugend. Sie trägt insbe-sondere dem Umstand Rechnung, daß der Gesetzgeber der nachträglichen Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung ersichtlich in zweifacher Hinsicht Bedeutung beigemessen hat: Einmal ist sie durch § 48 Abs. 2 Halbsatz 1 SGB 10 - allerdings nur für Verwaltungsakte mit Dauerwirkung - einer wesentlichen Änderung der rechtlichen Verhältnisse im Sinne des Abs. 1 der Vorschrift mit der Folge gleichgestellt worden, daß der auf der bisherigen Rechtsauslegung beruhende Verwaltungsakt nicht schon vom Zeitpunkt seines Erlasses an rechtswidrig gewesen, sondern dies erst durch die Änderung der Rechtsprechung geworden und deswegen lediglich mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben ist. Zum anderen ist dadurch, daß nach § 48 Abs. 2 Halbsatz 2 SGB 10 § 44 des Gesetzes unberührt bleibt, zum Ausdruck gebracht worden, daß eine nachträgliche Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung auch zur ursprünglichen Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsaktes führen kann und er dann unter den weiteren Voraussetzungen des § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB 10 mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen ist. Für die Abgrenzung dieser beiden Fälle voneinander, d.h. für die Frage, wann eine nachträgliche Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung einer lediglich in die Zukunft wirkenden Änderung der rechtlichen Verhält-nisse gleichsteht und wann sie in die Zeit vor ihrer Bildung zurückwirkt und zur Rechtswidrigkeit auch der während dieser Zeit erlassenen nicht begünstigenden Verwaltungsakte führt, sind dem Gesetz selbst entscheidende Kriterien nicht zu entnehmen. Einen sachgerechten Anhaltspunkt für diese Abgrenzung bietet indes die Begründung für die nachträgliche Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung. Beruht sie ohne eine zwischenzeitliche Änderung der maßgebenden Rechtsgrundlagen und der ihnen zugrunde liegenden rechtlichen und sozialen Erwägungen auf einer anderen Auslegung der einschlägigen Vorschriften in der Erkenntnis, daß die bisherige Rechtsprechung - im wertungsfrei technischen Sinne - "unrichtig" gewesen ist, so erfaßt eine solcherart begründete geänderte Rechtsprechung auch die zurückliegende Zeit und führt zu einer "ursprünglichen Rechtswidrigkeit" der auf der Grundlage der bisherigen Rechtsprechung erlassenen nicht begünstigenden Verwaltungsakte im Sinne des § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB 10. Beruht die nachträgliche Änderung der höchstrichterli-chen Rechtsprechung hingegen auf einer Änderung ihrer rechtlichen Grundlagen oder der bei ihrer Schaffung geltenden sozialen, soziolo-gischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten und Anschauungen, so kann ihr Wirkung nur für die Zukunft beigemessen und sie lediglich im Sinne des § 48 Abs. 2 Halbsatz 1 in Verbindung mit Abs. 1 Satz 1 SGB 10 als eine Änderung der rechtlichen Verhältnisse angesehen werden. Der Senat verkennt nicht, daß die Abgrenzung im Einzelfall zu erheblichen Schwierigkeiten führen kann. Andererseits ist zu berük-ksichtigen, daß nach ständiger Judikatur des BSG der Stetigkeit der Rechtsprechung großes Gewicht beizumessen ist und ein oberster Gerichtshof des Bundes davon nicht abweichen sollte, wenn nicht schwerwiegende Gründe dafür sprechen (BSGE 40, 292, 296 SozR 5050 § 16 Nr. 9 S. 10; BSG SozR 2200 § 562 Nr. 4 S. 3). Angesichts dessen kann gerade bei der Aufgabe einer bisherigen Rechtspre-chung mit einer besonders eingehenden Begründung gerechnet werden und es damit jedenfalls nicht unüberwindbaren Schwierigkeiten begegnen, diese Begründung insbesondere daraufhin zu analysieren, ob die Änderung der Rechtsprechung auch die zurückliegende Zeit erfaßt oder Wirkung lediglich für die Zukunft entfaltet.

Der Senat vermag nach alledem bezüglich des Verhältnisses zwischen § 48 Abs. 2 und § 44 SGB 10 der im Verbandskommentar (aaO) vertretenen Ansicht nicht zu folgen. Dafür, daß im Falle einer nachträglichen Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung die Aufhe-bung des Verwaltungsaktes mit Wirkung für die Zukunft die Regel und seine Rücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit die Ausnahme ist, sind dem Gesetz hinreichende Anhaltspunkte nicht zu entnehmen. Vielmehr deutet die Formulierung des § 48 Abs. 2 Halbsatz 2 SGB 10 auf eine generelle Gleichwertigkeit beider Aufhebungsmöglichkeiten ohne eine bestimmte Rangfolge und damit auf eine Abgrenzung allein nach sachlichen Kriterien hin. Mit dieser Meinung weicht der erkennende Senat nicht vom Urteil des 11. Senats vom 25. Oktober 1984 - 11 RQ 3/83 - ab. Er ist deswegen nicht gemäß § 42 SGG zur Anrufung des GS des BSG verpflichtet. Unter Zugrundelegung der Rechtsauffassung des 11. Senats könnte die Klägerin die Rücknahme des Bescheides vom 16. Juni 1978 in der Gestalt des Wider-spruchsbescheides vom 31. Januar 1979 auch für die noch streitige Zeit vom 1. März 1978 bis 25. April 1979 verlangen. Denselben Anspruch hat sie auf der Grundlage der Ansicht des erkennenden Senats.

Die nachträgliche Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung durch den Beschluß des GS vom 25. April 1979 (BSGE 48, 146 = SozR 2200 § 1265 Nr. 41) hat ohne eine Änderung der maßgebenden Rechtsgrundlagen (insbesondere § 1265 Satz 2 RVO und § 60 EheG) und der ihnen zugrunde liegenden rechtlichen und sozialen Erwägungen ersichtlich der Korrektur der entgegenstehenden Rechtsprechung eines Senats des BSG gedient. Dies ergibt sich bereits in verfahrensrechtlicher Hinsicht daraus, daß der GS aufgrund einer Divergenzvorlage (§ 42 SGG) entschieden hat (BSGE aaO, S. 151) und diese Vorlage ihrer prozessualen Bestimmung gemäß auf eine Korrektur der nach Meinung des vorlegenden Senats nicht zutreffenden Rechtsauffassung eines anderen Senats gerichtet ist. In sachlich - rechtlicher Hinsicht hat der GS seine Entscheidung, daß die Pflicht zum Unterhaltsbeitrag nach § 60 EheG eine Unterhaltsver-pflichtung im Sinne des § 1265 Satz 2 Nr. 1 RVO ist, unter eingehender Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung dieses anderen Senats (BSGE aaO, S. 152 f, 157 f, 158 f) und in Anknüpfung an die bisherige Rechtsprechung zu § 1265 RVO, welche dem Unterhalt nach den ehegesetzlichen Vorschriften den Unterhaltsbeitrag nach § 60 EheG untergeordnet hat (BSGE aaO S. 154), getroffen und damit die bisher entgegenstehende Rechtsprechung des angefragten Senats nicht gebilligt. Verfahrensrechtlicher Anlaß und sachliche Begrün-dung des Beschlusses lassen damit die Feststellung zu, daß auf die auf der entgegenstehenden Rechtsauffassung beruhenden Verwal-tungsakte im Sinne des § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB 10 bereits bei Ihrem Erlaß das Recht unrichtig angewandt worden ist und sie, soweit deshalb u.a. Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen sind.

Die Beklagte hat nach alledem auch für die noch streitige Zeit vom 1. März 1978 bis 25. April 1979 den ablehnenden Bescheid vom 16. Juni 1978 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. Januar 1979 zurückzunehmen und der Klägerin Geschiedenen Witwenrente zu gewähren. Das hat das SG zutreffend erkannt. Sein Urteil ist daher unter Aufhebung des Urteils des LSG auch hinsichtlich des von der Beklagten mit der Berufung angefochtenen Teiles wiederherzustellen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 SGG.1 RJ 2/84

Bundessozialgericht

Verkündet am

30. Januar 1985

 

Fundstellen

BSGE, 27

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