Entscheidungsstichwort (Thema)

Mutter-Kind-Kursus

 

Leitsatz (amtlich)

Die Schulung der Mutter zur Durchführung der späteren häuslichen Übungsbehandlung ihres spastisch gelähmten Kindes kann eine Leistung der Krankenhilfe (RVO § 182 Abs 1), eine ergänzende Leistung iS von RVO § 193 Nr 2 oder eine zusätzliche Leistung der RV nach RKG § 97 (= RVO § 1305) sein.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Die Krankenkasse hat die Kosten für einen Mutter-Kind-Kursus - stationäre Behandlung des Kindes in Anwesenheit der Mutter, die dabei in der richtigen Behandlung und Pflege des Kindes unterwiesen und angeleitet wird, die krankengymnastische, beschäftigungstherapeutische und eventuell auch sprachtherapeutische Beübung des Kindes selbständig zu übernehmen - zu tragen, wenn damit die Schulung der Mutter dergestalt ermöglicht wird, daß diese zur Entlastung der Krankenkasse eine fachgerechte Behandlung des Kindes durchführen kann.

War in einem solchen Fall die stationäre Behandlung des Kindes nicht erforderlich, sondern nur notwendiger Bestandteil der Schulung der Mutter, kann diese Schulung nicht als ergänzende Leistung iS des RVO § 193 Nr 2 zur stationären Behandlung des Kindes, sondern als untrennbare Einheit und damit als Leistung in Betracht kommen, die nach RVO § 184a als Ganzes unmittelbar dem Kind zugewandt wurde.

2. Hat die Schulung der Mutter lediglich anläßlich einer ohnehin notwendigen stationären Behandlung des Kindes stattgefunden, so handelt es sich um eine ergänzende Leistung iS des RVO § 193 Nr 2. Das scheitert nicht daran, daß die Leistung nicht unmittelbar dem erkrankten Kind, sondern der gesunden Mutter zugewandt worden ist. Bei der gebotenen extensiven Auslegung dieser Vorschrift können zu den ergänzenden Leistungen auch Leistungen gehören, die nur mittelbar dem Erkrankten zugute kommen, weil die unmittelbare Gewährung an den Erkrankten nicht möglich und die Mitwirkung eines anderen notwendig ist.

 

Normenkette

RKG § 97 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1974-08-07; RVO § 1305 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1974-08-07, § 182 Abs. 1 Fassung: 1974-08-07, § 184a Fassung: 1974-08-07, § 193 Nr. 2 Fassung: 1974-08-07; RehaAnglG § 12 Nr. 7 Fassung: 1974-08-07, § 20 Fassung: 1974-08-07

 

Verfahrensgang

SG Münster (Entscheidung vom 06.10.1976; Aktenzeichen S 7 Kn 70/75)

 

Tenor

Auf die Sprungrevision des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 6. Oktober 1976 aufgehoben; der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob die beklagte Bundesknappschaft dem klagenden Landschaftsverband Aufwendungen für die Durchführung eines Mutter-Kind-Kursus zu ersetzen hat.

Die am 27. März 1973 geborene Tochter Marion des versicherten Beigeladenen leidet an einer cerebralen Bewegungsstörung (spastische Lähmung). In der Zeit vom 25. Mai bis zum 14. Juni 1975 wurde im H Haus in M auf ärztliche Empfehlung ein Mutter-Kind-Kursus durchgeführt. Während des stationären Aufenthaltes der Tochter und der Ehefrau des Versicherten wurde eine spezielle Behandlung des Kindes durchgeführt und die Mutter in der richtigen Behandlung und Pflege ihres Kindes unterwiesen sowie angeleitet, die krankengymnastische, beschäftigungstherapeutische und sprachtherapeutische Übungsbehandlung ihres Kindes selbständig durchzuführen. Die Beklagte übernahm die Kosten für die stationäre Aufnahme des Kindes, lehnte aber den Ersatz der Kosten ab, die der Kläger für die Ehefrau des Versicherten in Höhe von 850,- DM aufgewendet hatte.

Das Sozialgericht (SG) hat mit Urteil vom 6. Oktober 1976 die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt, die Beklagte sei zum Ersatz der vom Kläger aufgewendeten Kosten für die Ehefrau des Versicherten nach § 109 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) iVm § 1531 der Reichsversicherungsordnung (RVO) nicht verpflichtet. Der beigeladene Versicherte habe gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Durchführung einer solchen Schulungsmaßnahme für seine Ehefrau gehabt. Nach § 193 Nr 2 RVO, der als einzige Anspruchsgrundlage in Betracht komme, müsse es sich um eine ergänzende Leistung zur Rehabilitation handeln, die unmittelbar dem Erkrankten zu gewähren sei. Aus der Ausgestaltung des Versicherungsverhältnisses ergebe sich, daß Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung nur dem Erkrankten wegen seiner Erkrankung gewährt würden, um die Erkrankung zu heilen oder ihre Auswirkungen zu bessern. Der stationäre Aufenthalt der Ehefrau des Versicherten habe nicht unmittelbar der Behandlung des Kindes, sondern der Ausbildung der Mutter zur späteren Behandlung des Kindes gedient. Solche nur mittelbar dem Erkrankten zugute kommenden Leistungen seien vom Träger der gesetzlichen Krankenversicherung nur dann zu übernehmen, wenn der Gesetzgeber dies - wie in § 185, § 185 c, § 194 RVO - ausdrücklich bestimmt habe. Auch aus den §§ 10, 12 und 20 des Rehabilitationsangleichungsgesetzes (RehaAnglG) ergäben sich keine anderen Gesichtspunkte. Die Kosten für die stationäre Ausbildung der Mutter ließen sich unter die ergänzenden Leistungen der §§ 12, 20 RehaAnglG nicht einordnen.

Der Kläger hat dieses Urteil mit der - vom SG zugelassenen-Sprungrevision angefochten. Er ist der Ansicht, die Beklagte habe als Träger der Krankenversicherung als ergänzende Leistung im Sinne des § 193 Nr 2 RVO auch solche Leistungen zu erbringen, die anläßlich des Mutter-Kind-Kursus für die stationäre Unterbringung der Ehefrau des beigeladenen Versicherten erforderlich waren, um das Ziel der Rehabilitation zu erreichen oder zu sichern. Das SG habe die Leistung zu Unrecht auf die unmittelbare Gewährung in der Person des Erkrankten beschränkt und den Willen des Gesetzgebers nicht hinreichend berücksichtigt. Ziel der medizinischen Rehabilitation sei es, eine Besserung der bestehenden Krankheit oder Behinderung zu erreichen und noch schwereren Schäden vorzubeugen. Das Training zur Selbsthilfe des Kindes auf Verbesserung der Hand- und Fingerfertigkeit, Aufhebung der Störungen der Sinneswahrnehmungen und Förderung der geistigen Leistungsfähigkeit sei ein wesentlicher Bestandteil des Therapieprogramms neben Saug-, Kau-, Schluck-, Atem- und Sprachtherapie. Das Therapieprogramm setze eine intensive, kontinuierliche Hilfestellung voraus. Die Hilfestellung vollziehe sich im Rahmen der täglich wiederkehrenden Fertigkeiten, Handhabungen und Bedürfnislagen. Das Ziel der Verselbständigung, das Unabhängigwerden von den krankheitsbedingten Einschränkungen, sei - schon bedingt durch das Kindesalter - nur durch die aktive Unterstützung und Hilfereichung Dritter, insbesondere der Mutter zu erreichen.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts aufzuheben und die Beklagte für verpflichtet zu erklären, dem Kläger die Kosten zu erstatten, die er im Zusammenhang mit der Mutter-Kind-Schulung im H Haus vom 25. Mai bis zum 14. Juni 1975 für die Mutter G B geleistet hat.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für richtig und ist der Ansicht, die Sprungrevision des Klägers sei unbegründet.

Der Beigeladene ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Sprungrevision des Klägers hat insofern Erfolg, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit zurückverwiesen wird. Die festgestellten Tatsachen reichen zur abschließenden Entscheidung nicht aus.

Nach § 109 RKG iVm § 1531 RVO kann der Kläger von der Beklagten Ersatz seiner Aufwendungen verlangen, wenn der Versicherte gegen die Beklagte als Träger der Krankenversicherung oder als Träger der Rentenversicherung einen Anspruch auf Durchführung des Mutter-Kind-Kursus hatte. Dabei ist als Anspruch im Sinne dieser Vorschriften nicht nur der echte Rechtsanspruch auf die Leistung zu verstehen. Vielmehr kann die im Ermessen des Versicherungsträgers stehende Leistung den Ersatzanspruch des Sozialhilfeträgers dann begründen, wenn der Versicherungsträger sein Ermessen positiv ausgeübt hat oder hätte ausüben müssen (vgl BSG SozR 2200 Nr 5 zu § 187).

Nach § 20 RKG iVm § 205 RVO hatte der beigeladene Versicherte für sein erkranktes Kind einen Anspruch auf Familienhilfe, insbesondere auf Krankenhilfe und sonstige Hilfen im gleichen Umfang wie das Gesetz sie für Versicherte vorsieht. Zweifelhaft ist allerdings, ob die streitige Leistung - der Mutter-Kind-Kursus - unter die vom Gesetz vorgesehenen Leistungen einzuordnen ist. Das SG ist zu Unrecht davon ausgegangen, als Anspruchsgrundlage komme allein § 193 Nr 2 RVO in Betracht.

Der 3. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) hat zwar entschieden, daß die Ausbildung einer Mutter im Krankenhaus zur späteren sachgemäßen Überwachung der Übungsbehandlung ihres Kindes nicht zur Krankenhilfe im Sinne des § 182 RVO gehört (BSGE 28, 253). Diese Entscheidung, die zu § 182 in der vor dem 1. Oktober 1974 gültig gewesenen Fassung ergangen ist, konnte die Änderungen dieser Vorschrift und die Einfügung anderer Vorschriften, insbesondere des § 184 a und des § 193 Nr 2 RVO durch das RehAnglG und den in diesem Gesetz zum Ausdruck kommenden allgemeinen Willen des Gesetzgebers nicht berücksichtigen. In § 182 Abs 1 RVO in der Fassung des RehaAnglG ist der Katalog der Krankenpflege erweitert worden und im Gegensatz zur früheren Fassung durch das Wort "insbesondere" zum Ausdruck gebracht worden, daß die Aufzählung nur beispielhaft ist und eine Ergänzung durch andere Leistungen, die ihrer Art nach der Krankenpflege zuzurechnen sind, nicht ausschließt. Die Änderung dieser Vorschrift sowie die Einfügung des § 184a und des § 193 Nr 2 RVO, zu deren Auslegung auch die §§ 12 und 20 RehaAnglG herangezogen werden können zeigt deutlich, daß der Gesetzgeber dem Erkrankten jede denkbare Hilfe zukommen lassen will, die erforderlich ist, die Krankheit zu heilen, zu bessern oder zu lindern. Der 3. Senat des BSG hat bereits vor Inkrafttreten des RehaAnglG entschieden, daß Krankenhauspflege durch eine ihr gleichkommende andere Leistung ersetzt werden kann (SozR 2200 Nr 1 zu § 184). Für die Gewährung einer Ersatzleistung spricht danach, daß damit nicht nur den Interessen des Versicherten, sondern auch dem Allgemeininteresse - Freimachen eines Liegeplatzes im Krankenhaus - gedient wird. Der darin zum Ausdruck kommende Grundgedanke, daß der Versicherungsträger nicht im Gesetz ausdrücklich vorgesehene Leistungen gewähren kann, wenn dadurch Kosten erspart und der gleiche Zweck erreicht werden kann, muß erst recht nach Inkrafttreten des RehaAnglG gelten.

Die selbständige häusliche Übungsbehandlung durch die Mutter könnte möglicherweise eine Behandlung in einer Spezialeinrichtung nach § 184a RVO, die häusliche Krankenpflege nach § 185 RVO oder ärztliche Behandlung nach § 182 Abs 1 Nr 1 a RVO ganz oder teilweise ersetzen und damit ersparen. Möglicherweise ist eine sinnvolle ambulante Behandlung des Kindes ohne die Mitwirkung der geschulten Mutter auch nicht möglich. Zwar mag vielleicht die häusliche Übungsbehandlung durch die Mutter ebensowenig wie die Mithilfe der Ehefrau bei der Heimdialyse zu den Leistungen gehören, die die Krankenkasse zu erbringen hat (vgl hierzu BSG SozR 2200 Nrn 1 und 2 zu § 185). Im vorliegenden Fall geht es aber nicht um die Gewährung von Leistungen für die häusliche Behandlung und Therapie durch die Mutter, sondern um die dafür erforderliche Schulung, die es der Mutter gerade erst ermöglichen soll, zur Entlastung des Versicherungsträgers eine fachgerechte Behandlung des Kindes zu übernehmen.

Es kann aufgrund der Tatsachenfeststellungen des SG nicht entschieden werden, ob es sich bei der Schulung der Mutter um eine Leistung nach § 184a RVO oder nach § 193 Nr 2 RVO handeln kann. Möglicherweise war eine stationäre Behandlung des Kindes nicht erforderlich, sondern nur notwendiger Bestandteil der Schulung der Mutter. In diesem Falle könnte die Schulung nicht als ergänzende Leistung zur stationären Behandlung des Kindes iS des § 193 Nr 2 RVO, sondern nur als untrennbare Einheit und damit als Leistung in Betracht kommen, die etwa nach § 184a RVO als Ganzes unmittelbar dem Kind gewährt wurde. Hat die Schulung der Mutter aber nur anläßlich einer ohnehin notwendigen stationären Behandlung des Kindes stattgefunden, so kann es sich um eine ergänzende Leistung im Sinne des § 193 Nr 2 RVO handeln. Der Umstand, daß die Schulung als Leistung nicht unmittelbar dem erkrankten Kind, sondern seiner gesunden Mutter zugute kam, schließt die Subsumierung dieser Leistung unter § 193 Nr 2 RVO nicht aus. Es ist bereits darauf hingewiesen worden, daß zur Auslegung des § 193 Nr 2 RVO die §§ 12 und 20 des RehaAnglG herzuziehen sind, die deutlich erkennen lassen, daß nach dem Willen des Gesetzgebers jede Leistung erbracht werden soll, die geeignet und erforderlich ist, um den Erfolg der Rehabilitation, dh die Heilung, Besserung oder Linderung der Krankheit und die Eingliederung des Erkrankten in das normale Leben zu ermöglichen. Bei der nach der Intention des Gesetzgebers gebotenen extensiven Auslegung des § 193 Nr 2 RVO können zu den ergänzenden Leistungen auch solche Leistungen gehören, die nur deshalb mittelbar dem Erkrankten zugute kommen, weil die unmittelbare Gewährung an den Erkrankten nicht möglich und die Mitwirkung eines anderen notwendig ist. Die Ausgestaltung des Versicherungsverhältnisses schließt das nicht aus, denn Anspruchsberechtigter ist in jedem Fall der Versicherte unabhängig davon, an wen die Leistung bewirkt wird.

Darüber hinaus könnte auch eine Leistung nach § 97 Abs 1 Satz 2 RKG iVm §§ 119, 120 Buchstabe c, 128, 132 Abs 1 Buchstabe b der Satzung der Beklagten in Betracht kommen. Auch dazu fehlen die erforderlichen Tatsachenfeststellungen. Diese Vorschriften tragen dem Ziel des RehaAnglG Rechnung und ermöglichen daher auch solche notwendigen Leistungen, die wegen der Mitwirkungsbedürftigkeit eines anderen nicht unmittelbar dem Erkrankten zugewandt werden können.

Der Senat hat auf die danach begründete Sprungrevision des Klägers das angefochtene Urteil aufgehoben und den Rechtsstreit gemäß § 170 Abs 4 des Sozialgerichtsgesetzes zur Abkürzung des Verfahrens an das für die Berufung zuständige Landessozialgericht zurückverwiesen.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

BSGE, 299

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