Leitsatz (amtlich)

1. Rügt ein Revisionskläger, er sei im Verfahren vor dem Berufungsgericht wegen Geisteskrankheit geschäftsunfähig und daher nicht nach Vorschrift der Gesetze vertreten gewesen ZPO § 551 Nr 5, so ist er im Revisionsverfahren insoweit als prozeßfähig zu behandeln, als über die Frage seiner Prozeßfähigkeit zu entscheiden ist.

2. Erhebt ein Prozeßunfähiger, der keinen gesetzlichen Vertreter hat, gegen einen ablehnenden Rentenbescheid Klage beim Sozialgericht, so kann der Vorsitzende des Gerichts entweder die Bestellung eines gesetzlichen Vertreters (Vormunde oder Pflegers) veranlassen oder bis zu dessen Eintritt einen besonderen Vertreter (SGG § 72 Abs 1) bestellen; die Klage darf grundsätzlich nicht mangels Prozeßfähigkeit des Klägers abgewiesen werden.

 

Normenkette

SGG § 71 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03, § 72 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03, § 162 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03; ZPO § 551 Nr. 5 Fassung: 1950-09-12; BGB § 104 Nr. 2 Fassung: 1896-08-18, § 105 Abs. 1 Fassung: 1896-08-18

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Schleswig vom 6. August 1954 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Die Gebühr für die Berufstätigkeit der Rechtsanwälte W. T. und W. B. vor dem Bundessozialgericht wird auf ... DM festgesetzt.

Von Rechts wegen

 

Gründe

I

Die Klägerin beantragte im März 1952 bei der beklagten Landesversicherungsanstalt (LVA.) die Gewährung einer Invalidenrente. Die Beklagte lehnte den Antrag durch Bescheid vom 4. August 1952 mit der Begründung ab, daß die Anwartschaft nicht erhalten sei: Der Versicherungsfall der Invalidität sei bei der Klägerin bereits im März 1951 eingetreten. Die 78 Wochenbeiträge, die sie in der am 1. November 1951 ausgestellten Quittungskarte Nr. 10 für die Jahre 1949, 1950 und 1951 verwendet habe, seien daher rechtsunwirksam; es fehle mithin an rechtsgültigen Beiträgen für die Kalenderjahre 1949 und 1950.

Die Berufung, die die Klägerin gegen diesen Bescheid beim Oberversicherungsamt (OVA.) S einlegte, hatte keinen Erfolg. Auch das OVA. sah die erst Ende 1951 von der Klägerin entrichteten Beiträge als unwirksam, die Anwartschaft demgemäß als erloschen und die Wartezeit als nicht erfüllt an.

Die (weitere) Berufung der Klägerin, die beim Oberverwaltungsgericht in Lüneburg eingelegt und nach Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) auf das Landessozialgericht (LSG.) Schleswig übergegangen war, blieb gleichfalls ohne Erfolg. Das LSG. schloß sich in seinem Urteil vom 6. August 1954 der von der Beklagten in ihrem Ablehnungsbescheid gegebenen Begründung an. Die Revision wurde nicht zugelassen.

Die Klägerin hat gegen dieses Urteil, das ihr am 25. September 1954 zugestellt worden ist, zunächst durch ihren damaligen Prozeßbevollmächtigten, den Vorsitzenden der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes e. V., T, mit einem beim Bundessozialgericht (BSG.) am 19. Oktober 1954 eingegangener Schriftsatz Revision eingelegt. Am 12. März 1955 hat der jetzige Prozeßbevollmächtigte Revision mit dem Antrag eingelegt,

das Urteil des LSG. Schleswig aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung in die Vorinstanz zurückzuverweisen,

hilfsweise,

das angefochtene Urteil und den Bescheid der Beklagten vom 4. August 1952 sowie das Urteil des OVA. S vom 19. Dezember 1952 aufzuheben.

Die Klägerin hat gerügt, sie sei während des Verfahrens vor dem LSG. Schleswig wegen einer Gehirnerkrankung geschäftsunfähig und damit auch prozeßunfähig gewesen.

Die beklagte LVA. hat um Zurückweisung der Revision gebeten. Sie ist der Auffassung, daß die Klägerin zwar während ihrer Behandlung im Krankenhaus L vom 8. September bis 8. November 1952 geschäftsunfähig gewesen sei, daß aber keine sicheren Befunde dafür vorlägen, daß sie nach dieser Behandlung geschäftsunfähig geblieben sei.

Das BSG. hat durch Einholung eines Gutachtens der Psychiatrischen Abteilung des Städtischen Krankenhauses L Beweis darüber erhoben, ob und für welchen Zeitraum sich die Klägerin in der Zeit nach August 1952 in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befunden hat. Das Gutachten des stellvertretenden Chef-Arztes der Psychiatrischen und Nervenklinik, Oberarztes Dr. M, ist auf Grund von fünf stationären Beobachtungen in den Jahren 1952 bis 1955 sowie einer Nachuntersuchung vom 19. Mai 1956 zu dem Ergebnis gekommen, daß sich die Klägerin seit August 1952 - auch in den Zeiten zwischen ihren Klinikaufenthalten - in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befunden hat.

II

Gegen die Zulässigkeit der Revision bestehen keine Bedenken. Es braucht nicht erörtert zu werden, ob die am 19. Oktober 1954 durch den Vorsitzenden der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, T, eingelegte Revision den gesetzlichen Erfordernissen entspricht. Jedenfalls ist die am 12. März 1955 durch den jetzigen Prozeßbevollmächtigten eingelegte Revision unter Beachtung der Formerfordernisse des § 164 SGG eingelegt und begründet worden. Sie ist auch fristgerecht eingegangen; denn mangels ordnungsmäßiger Rechtsmittelbelehrung im angefochtenen Urteil - es fehlt in ihr der Hinweis auf den Vertretungszwang und das Erfordernis des "bestimmten Antrags" (vgl. BSG. 1 S. 194 und 227) - lief für die Revisionseinlegung die Jahresfrist des § 66 Abs. 2 SGG.

Auch der Umstand, daß die Klägerin selbst den Prozeß führt, obwohl sie ihre Prozeßfähigkeit bezweifelt, macht das Revisionsverfahren nicht unzulässig. Würde der Beteiligte in einem solchen Fall wegen Prozeßunfähigkeit von der Führung des Rechtsstreits ausgeschlossen, so würde das Prozeßergebnis insoweit in unzulässiger Weise vorweggenommen. Das Gericht muß daher einen Beteiligten als prozeßfähig behandeln, solange seine Prozeßunfähigkeit nicht festgestellt ist. Solange kann auch der im Namen des Prozeßunfähigen geführte Rechtsstreit durch Handlungen des in Wirklichkeit Prozeßunfähigen und des von ihm bestellten Prozeßbevollmächtigten weitergeführt werden (vgl. RG. in JW. 1908 S. 73 Nr. 8, JW. 1915 S. 250 Nr. 12, JW. 1917 S. 295 (297) Nr. 18, HRR. 1934 Nr. 42; BVerwG. in NJW. 1955 S. 804; Rosenberg, Lehrbuch des Deutschen Zivilprozeßrechts, 7. Auflage § 43 III 4; Stein-Jonas-Schönke-Pohle, ZPO 18. Aufl. Anm. II 1 zu § 56; Baumbach-Lauterbach, ZPO 24. Aufl. Anm. 1 d zu § 56; Wieczorek ZPO Anm. B 1 zu § 56; Brackmann, Handb. der Sozialversicherung Stand: September 1956 Bd. 1 S. 234 g).

Die Revision ist statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG). Nach dem überzeugenden Gutachten des Oberarztes Dr. M vom 27. April 1956 ist als erwiesen anzusehen, daß die Klägerin sich während des gesamten Verfahrens, von der Klageerhebung - August 1952 - an, in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befunden hat; dieser Zustand ist seiner Natur nach nicht nur vorübergehend gewesen. Die Klägerin ist somit während dieses Zeitraums geschäftsunfähig (§ 104 Nr. 2 BGB) und außerstande gewesen, sich durch Verträge zu verpflichten (§ 105 Abs. 1 BGB). Sie war daher auch prozeßunfähig (§ 71 Abs. 1 SGG). Dieser Umstand hat im vorliegenden Fall dazu geführt, daß die Klägerin im Verfahren vor dem Berufungsgericht "nicht nach Vorschrift der Gesetze vertreten war" (§ 551 Nr. 5 Zivilprozeßordnung - ZPO -).

Wie in der Rechtsprechung des BSG. anerkannt ist (BSG. 3, 180 (185) - und Urteil vom 14. Februar 1957 - 8 RV 691/55 -), gelten über § 202 SGG die unbedingten Revisionsgründe des § 551 ZPO auch im Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit, da das SGG insoweit keine Bestimmungen enthält und die grundsätzlichen Unterschiede der beiden Verfahrensarten die entsprechende Anwendung des § 551 ZPO nicht ausschließen. Das Urteil des LSG. beruht daher im Sinne des § 162 Abs. 2 SGG auf dem festgestellten Verfahrensmangel. Hierbei ist es unerheblich, daß das Berufungsgericht noch keinen Anlaß hatte, an der Prozeßfähigkeit der Klägerin zu zweifeln. Eine Nachprüfung, ob sich die angefochtene Entscheidung nicht aus anderen Gründen als richtig erweist (§ 170 Abs. 1 Satz 2 SGG), ist dem Revisionsgericht in diesem wie in allen Fällen des § 551 ZPO verwehrt (vgl. das o. a. Urteil des BSG. vom 14. Februar 1957; ferner Stein-Jonas-Schönke-Pohle a. a. O. Anm. I 3 zu § 563 ZPO sowie Anm. I, 1 (N. 1) zu § 551; Baumbach-Lauterbach a. a. O. Anm. 1 zu § 551). Das angefochtene Urteil muß daher aufgehoben werden.

Eine Entscheidung in der Sache selbst (§ 170 Abs. 2 Satz 1 SGG) konnte das BSG. nicht treffen, obwohl bereits die Klage an dem Mangel der Prozeßfähigkeit der Klägerin krankte. Anders als im Zivilprozeß (vgl. hierzu RG. in JW. 1924 S. 908 Nr. 4 und HRR. 1934 Nr. 42) ist eine Prozeßabweisung wegen mangelnder Prozeßfähigkeit im Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit im Hinblick auf § 72 Abs. 1 SGG regelmäßig ausgeschlossen (vgl. Hofmann-Schroeter, SGG 2. Aufl. Anm. 1 zu § 72). Diese Vorschrift trifft eine mit § 57 ZPO vergleichbare Regelung, allerdings - um "den Besonderheiten der Sozialgerichtsbarkeit Rechnung" zu tragen - mit Ergänzungen, wie sie bisher im § 15 der Verordnung über Geschäftsgang und Verfahren der Oberversicherungsämter vom 24. Dezember 1911 (RGBl. I S. 1095) in der Fassung vom 14. Dezember 1923 (RGB. I S. 1199) - OVAO - enthalten waren (so die amtliche Begründung zu § 21 des Entwurfs einer Sozialgerichtsordnung - entspricht § 72 SGG - in Bundestags-Drucks. Nr. 4357, 1. Wahlp., S. 25). Nach § 15 OVAO hatte der Vorsitzende für nicht prozeßfähige Parteien ohne gesetzlichen Vertreter die Bestellung eines Vormunds oder Pflegers zu veranlassen; bis zu dessen Eintritt konnte der Vorsitzende der Partei für das Verfahren einen besonderen Vertreter bestellen. Eine Prozeßabweisung aus Gründen der fehlenden Prozeßfähigkeit war hiernach im Spruchverfahren vor dem OVA. ausgeschlossen; das gleiche galt für das Verfahren der Versicherungsämter (§ 18 Abs. 1 OVAO vom 24. Dezember 1911 (RGBl. I S. 1107)). Nun hat zwar § 72 Abs. 1 SGG dem Vorsitzenden des Gerichts nicht eine dem § 15 Abs. 1 OVAO entsprechende Verpflichtung auferlegt, die Bestellung eines gesetzlichen Vertreters für die prozeßunfähige Partei zu veranlassen. Der Gedanke, daß von Amts wegen für eine ordnungsmäßige Vertretung des Prozeßunfähigen gesorgt werden muß und grundsätzlich eine Prozeßabweisung wegen fehlender Prozeßfähigkeit unzulässig ist, hat jedoch in § 72 Abs. 1 SGG darin seinen Ausdruck gefunden, daß der besondere Vertreter "bis zum Eintritt eines Vormunds oder Pflegers" vom Vorsitzenden des Gerichts bestellt werden kann. Das Verfahren kann - nicht anders als vor Inkrafttreten des SGG im Spruchverfahren vor den Versicherungsbehörden - mit einem Beteiligten, dessen Prozeßunfähigkeit festgestellt ist, nur weitergeführt werden, wenn dieser durch einen gesetzlichen Vertreter oder einen von Gerichts wegen bestellten besonderen Vertreter vertreten ist. Will der Vorsitzende des Gerichts davon absehen, für einen nicht prozeßfähigen Beteiligten ohne gesetzlichen Vertreter einen besonderen Vertreter nach § 72 Abs. 1 SGG zu bestellen, so bleibt ihm regelmäßig nur der - bisher in § 15 Abs. 1 Satz 1 OVAO ausdrücklich vorgesehene - Weg, die Bestellung eines gesetzlichen Vertreters zu veranlassen. Das ist die Alternative zu der durch § 72 Abs. 1 SGG erteilten Befugnis, nach richterlichem Ermessen einen besonderen Vertreter zu bestellen. Eine Prozeßabweisung wegen der Prozeßunfähigkeit eines Beteiligten ist jedenfalls im sozialgerichtlichen Verfahren grundsätzlich ausgeschlossen. Ob eine Prozeßabweisung ausnahmsweise zulässig ist, wenn die Klage eines Prozeßunfähigen offensichtlich haltlos ist und demnach die Genehmigung der Prozeßführung durch den gesetzlichen oder besonderen Vertreter von vornherein ausgeschlossen erscheint, braucht in diesem Zusammenhang nicht erörtert zu werden.

Die Sache war daher an das Berufungsgericht zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - unter Beachtung der vorstehend angeführten Möglichkeiten zur Herbeiführung einer den gesetzlichen Erfordernissen entsprechenden Vertretung der Klägerin - zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG). Die Kostenentscheidung bleibt der abschließenden Entscheidung vorbehalten.

Die Festsetzung der Rechtsanwaltsgebühren beruht auf § 196 Abs. 4 Satz 1 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI707729

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