Leitsatz (amtlich)

1. Ein Antrag des Unternehmers auf Feststellung der Entschädigung im Sinne des RVO § 902 liegt auch vor, wenn der Unternehmer beim Versicherungsträger nicht ausdrücklich die Gewährung von Entschädigung an den Verletzten beantragt, sondern sich darauf beschränkt, die Durchführung des Feststellungsverfahrens zu verlangen.

2. Hat der Unternehmer beim Versicherungsträger einen Antrag nach RVO § 902 gestellt, so ist der Bescheid auch dem Unternehmer zuzustellen. Die Frist zur Einlegung des Rechtsbehelfs wird dem Unternehmer gegenüber erst durch die Zustellung in Lauf gesetzt.

 

Normenkette

RVO § 902 Fassung: 1924-12-15, § 1583; SGG §§ 84, 87

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 5. November 1957 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Die Klägerin führt ihre Haarwasch- und Pflegemittel den Mitgliedern der Friseur-Innungen in besonderen Veranstaltungen vor, deren Hauptbestandteil ein Schaufrisieren ist, das bei der Klägerin angestellte Friseure durchführen. Am 5. Mai 1954 fand in W ein solches Schaufrisieren statt, für das sich die Beigeladene, die Hausfrau E V zur Verfügung gestellt hatte. Die Behandlung des Haares der Beigeladenen bei diesem Schaufrisieren hatte zur Folge, daß das Haar "brach" und ein erheblicher Haarausfall eintrat.

Die Beigeladene führt gegen die Klägerin einen Zivilprozeß vor dem Landgericht Siegen, in dem sie einen Anspruch auf Schmerzensgeld in Höhe von 1500 DM geltend macht.

Mit einem am 29. Oktober 1954 bei der Beklagten eingegangenen Schreiben vom 26. Oktober 1954 hat die Klägerin der Beklagten eine Unfallanzeige übersandt und hierzu geschrieben:

"Die verspätete Anmeldung ist darauf zurückzuführen, daß wir der Ansicht waren, dieser Schadensfall gehöre zum Bereich der Haftpflichtversicherung. Diese macht uns jedoch jetzt darauf aufmerksam, daß für solche Fälle ... gemäß § 537 Ziff. 10 RVO die Berufsgenossenschaft zuständig sei. Wir bitten Sie frdl . um Bearbeitung dieses Falles." In einem weiteren Schreiben vom 23. November 1954, in dem im einzelnen dargelegt ist, wie ein Schaufrisieren vor sich geht, heißt es am Schluß:

"Wir bitten Sie frdl ., die Frage zu prüfen, ob Frau Völkel mit ihrer Schadenersatzforderung unter die Belange der Berufsgenossenschaft fällt."

In einem Schreiben vom 25. Februar 1955, das statistische Angaben über die Häufigkeit von Allergien gegen die Präparate der Klägerin enthält, heißt es am Schluß:

"Interessieren würde uns jedoch nunmehr Ihre grundsätzliche Stellungnahme zu diesen Schadensmeldungen".

Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 15. März 1955 den Anspruch auf Entschädigung aus Anlaß des Vorgangs, von dem die Beigeladene am 5. Mai 1954 betroffen worden ist, mit der Begründung ab, daß die Beigeladene keinen Arbeitsunfall erlitten habe.

Dieser Bescheid ist an die Beigeladene am 15. März 1955 unter Einschreiben zur Post gegeben worden. Der Klägerin hat die Beklagte lediglich mit Schreiben vom 15. März 1955 mitgeteilt, daß sie die Ansprüche auf Gewährung von Ersatz des Schadens, der durch das Schaufrisieren entstanden sei, im Falle der Beigeladenen und in einem weiteren Falle abgelehnt habe, weil diese Personen keinen Arbeitsunfall im Sinne der Reichsversicherungsordnung (RVO) erlitten hätten.

Auf ein am 3. Mai 1955 bei der Beklagten eingegangenes Schreiben der A-Versicherungs-AG., der Haftpflichtversicherung der Klägerin, in dem um Überprüfung der "getroffenen Entscheidung" der Beklagten gebeten wird, hat die Beklagte mit Schreiben vom 20. Juni 1955 geantwortet, daß sie ihren Rechtsstandpunkt aufrechterhalte.

Die Klägerin hat am 21. Juni 1955 beim Sozialgericht (SG.) Hamburg Klage mit dem Antrag erhoben, unter Aufhebung des Bescheids der Beklagten festzustellen, daß die Gesundheitsstörung der Beigeladenen die Folge des Arbeitsunfalls vom 5. Mai 1954 ist.

Diese Klage hat das SG. durch Urteil vom 29. Juni 1956 als unzulässig abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, der Ablauf der Rechtsmittelfrist, die durch die Zustellung des Bescheids an die Beigeladene in Lauf gesetzt sei, wirke auch gegen die Klägerin, da diese Frist nicht ohne deren Verschulden verstrichen sei.

Gegen dieses Urteil hat die Klägerin Berufung beim Landessozialgericht (LSG.) Hamburg eingelegt. Dieses hat Frau E V zum Verfahren beigeladen und durch Urteil vom 5. November 1957 die Berufung als unbegründet zurückgewiesen.

Die Revision ist vom LSG. zugelassen worden.

Gegen das Urteil des LSG., das der Klägerin am 30. November 1957 zugestellt worden ist, hat diese am 28. Dezember 1957 beim Bundessozialgericht (BSG.) Revision eingelegt und sie, nachdem die Frist zur Begründung der Revision durch Verfügung des Vorsitzenden vom 28. Januar 1958 bis zum 28. Februar 1958 verlängert worden war (vgl. § 164 Abs. 1 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -), am 20. Februar 1958 begründet.

Sie beantragt,

unter Aufhebung des Bescheids der Beklagten festzustellen, daß die Gesundheitsstörung der Frau Völkel die Folge des Arbeitsunfalls vom 5. Mai 1954 ist.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beigeladene hat erklärt, daß Sachanträge in der Revisionsinstanz nicht gestellt würden.

Die Beteiligten haben sich mit Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt. Der Senat hat von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden (vgl. § 124 Abs. 2 SGG).

II

Die Revision ist durch Zulassung statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG), sie ist auch form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden und somit zulässig.

Die Revision ist auch begründet. Sie wendet sich mit Recht dagegen, daß die Klage zum SG. Hamburg vom SG. und LSG. als verspätet angesehen worden ist.

Das LSG. ist bei seiner Entscheidung zutreffend davon ausgegangen, daß § 902 RVO durch das Inkrafttreten des SGG nicht außer Kraft gesetzt worden ist. Wie der erkennende Senat bereits mehrfach entschieden hat (vgl. z. B. BSG. 5 S. 169 (170)), ist der vom Verletzten (oder seinen Hinterbliebenen) auf Schadenersatz in Anspruch genommene Unternehmer nach wie vor berechtigt, aus eigenem Recht das Feststellungsverfahren des Versicherungsträgers (vgl. §§ 1545 ff. RVO) zu betreiben, in dem er die Erteilung eines förmlichen Bescheids über den Entschädigungsanspruch verlangt. Hieraus ergibt sich für ihn die Berechtigung, im Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit den Entschädigungsanspruch des Verletzten an dessen Stelle im Wege der Prozeßstandschaft geltend zu machen.

Diese Voraussetzungen sind im Falle der Klägerin gegeben. Die Beigeladene macht auf Grund des Vorfalles vom 5. Mai 1954 bürgerlich-rechtliche Schadenersatzansprüche gegen die Klägerin geltend, und die Klägerin ist der Auffassung, daß sie sich demgegenüber auf § 898 RVO berufen könne, weil die Beigeladene für sie während des Schaufrisierens wie eine auf Grund eines Arbeits- oder Dienstverhältnisses Beschäftigte tätig geworden sei (vgl. § 537 Nr. 10 i. V. mit Nr. 1 RVO).

Wie das LSG. nach der Auffassung des erkennenden Senats zutreffend ausgeführt hat, besteht zwar für den Versicherungsträger grundsätzlich keine Verpflichtung in allen Fällen, in denen das Feststellungsverfahren durch einen förmlichen Bescheid abgeschlossen werden muß (vgl. §§ 1569 a, 1583 RVO), diesen Bescheid auch dem Unternehmer zuzustellen, dessen Unternehmen die unfallbringende Tätigkeit zuzurechnen ist oder zugerechnet werden müßte, wenn das schädigende Unfallereignis als Arbeitsunfall im Sinne des Dritten Buches der RVO anerkannt werden sollte. Das LSG. hat mit Recht darauf hingewiesen, daß der Unternehmer, wenn die Voraussetzungen des § 902 Satz 2 RVO gegeben sind, seine Rechte auch dann noch im sozialgerichtlichen Verfahren im Wege der Prozeßstandschaft geltend machen kann, wenn für den Verletzten selbst die Klagefrist gegen einen nur ihm zugestellten Bescheid bereits abgelaufen ist.

Die Rechtslage ist jedoch - wie das LSG. wohl auch nicht verkannt hat - anders, wenn der Unternehmer bereits während des Verwaltungsverfahrens dem Versicherungsträger gegenüber von seinem Recht aus § 902 RVO Gebrauch gemacht oder dieses Verwaltungsverfahren überhaupt erst unter Berufung auf § 902 RVO in Gang gebracht hat. Der Unternehmer ist dann bereits an dem förmlichen Feststellungsverfahren des Versicherungsträgers aus eigenem Recht unmittelbar beteiligt. Er hat dann bereits in diesem Falle eine Rechtsstellung, die seiner Prozeßstandschaft im gerichtlichen Verfahren entspricht. Der das Feststellungsverfahren abschließende Bescheid muß deshalb in einem solchen Falle auch dem Unternehmer zugestellt werden (vgl. EuM. 14 S. 230; RVO, Mitgl. Komm., 2. Aufl., § 902 Anm. 3 und § 1583 Anm. 5 d). Erst durch diese Zustellung wird für den Unternehmer die Klagefrist (§ 87 SGG) in Lauf gesetzt, nach deren Ablauf der Bescheid auch für ihn bindend wird (§ 77 SGG).

Das LSG. hat mit ausführlicher Begründung dargelegt, daß ein solcher Fall der Beteiligung des Unternehmers am Feststellungsverfahren des Versicherungsträgers hier nicht vorliege. Diese Auffassung des LSG. beruht jedoch anscheinend auf einer zu engen Auslegung der Worte "... die Feststellung der Entschädigung nach diesem Gesetz beantragen" in § 902 Satz 1 RVO. Es trifft zwar zu, daß die Klägerin bei der Beklagten keinen ausdrücklichen Antrag gestellt hat, der Beigeladenen eine Entschädigung nach den Vorschriften der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren. Das ist jedoch auch nicht erforderlich. Während es nach § 1546 RVO zur Vermeidung des Ausschlusses notwendig ist, daß der Entschädigungsanspruch "angemeldet" wird, haben die Worte "Feststellung der Entschädigung" in § 902 RVO keine engere Bedeutung als "Leistungen ... festzustellen" in § 1545 RVO. Sie umfassen allgemein das förmliche Feststellungsverfahren, das - je nach dem Ergebnis - durch einen leistungsgewährenden oder einen den Entschädigungsanspruch verneinenden Bescheid abzuschließen ist. Infolgedessen ist ein Anwendungsfall des § 902 RVO auch gegeben, wenn der auf Schadenersatz in Anspruch genommene Unternehmer sich darauf beschränkt, eine Klarstellung der Rechtslage anzustreben, und deshalb nur die Durchführung des Feststellungsverfahrens und damit dessen Abschluß durch einen förmlichen Bescheid verlangt.

Einen solchen Antrag hat die Klägerin mit den verschiedenen Schreiben an die Beklagte gestellt. Bei der Auslegung ist zu berücksichtigen, daß die Klägerin sich nicht juristischer Formulierungen, sondern der Ausdrucksweise bedient hat, die im kaufmännischen Schriftverkehr üblich ist. Die Klägerin hat bereits im Begleitschreiben zur Unfallanzeige vom 26. Oktober 1954 auf die Schadenersatzansprüche der Beigeladenen und auf die Rechtsauffassung ihrer Haftpflichtversicherung hingewiesen und ausdrücklich "um Bearbeitung" gebeten. In dem weiteren Schreiben vom 23. November 1954 hat sie gebeten, "die Frage zu prüfen, ob Frau Völkel mit ihrer Schadenersatzforderung unter die Belange der Berufsgenossenschaft fällt", und im Schreiben vom 25. Februar 1955 hat sie nochmals ausgeführt, daß sie eine "grundsätzliche Stellungnahme" der Beklagten "interessiere". Damit hat sie nach der Auffassung des erkennenden Senats mit hinreichender Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht, daß sie mit Rücksicht auf die Schadensersatzforderung der Beigeladenen und die Rechtsauffassung ihrer Haftpflichtversicherung die Durchführung eines förmlichen, durch einen Bescheid abzuschließendes Feststellungsverfahren wünsche. Sie hat also der Beklagten gegenüber von ihrem Recht aus § 902 RVO Gebrauch gemacht.

Infolgedessen mußte der Bescheid der Beklagten vom 15. März 1955 - wie bereits dargelegt - auch der Klägerin zugestellt werden. Da das nicht geschehen ist, lief im Zeitpunkt des Eingangs der Klage beim SG. Hamburg - am 21. Juni 1955 - noch keine durch eine Zustellung des Bescheids der Klägerin gegenüber in Lauf gesetzte Klagefrist. Weder die Zustellung des Bescheids an die Beigeladene noch der Umstand, daß die Klägerin durch das Schreiben der Beklagten vom 15. März 1955 von der Erteilung des Bescheides Kenntnis erhalten hatte, waren geeignet, eine solche Frist in Lauf zu setzen. Hiernach war die Klage zum SG. Hamburg rechtzeitig erhoben. Das SG. hat zu Unrecht die Klage als verspätet angesehen und deshalb als unzulässig abgewiesen. Das LSG. hat die Berufung der Klägerin hiergegen zu Unrecht als unbegründet zurückgewiesen. Beide Instanzen hätten vielmehr sachlich über den Anspruch der Beigeladenen entscheiden müssen.

Auf die Revision der Klägerin war deshalb das angefochtene Urteil aufzuheben. Da vom LSG. über den Anspruch der Beigeladenen nicht entschieden worden ist, hat der Senat die Sache zu erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückverwiesen (§ 170 SGG).

Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens bleibt der abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2324718

BSGE, 122

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