Tenor

Die Sprungrevision der beklagten Krankenkasse gegen das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 27. November 1964 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

Der Kläger wurde im Jahre 1936 geboren. Nach seiner Eheschließung wurde bei ihm im Mai und Oktober 1961 durch Untersuchungen in der Universitäts-Frauenklinik in Göttingen eine starke Einengung der Zeugungsfähigkeit festgestellt.

Da bei dem Kläger und seiner Ehefrau ein ernsthafter Wunsch nach eigenen Kindern bestand und die Ehefrau wegen der voraussichtlichen Nichterfüllung dieses Wunsches bereits an neurotischen Beschwerden litt, begab sich der Kläger auf ärztliches Anraten hin für die Zeit vom 15. bis 21. November 1961 in stationäre Behandlung auf die urologische Station der Chirurgischen Universitäts-Klinik Göttingen zur Erhebung einer genaueren Diagnose. Es wurden eine Darstellung des Samenweges in Narkose sowie eine Hodenbiopsie durchgeführt und eine genaue Diagnose erstellt.

Die beklagte Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK), deren Mitglied der Kläger war, lehnte die Übernahme der Krankenhauskosten und die Zahlung von Kranken- oder Hausgeld mit Bescheid vom 20. Dezember 1961 ab. Zur Begründung führte sie aus, die Behandlung sei nicht wegen einer Krankheit i. S. der Reichsversicherungsordnung (RVO) erfolgt, so daß die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Krankenhilfe nicht erfüllt seien. Zeugungsunfähigkeit sei nur dann als Krankheit im sozialversicherungsrechtlichen Sinn anzusehen, wenn sie wegen subjektiver Beschwerden eine Heilbehandlung erfordere oder wenn sie Arbeitsunfähigkeit herbeigeführt habe. Den Widerspruch des Klägers wies die Widerspruchsstelle der Beklagten durch Bescheid vom 27. März 1962 zurück.

Mit seiner Klage hat der Kläger vorgetragen, er habe bei einem Andauern seiner Sterilität seelische Beschwerden erwarten müssen, zumal seine Ehefrau bereits durch die Nichterfüllung des Kinderwunsches depressive Verstimmungszustand erlitten habe. Aus diesen Gründen sei eine Behandlung zur Behebung der Sterilität und die in ihrem Rahmen durchgeführte stationäre Behandlung notwendig gewesen. Der Kläger hat beantragt,

den Bescheid vom 20. Dezember 1961 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27. März 1962 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die bestimmungsgemäßen Leistungen für die stationäre Behandlung vom 15. bis zum 21. November 1961 zu übernehmen.

Das Sozialgericht (SG) hat durch Urteil vom 27. November 1964 der Klage in vollem Umfang stattgegeben und die Berufung zugelassen. In seinen Entscheidungsgründen hat es ausgeführt, die in der Zeit vom 15. bis 21. November 1961 stationär behandelte Sterilität sei eine Krankheit i. S. der Sozialversicherung. Der Kläger sei durch sie im Kern seiner Persönlichkeit getroffen. Wenn sie zur Zeit der stationären Behandlung noch nicht zu körperlichen Beschwerden oder zu seelischen Beeinträchtigungen geführt habe, so sei das nicht entscheidend. Unter Berufung auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) 11. Senat vom 22. April 1959 (Bd. 9, 291 ff) vertrat es die Auffassung, das Nichtvorhandensein der Zeugungsfähigkeit führe nach der allgemeinen Lebenserfahrung früher oder später in der Regel zu inneren Konfliktsituationen, die normalerweise auch die äußere Lebensführung, insbesondere die Beziehungen zur Umwelt und damit auch Leistung und Erfolg des Betroffenen im Erwerbsleben nachteilig beeinflußten. Ein solcher Zustand sei nach der Entscheidung des erkennenden Senats vom 28. Oktober 1960 (BSG 13, 134 ff) und unter einer durch die Art. 20 i.V.m. 6 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) vorgeschriebenen Ausrichtung nach dem sozialen Schutzbedürfnis unter besonderer Berücksichtigung von Ehe und Familie als Krankheit i. S. der Sozialversicherung anzusehen.

Gegen dieses Urteil hat die Beklagte unter Beifügung der schriftlichen Einwilligungserklärung des Klägers Sprungrevision eingelegt mit dem Antrag,

das Urteil des SG Hildesheim vom 27. November 1964 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Beklagte rügt die Verletzung der §§ 182 und 184 RVO sowie der Art. 20 und 6 GG. Sie vertritt nach wie vor die Auffassung, Sterilität sei nicht als Krankheit i. S. der §§ 182, 184 RVO anzusehen. Das SG habe sich zu Unrecht auf die Entscheidung des erkennenden Senats vom 28. Oktober 1960 aaO berufen. Der in diesem Urteil entschiedene Fall einer Subluxation-Praeluxation eines dreijährigen Kindes könne hinsichtlich der festgestellten drohenden Verschlimmerung nicht mit einer bestehenden Zeugungsunfähigkeit verglichen werden, so daß auch die Grundsätze dieses Urteils im vorliegenden Fall nicht angewandt werden könnten. Die Zeugungsunfähigkeit kenne nicht wie die Luxation verschiedene Stadie der Progressivität. Außerdem sei sie im konkreten Fall auch ohne Auswirkung auf die Erwerbsfähigkeit des Klägers geblieben. Das Urteil des SG stütze sich auch zu Unrecht auf die Entscheidung des 11. Senats vom 22. April 1959. Darin habe das BSG über den Verlust der Zeugungsfähigkeit als Schädigungsfolge nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) entschieden und nicht über das Nichtvorhandensein der Zeugungsfähigkeit. Es sei aber ein wesentlicher Unterschied, ob ein gesunder Mann durch Kriegseinwirkung die Zeugungsfähigkeit verliere oder ob ein Zeugungsunfähiger das erst im Laufe der Jahre feststelle. Schließlich sei es auch verfehlt, in Art. 20 GG mehr als eine programmatische Bestimmung zu sehen. Ebensowenig könne aus Art. 6 Abs. 1 GG die Behandlungsbedürftigkeit der Zeugungsunfähigkeit hergeleitet werden, wie es allerdings während des nationalsozialistischen Regimes auf Grund des Interesses der „Volksgemeinschaft” an der Hebung der Geburtenzahl geboten erschienen sei.

Die Sprungrevision der beklagten AOK ist nicht begründet. Zu Recht hat das SG die ablehnenden Bescheide der Beklagten aufgehoben und diese dem Klageantrag gemäß zu Leistungen der Krankenhilfe für die Zeit vom 15. bis 21. November 1961 verurteilt.

Der Kläger befand sich auf ärztliches Anraten zu der fraglichen Zeit im Krankenhaus, um für sein bereits früher festgestelltes Leiden – starke Einengung der Zeugungsfähigkeit, vermutlich als Folgezustand einer früher durchgemachten Infektionskrankheit (Mumps) – eine genauere Diagnose zum Zwecke einer erfolgreichen Therapie zu erhalten. Es handelte sich hierbei entgegen der Auffassung der Beklagten nicht um eine Maßnahme der vorbeugenden Gesundheitsfürsorge. Vielmehr war der Klinikaufenthalt geboten, um einem bereits im Kern erkannten Leidenszustand gezielt durch Erhebung einer genaueren Diagnose und die darauf gestützte richtungweisende Festlegung der künftigen Behandlung zu begegnen. Bei dieser Sachlage würde die Ablehnung der Krankenhauspflege einen Ermessensmißbrauch darstellen und wäre demgemäß die Verurteilung der AOK zur Übernahme der Krankenhauskosten zulässig (vgl. BSG 9, 232, 239 f; 13, 134, 139; 16, 177, 178), wenn das Leiden des Klägers „Krankheit” i. S. des § 182 RVO ist.

Nach der feststehenden Rechtsprechung des BSG (Bd. 13, 134, 136; 16, 177, 178; 19, 179, 181) ist unter Krankheit der regelwidrige Körper- oder Geisteszustand zu verstehen, dessen Eintritt entweder allein die Notwendigkeit einer Heilbehandlung oder zugleich oder ausschließlich Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat. Auf den vorliegenden Fall abgestellt würde „Krankheit” beim Kläger vorliegen, wenn sein Körperzustand „regelwidrig” war und eine Heilbehandlung erforderte. Beide Voraussetzungen sind erfüllt.

Daß starke Einengung der Zeugungsfähigkeit ein Abweichen von der „Norm” des gesunden Mannes bedeutet, steht außer Frage.

Ein solcher Zustand ist „regelwidrig” i. S. der herkömmlichen Terminologie. Die Abweichung von der Norm braucht sich entgegen der Meinung der Beklagten nicht auf die Erwerbsfähige des Betroffenen auszuwirken. Dieser Fragenbereich tritt erst im Zusammenhang mit der Arbeitsunfähigkeit in Erscheinung, einer Frage, die bei der Entscheidung des vorliegenden Falls außer Betracht bleiben kann. Die Regelwidrigkeit eines Körper- oder Geisteszustandes ist bereits mit der Abweichung von der durch das Leitbild des gesunden Menschen geprägten Norm gegeben.

Der regelwidrige Körperzustand des Klägers erforderte eine Heilbehandlung. Das Reichsversicherungsamt (RVA) hatte allerdings bei Dauerleiden, deren Krankheitsbild fixiert ist, die Einschränkung gemacht, daß Behandlungsbedürftigkeit im krankenversicherungsrechtlichen Sinne nur anerkannt werden könne, wenn sich besondere Beschwerden oder Schmerzen einstellten oder wenn die Gefahr einer wesentlichen Verschlimmerung des Zustandes drohe (RVA, Besch. vom 6. Juli 1939 in AN 1939, 412 und Urteil vom 24.1.1940, EuM 46, 149, 150 f). Wenn das RVA dessenungeachtet die Unfruchtbarkeit von Ehefrauen auch ohne Vorliegen besonderer Beschwerden als Krankheit anerkannt hatte, so wurde die Behandlungsbedürftigkeit als „zwar nicht im Interesse des Versicherten selbst, wohl aber im Interesse der Allgemeinheit, der Volksgemeinschaft geboten” erachtet (Grunds. Entsch. Nr. 4992, AN 1936, 232). Diese auf einen bestimmten Tatbestand bezogene Deutung des Dauerleidens als Krankheit wurde aber nicht als eine allgemeine Erweiterung des Krankheitsbegriffs sondern als eine Ausnahme zur Wahrung „bestimmter bevölkerungspolitischer Gesichtspunkte” angesehen (EuM 46, 149, 152).

Demgegenüber ist das BSG in seiner Rechtsprechung davon ausgegangen, daß der klassische Krankheitsbegriff der RVO auch bei Dauerleiden unverkürzt zur Geltung zu bringen ist und die Versuche zur Einschränkung dieses Begriffs mit dem Sinn und Zweck der gesetzlichen Krankenversicherung unvereinbar sind (vgl. BSG 13, 134, 136 für den Fall des angeborenen Leidens – Subluxation – Praeluxation eines Hüftgelenks – und BSG 25, 116, 118 für den Fall des erworbenen Leidens – Zahnlosigkeit –). Wenn allgemein bei einem regelwidrigen Körper- oder Geisteszustand für die Frage, ob der Versicherungsfall der Krankheit gegeben ist, – insbesondere – darauf abgestellt wird, ob er behandlungsbedürftig ist, und nicht danach gefragt wird, ob er besondere Schmerzen oder Beschwerden auslöst oder die Gefahr einer Verschlimmerung in sich birgt, so kann diese Grundvoraussetzung für die Inanspruchnahme der gesetzlichen Krankenversicherung bei Dauerleiden nicht enger gefaßt werden. Hinzu kommt, daß die Einbeziehung der „besonderen Schmerzen oder Beschwerden” in den Beurteilungsbereich der Träger der gesetzlichen Krankenversicherung diese wegen des starken subjektiven Einschlags einer solchen Voraussetzung vor große Schwierigkeiten der Ermittlung und Bewertung stellen würde. Im übrigen würde bei sachgemäßem Verständnis des Begriffs der besonderen Beschwerden, der den meist mit Dauerleiden verbundenen Funktionsausfall und auch die psychischen Folgewirkungen berücksichtigen müßte, regelmäßig das Vorliegen besonderer Beschwerden bei Dauerleiden anzunehmen sein.

Demnach ist auch für die Entscheidung im vorliegenden Falle allein erheblich, ob der regelwidrige Zustand des Klägers behandlungsbedürftig war, d. h. ob er nach den Regeln der ärztlichen Kunst einer Heilbehandlung mit dem Ziel der Heilung, zum mindesten der Besserung oder der Verhütung der Verschlimmerung des anomalen Zustands oder der Linderung von Schmerzen zugänglich war. Nach den Feststellungen der Vorinstanz sind diese Voraussetzungen erfüllt. Der Kläger war somit krank i. S. des § 182 Abs. 1 RVO.

Demnach mußte die Sprungrevision der AOK gegen das angefochtene Urteil zurückgewiesen werden. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.

 

Unterschriften

Dr. Langkeit, Dr. Krebs, Spielmeyer

 

Veröffentlichung

Veröffentlicht am 28.04.1967 durch Schäfers RegObersekretär Schriftführer

 

Fundstellen

BSGE, 240

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