Entscheidungsstichwort (Thema)

Altersübergangsgeld, Bemessung des. Zufluß. Arbeitsentgelt, abgerechnetes. Zuflußprinzip. Zuflußtheorie. Vertragserfüllung, nachträgliche. Vertragsänderung, rückwirkende. Bemessungszeitraum. Lohnfaktor. Zeitfaktor. Stammrecht. Leistungsfall

 

Leitsatz (amtlich)

Zur Bemessung des Altersübergangsgeldes bei rückwirkender tariflicher Lohnerhöhung (Abgrenzung zum Urteil vom 28.6.1995 – 7 RAr 102/94, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR bestimmt).

 

Normenkette

AFG § 249e Abs. 3 Fassung: 1991-07-25, § 112 Abs. 1 Fassung: 1987-12-14, Abs. 3 Fassung: 1987-12-14; SGB X §§ 44, 48

 

Verfahrensgang

Sächsisches LSG (Urteil vom 21.10.1993; Aktenzeichen L 3 Al 2/93)

SG Chemnitz (Entscheidung vom 08.12.1992; Aktenzeichen S 3 Al 400/92)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Chemnitz vom 21. Oktober 1993 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Streitig ist die Zahlung von höherem Altersübergangsgeld (Alüg) für die Zeit ab 1. Oktober 1991.

Der am 22. Dezember 1930 geborene Kläger war seit 1945 bei der Deutschen Reichsbahn tätig (vom 12. August 1968 bis 31. Dezember 1989 als Instrukteur; seit 1. Januar 1990 als Fahrkartenverkäufer). Das Arbeitsverhältnis endete durch Aufhebungsvertrag vom 27. Juni 1991 am 30. September 1991.

Schon zuvor, am 13. August 1991, hatte sich der Kläger arbeitslos gemeldet und die Zahlung von Alüg ab Oktober 1991 beantragt. Am 1. Oktober 1991 übergab er eine Arbeitsbescheinigung vom 24. September 1991 (erste Arbeitsbescheinigung), in der für die Zeit vom 1. Juli bis 30. September 1991 ein Bruttoarbeitsentgelt in Höhe von insgesamt 4.866,90 DM angegeben ist. In einem zusätzlichen Schreiben der Arbeitgeberin ist darauf hingewiesen, daß es sich um eine „Interimseinstufung” handele; nach Abschluß der Tarifverträge werde die „tatsächliche” Entlohnung mitgeteilt. Die Beklagte bewilligte daraufhin Alüg ab 1. Oktober 1991 (Bescheid vom 11. Oktober 1991) in Höhe von wöchentlich 192,60 DM (Bemessungsentgelt: 370,00 DM; Leistungsgruppe C; 65 vH).

Am 31. Januar 1992 verlangte der Kläger eine Neuberechnung seines Alüg, weit im November 1991 ein neuer Tarifvertrag rückwirkend ab 1. Juli 1991 in Kraft getreten sei. Gleichzeitig überreichte er eine neue (zweite) Arbeitsbescheinigung, die für die Zeit vom 1. Juli bis 30. September 1991 ein Arbeitsentgelt von 5.504,07 DM bei 66 Arbeitstagen und in 528 Arbeitsstunden ausweist. Alüg wurde in der Folgezeit nur bis 3. Februar 1992 gezahlt, und zwar im Hinblick darauf, daß sich der Kläger vom 4. Februar bis 3. März 1992 stationär in Kur befand.

Nach einem Wiederbewilligungsantrag vom 5. März 1992 nahm die Beklagte die Leistung ab 4. März 1992 in der bisherigen Höhe wieder auf (Bescheid vom 7. April 1992). Später lehnte sie eine Neuberechnung des Alüg nach § 44 Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – (SGB X) ab, weil nur das innerhalb des Bemessungszeitraums abgerechnete und zugeflossene Arbeitsentgelt zu berücksichtigen sei (Bescheid vom 17. Juni 1992; Widerspruchsbescheid vom 3. August 1992).

Die Klage beim Sozialgericht (SG) blieb erfolglos (Urteil vom 8. Dezember 1992). Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) „die entgegenstehenden Bescheide geändert und die Beklagte verurteilt, dem Kläger Alüg ab 1. Oktober 1991 nach einem Bemessungsentgelt von 420,00 DM wöchentlich zu bewilligen” (Urteil vom 21. Oktober 1993). Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG ausgeführt, entgegen der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) sei auch das aufgrund einer neuen, rückwirkenden tariflichen Eingruppierung nach dem Ausscheiden bezogene höhere Arbeitsentgelt im Bemessungszeitraum erzielt. Unter Zugrundelegung der Angaben in der zweiten Arbeitgeberbescheinigung berechne sich aus dem Gesamtbetrag für die Monate Juli bis September 1991 in Höhe von 5.504,07 DM ein zu dynamisierendes Ausgangs-Bemessungsentgelt von 420,00 DM.

Mit der Revision rügt die Beklagte eine Verletzung der §§ 249e Abs. 3 Nr. 2, 112 Abs. 2 Arbeitsförderungsgesetz (AFG). Sie ist der Ansicht, nach der Rechtsprechung des BSG könne nur das im Bemessungszeitraum selbst abgerechnete und zugeflossene Arbeitsentgelt die Höhe des Alüg bestimmen. Spätere Arbeitsentgeltzahlungen (nach dem Ausscheiden) müßten unberücksichtigt bleiben.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er ist der Ansicht, erzielt iS des § 112 Abs. 1 AFG sei jedes Arbeitsentgelt, das für den Bemessungszeitraum beansprucht werden könne.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision ist iS der Aufhebung und Zurückverweisung der Sache an das Sächsische LSG begründet (§ 170 Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫), da es an ausreichenden tatsächlichen Feststellungen für eine abschließende Entscheidung fehlt.

Unklar ist bereits, ob es dem Kläger nur um höheres Alüg für den Zeitraum vom 1. Oktober 1991 bis 3. Februar 1992 und vom 4. März 1992 bis 30. Juni 1993 geht, oder ob er auch für die Zeit des Kuraufenthaltes vom 4. Februar bis 3. März 1992 und für die Zeit ab Beginn der Altersrente (1. Juli 1993) Alüg begehrt. In dieser Zeit hat die Beklagte zwar keine Leistungen erbracht; das LSG hat jedoch die Beklagte ohne jegliche Differenzierung zur Bewilligung von Alüg ab 1. Oktober 1991 verurteilt. Das LSG wird auf eine genaue Bestimmung des Klagebegehrens zu achten haben.

Davon und von weiteren Umständen ist abhängig, welche Bescheide Gegenstand des Verfahrens sind. Wäre etwa der am 31. Januar 1992 gestellte (schriftliche) Antrag des Klägers als (noch) zulässiger Widerspruch gegen den (dem Senat nicht vorliegenden) Bescheid der Beklagten vom 11. Oktober 1991 zu werten, so wären alle nachstehenden bis zum Erlaß des Widerspruchsbescheides ergangenen Bescheide Gegenstand des Widerspruchsverfahrens (§ 86 Abs. 1 SGG) und je nach Umfang der Klage auch Gegenstand des Rechtsstreits geworden; der (vom LSG beachtete) Bescheid vom 7. April 1992, der Dynamisierungsbescheid über die Höhe des ab 31. März 1992 zu zahlenden Alüg, der (vom LSG beachtete) Bescheid vom 17. Juni 1992, evtl. aber auch ein möglicher Bescheid, mit dem die Alüg-Bewilligung ab 4. Februar 1992 aufgehoben worden ist. Sollte es sich bei dem Antrag des Klägers vom 31. Januar 1992 indes nicht um einen zulässigen Widerspruch gehandelt haben, wäre der erste Bewilligungsbescheid vom 11. Oktober 1991 nicht unmittelbar Gegenstand des Verfahrens; dessen Rechtmäßigkeit wäre vielmehr im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens (§ 44 SGB X oder § 48 SGB X iVm § 152 AFG) zu beurteilen. Die Situation bezüglich der Bescheide vom April 1992 ist dann wiederum abhängig davon, ob der Widerspruch des Klägers gegen den Bescheid vom 17. Juni 1992 gleichzeitig ein zulässiger Widerspruch gegen jene Bescheide war oder ob der Kläger bereits zuvor Widerspruch gegen jene Bescheide eingelegt hatte. Das LSG wird auch dies bei seiner erneuten Entscheidung zu untersuchen haben und nach der ohnedies aus anderen Gründen erforderlichen Zurückverweisung der Sache die während des Klage- bzw Berufungsverfahrens ergangenen Dynamisierungs- bzw sonstigen Änderungsbescheide, die zum Gegenstand des Verfahrens geworden sind (§ 96 Abs. 1 SGG), genau zu ermitteln haben (vgl. BSGE 74, 96, 101 = SozR 3-4100 § 112 Nr. 17). Keinesfalls genügt hierfür die Tenorierung im Urteil, die „entgegenstehenden Bescheide” würden geändert. Bei dieser Sachlage ist es unbeachtlich, daß die Beklagte im Revisionsverfahren eine Verfahrensrüge nicht erhoben hat (vgl. hierzu etwa; BSG, Urteil vom 9. Februar 1995 – 7 RAr 2/94 –, zur Veröffentlichung vorgesehen).

Welches die richtige Klageart ist, kann ebenfalls noch nicht beurteilt werden; zur Auslegung des Klageantrags wäre dies indes erforderlich. Entgegen der Tenorierung im Berufungsurteil kann der Kläger jedenfalls bei einem Verfahren nach § 44 SGB X oder § 48 SGB X nicht verlangen, daß das Gericht die bestandskräftigen Bescheide selbst ändert bzw aufhebt (Anfechtungs- und Leistungsklage); die Beklagte kann vielmehr nur verurteilt werden, einen neuen Bescheid zu erlassen (Anfechtungs- und Verpflichtungsklage).

Von Amts wegen zu beachtende Verfahrensmängel stehen ansonsten einer Sachentscheidung nicht entgegen. Insbesondere war die Berufung zulässig, weil sie wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betraf (§ 144 Abs. 1 Satz 2 SGG idF des Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege vom 11. Januar 1993 – BGBl I 50). Unabhängig davon, welches die richtige Klageart ist, scheitert die Zulässigkeit der Klage jedenfalts nicht an einem fehlenden Widerspruchsverfahren (§ 78 SGG) bzw der Nichteinhaltung der Klagefrist (§ 87 SGG).

Abgesehen von der Frage, ob der Kläger überhaupt Alüg für die Zeiten begehrt, für die die Beklagte keine Leistungen erbracht hat, kann auch nicht beurteilt werden, ob der Kläger Anspruch auf höheres Alüg hat – ggf iVm § 44 SGB X oder § 48 SGB X und § 152 AFG aF oder nF –, da es an den erforderlichen tatsächlichen Feststeilungen des LSG fehlt.

Nach § 249e AFG idF des Renten-Überleitungsgesetzes vom 25. Juli 1991 (BGBl I 1606) gewährt die Bundesanstalt Arbeitnehmern, die in der Zeit vom 3. Oktober 1990 bis zum 31. Dezember 1991 nach Vollendung des 55. Lebensjahres aus einer die Beitragspfticht begründenden Beschäftigung von mindestens 90 Kalendertagen in dem in Art. 3 des Einigungsvertrages (EinigVtr) genannten Gebiet ausscheiden und in den letzten 90 Kalendertagen der Beschäftigung ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Gebiet hatten, unter weiteren Voraussetzungen Alüg. Auf diese Leistung sind die Vorschriften über das Arbeitslosengeld (Alg) und für Empfänger von Alg nach Maßgabe des § 249e Abs. 3 AFG anzuwenden. Danach beträgt die Höhe des Alüg-Anspruchs 65 vH des um die gesetzlichen Abzüge, die bei Arbeitnehmern gewöhnlich anfallen, verminderten Arbeitsentgelts iS des § 112 AFG. Über die Generalverweisung des § 249e Abs. 3 Satz 1 AFG (vgl. BSGE 73, 195, 198 = SozR 3-4100 § 249e Nr. 3) greifen also mit Ausnahme der (prozentualen) Nettolohnersatzquote die für das Alg geltenden Berechnungsvorschriften ein. Nach § 111 AFG iVm § 249c Abs. 10 AFG bestimmt sich deshalb die Höhe des Alüg unter Berücksichtigung der Lohnsteuerklasse (hierzu auch § 113 AFG) und des (zu dynamisierenden – § 112a AFG iVm § 249c Abs. 13 AFG) Bemessungsentgelts (§ 112 AFG) über die jeweilige Leistungsverordnung (LeistungsVO), in den Leistungsverordnungen für das Jahr 1991 und 1992 ist beim Alüg auf die Tabelle für das Unterhaltsgeld zurückzugreifen (BSGE 73, 195, 202 f = SozR 3-4100 § 249e Nr. 3).

Das Bemessungsentgelt seinerseits errechnet sich aus dem Arbeitsentgelt, das der Arbeitslose im Bemessungszeitraum – abzüglich bestimmter Zuschläge und Zuwendungen – durchschnittlich in der Woche erzielt hat (§ 112 Abs. 1 AFG idF, die § 112 durch das 8. AFGÄndG vom 14. Dezember 1987 – BGBl I 2602 – erhalten hat). Nach § 112 Abs. 2 Satz 1 AFG (in der hier noch anzuwendenden, bis 31. Dezember 1993 geltenden aF) umfaßt der Bemessungszeitraum die beim Ausscheiden des Arbeitnehmers abgerechneten Lohnabrechnungszeiträume der letzten drei Monate der die Beitragspflicht begründenden Beschäftigungen vor der Entstehung des Anspruchs, in denen der Arbeitslose Arbeitsentgelt erzielt hat. Nach § 112 Abs. 3 Satz 1 AFG wird dann – außer bei Arbeitsentgelt, das nach Monaten bemessen ist – für die Berechnung des in der Woche durchschnittlich erzielten Arbeitsentgelts das im Bemessungszeitraum durchschnittlich in der Arbeitsstunde erzielte Arbeitsentgelt (Lohnfaktor) mit der Zahl der Arbeitsstunden vervielfacht, die sich als Durchschnitt der tariflichen regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit (Zeitfaktor) der Beschäftigungsverhältnisse im Bemessungszeitraum ergibt (vgl. zum Berechnungssystem insgesamt das Urteil des Senats vom 9. Februar 1995 – 7 RAr 2/94 –, zur Veröffentlichung vorgesehen).

Die Bestimmung des Bemessungsentgelts erfordert mithin zunächst als Zwischenschritt die Festlegung des Bemessungszeitraums (vgl. BSG SozR 3-4100 § 111 Nr. 3). Das Urteil des LSG enthält schon hierzu, aber auch zum Lohn- und Zeitfaktor keine ausreichenden eigenen Feststetlungen; diese können hier nicht dadurch ersetzt werden, daß lediglich formal auf den Inhalt einer Arbeitsbescheinigung des Arbeitgebers verwiesen wird. Vorliegend sind nämlich zwei Arbeitsbescheinigungen überreicht worden, wobei die zweite keine Angabe zur tariflichen wöchentlichen Arbeitszeit und offenbar entgegen der ersten Arbeitsbescheinigung die Angabe eines Stundenlohns statt eines Monatslohns enthält; gleichwohl hat das LSG, das das Alüg aus der zweiten Bescheinigung errechnet hat, aus der ersten Arbeitsbescheinigung offenbar die Angabe über die Art. der Zahlung (Monatslohn) und die regelmäßige wöchentliche tarifliche Arbeitszeit von 40 Stunden entnommen. Das LSG wird die genauen Feststellungen zur Bestimmung des Bemessungszeitraums und des darin erzielten (abgerechneten und zugeflossenen) Arbeitsentgelts, aber auch zur Steuerklasse nachzuholen haben.

Dem LSG kann nicht gefolgt werden, soweit es das spätere, aufgrund rückwirkender Tarifregelung zu beanspruchende höhere Entgelt berücksichtigt hat. Zwar hat der erkennende Senat seine bisherige Rechtsprechung zur sog Zuflußtheorie dahin modifiziert, daß ein in nachträglicher Vertragserfüllung gewährtes zusätzliches Entgelt, das dem Arbeitslosen nach dem Ausscheiden aus dem Beschäftigungsverhältnis zugeflossen ist, bei der Bestimmung der Leistungshöhe zu berücksichtigen ist (vgl. Urteil vom 28. Juni 1995 – 7 RAr 102/94 –, zur Veröffentlichung vorgesehen). Jedoch ist für Fälle rückwirkender Vertragsänderung an der bisherigen Rechtsprechung festzuhalten (BSGE 12, 55, 56 ff = SozR Nr. 2 zu § 90 AVAVG; BSG SozR 4100 § 112 Nrn 1, 3, 5 und 43; SozR 3-4100 § 112 Nr. 10; BSG, Urteil vom 10. Dezember 1981 – 7 RAr 6/81 –, USK 81302; Urteil vom 16. März 1983 – 7 RAr 25/82 –, DBlR Nr. 2847 zu § 112 AFG; Urteil vom 23. Juli 1992 – 7 RAr 2/92 –, NZA 1993, 621; vgl. auch zum Kurzarbeitergeld BSGE 28, 231 ff = SozR Nr. 1 zu § 121 AVAVG).

Danach ist für die Bemessung des Alg. damit ebenso für die des Alüg, eine Nachzahlung jedenfalls dann nicht zu berücksichtigen, wenn der Anspruch darauf nach der Entstehung des Stammrechts und des ersten daraus erwachsenden Leistungsanspruchs (vgl. hierzu: BSGE 72, 177, 179 f = SozR 3-4100 § 112 Nr. 13) begründet worden und das Entgelt danach zugeflossen ist. Ob dies auch dann anzunehmen ist, wenn die Vertragsänderung zwischen Ausscheiden aus dem Beschäftigungsverhältnis und dem Ende des Arbeitsverhältnisses, oder gar der Entstehung des Stammrechts oder des ersten daraus erwachsenden Leistungsanspruchs erfolgt, ob dies also dem Fall der nachträglichen Vertragserfüllung gleichgesetzt werden kann, bedarf zum gegenwärtigen Zeitpunkt keiner Entscheidung. Die vom Senat modifizierte Rechtsprechung zur sog Zuflußtheorie, die entgegen der Ansicht des LSG nicht auf das Bestehen eines Arbeitsentgeltanspruchs allein abstellt, erfaßt jedenfalls nicht den vorliegenden Fall rückwirkender Vertragsänderung, da der Kläger am 30. September 1991 aus dem Beschäftigungsverhältnis ausgeschieden ist, sein Stammrecht und der erste daraus erwachsende Leistungsanspruch am 1. Oktober 1991 entstanden ist, bevor durch neuen Tarifvertrag im November 1991 die vertragliche Entgeltregelung mit Wirkung ab 1. Juli 1991 geändert worden ist. Die Frage, inwieweit vertragliche Vereinbarungen oder gerichtliche Entscheidungen über zu Unrecht nicht gezahltes Entgelt von der Beklagten bzw den Sozialgerichten auf ihre Richtigkeit untersucht werden dürfen oder müssen, stellt sich bei dieser Konstellation nicht.

Die vom Senat für die Änderung seiner Rechtsprechung zur Zuflußtheorie angeführten Gründe (Urteil vom 28. Juni 1995, aaO) gelten nicht für die rückwirkende Vertragsänderung. Im Gegensatz zur Rechtslage bei nachträglicher Vertragserfüllung sind nämlich rückwirkende Lohn- oder Gehaltsänderungen für Lohnersatzleistungen der Bundesanstalt schon immer als unbeachtlich angesehen worden (BSG SozR 4100 § 112 Nrn 1 und 3 mwN zur Rechtsprechung des Reichsversicherungsamtes). Zu Recht wurde hierfür angeführt, es entspreche einem auch für das AFG maßgeblichen Grundsatz des Sozialversicherungsrechts, daß aus Gründen der Übersichtlichkeit und Zügigkeit der Abwicklung von Ansprüchen Lohnersatzleistungen an einem Niveau auszurichten seien, das zeitnah festgestellt ist, also unmittelbar vor Beginn der Leistungen gegolten hat. Dem widerspräche es, wenn erst danach begründete Ansprüche die Grundlage eines bereits entstandenen Leistungsanspruchs verändern würden und damit rückwirkend zu einer Neuberechnung verpflichteten. Dies wäre zum einen mit einem erheblichen Verwaltungsaufwand verbunden, da in allen Fällen neuer Tarifabschlüsse von Amts wegen die schon für die maßgeblichen Zeiträume getroffenen Entscheidungen wiederaufgegriffen und überprüft werden müßten. Zum anderen wären nur schwerlich Gründe anführbar, die es gestatteten, rückwirkende individuelle Vertragsänderungen anders zu behandeln als die tariflichen. Hielte man aber auch diese für beachtlich, wären unerwünschten Dispositionen bzw Manipulationen zur Höhe der Leistung nach Eintritt des Leistungsfalls Tür und Tor geöffnet. Dem begegnet die Rechtsprechung zu Lohnersatzleistungen in anderen Sozialversicherungsbereichen in gleicher Weise (vgl. BSG SozR 3-2200 § 182 Nr. 8 mwN).

Anders als bei nachträglicher Zahlung bereits erarbeiteten, also iS eines schon zustehenden Entgelts, dessen Vorenthaltung objektives Unrecht darstellt, gebieten auch verfassungsrechtliche Gesichtspunkte keine Berücksichtigung des Arbeitsentgelts, das erst aufgrund nachträglicher Vertragsänderung zugeflossen ist. Insbesondere ist dies nicht dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz ≪GG≫) zu entnehmen.

Er beschreibt je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen für den Gesetzgeber unterschiedliche Grenzen, die vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse reichen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) unterliegt der Gesetzgeber bei einer Ungleichbehandlung von Personengruppen regelmäßig einer strengen Bindung (BVerfGE 55, 72, 88; 89, 365, 375; BVerfG. Beschluß vom 11. Januar 1995 – 1 BvR 892/88 –, DB 1995, 1084). Diese ist nicht auf personenbezogene Differenzierungen beschränkt; sie gilt vielmehr auch dann, wenn eine Ungleichbehandlung von Sachverhalten mittelbar eine Ungleichbehandlung von Personengruppen bewirkt. Die Differenzierung zwischen Arbeitslosen, die bereits vor Eintritt des dem Stammrecht folgenden ersten Leistungsanspruchs Ansprüche auf höheres (beitragspflichtiges) Arbeitsentgelt erworben haben, und denjenigen, deren Anspruch auf höheres (beitragspflichtiges) Arbeitsentgelt erst danach mit Wirkung für die Vergangenheit geschaffen worden ist, entspricht gleichwohl diesen Anforderungen. Denn für die Äquivalenzabweichung dieser beiden Versichertengruppen mit gleicher Beitragsleistung sind hinreichende sachliche Gründe ersichtlich (vgl. zu dieser Voraussetzung; BVerfG. Beschluß vom 11. Januar 1995, aaO). Sachliche Gründe in diesem Sinne sind sowohl die bereits beschriebenen Praktikabilitätserwägungen als auch die Gefahr von Manipulationen. Dem trägt der bereits beschriebene Grundsatz Rechnung, daß sich auf bereits entstandene Leistungsansprüche eine nachträgliche Umgestaltung der ihnen zugrundeliegenden arbeitsrechtlichen Verhältnisse nicht mehr auswirken kann.

Ob entgegen den Feststellungen des LSG hier ein Fall sog nachträglicher Vertragserfüllung iS der bereits bezeichneten Senatsentscheidung vom selben Tag vorliegt, mag das LSG bei seiner erneuten Entscheidung noch einmal überprüfen, nachdem der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat erstmals entsprechendes, allerdings ohne nähere Spezifizierung, vorgetragen hat. Zu beachten wäre dabei, daß der nachträgliche Zufluß schon im Bemessungszeitraum erarbeiteten Entgelts eine Anwendung des § 44 SGB X oder des § 48 SGB X erforderte, wenn der Bewilligungsbescheid der Beklagten vom 11. Oktober 1991 bereits bestandskräftig geworden sein sollte. Sollte der Zufluß zusätzlichen Entgelts nach Erlaß dieses bindenden Bescheides ergangen sein, spräche vieles für eine Anwendung des § 48 SGB X. Der nachträgliche Zufluß dürfte eine wesentliche Änderung zugunsten des Arbeitslosen darstellen, ohne den Bewilligungsbescheid zu einem iS des § 44 SGB X von Anfang an rechtswidrigen zu machen.

Sollte das LSG bei seiner erneuten Entscheidung nach den Vorschriften über die Höhe des Alüg eine höhere Leistung für gerechtfertigt halten, wäre indes weiter zu prüfen, ob deren Gewährung daran scheitert, daß schon die Anspruchsvoraussetzung für das Alüg nicht vorliegen bzw der Alüg-Anspruch für bestimmte Zeiträume ruht (vgl. hierzu: BSGE 74, 96, 98 = SozR 3-4100 § 112 Nr. 17; BSG SozR 3-4100 § 115 Nr. 1). Dabei ist insbesondere zu beachten, daß wegen der Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch Aufhebungsvertrag § 119 AFG eingreifen könnte. Da der Kläger nach Aktenlage außerdem ein Überbrückungsgeld in Höhe von 6.963,96 DM erhalten haben dürfte, wäre zudem an § 117 AFG zu denken. Schließlich bedürfte es einer genauen Untersuchung, ob dem Kläger trotz Wiederbewilligungsantrag und Arbeitsfosmeldung am 5. März 1992 bereits ab 4. März 1992 Alüg zustand. Darüber hinaus wird das LSG über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.

 

Fundstellen

Haufe-Index 946291

BSGE, 156

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