Leitsatz (amtlich)

Hat die Krankenkasse als Einzugsstelle irrtümlich eine falsche Rechtsauskunft erteilt, die den Arbeitgeber eines versicherungspflichtigen Angestellten veranlaßte, diesen als versicherungsfrei zu behandeln, so ist die Krankenkasse nicht nach dem Grundsatz von Treu und Glauben gehindert, die Beiträge zur Angestelltenversicherung - soweit sie nicht verjährt sind (RVO § 29 Abs 1) - nachzuerheben.

 

Leitsatz (redaktionell)

Die fernmündliche Auskunft einer Krankenkasse, die auf Anfrage eines Arbeitgebers über die Rechtslage erteilt wird, kann im allgemeinen nicht als Verwaltungsakt angesehen werden. Dies gilt insbesondere dann, wenn nicht einmal ersichtlich ist, daß der Tatbestand des Einzelfalles dargelegt wurde. Die fernmündliche Beantwortung einer Frage ist eine Rechtsauskunft, die nicht die Bindungswirkung nach SGG § 77 zur Folge hat.

 

Normenkette

AVG § 118 Fassung: 1953-08-07, § 121 Fassung: 1953-08-07; RVO § 29 Abs. 1 Fassung: 1938-09-01; SGG § 77 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 8. Juli 1959 und des Sozialgerichts Düsseldorf vom 6. Februar 1956 sowie der Bescheid der beklagten Krankenkasse vom 13. April 1953, soweit er die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung betrifft, werden aufgehoben.

Im übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Der - im Laufe des Rechtsstreits gestorbene - technische Angestellte Walter K (K.) war bei der Klägerin beschäftigt. Sein Gehalt betrug seit März 1951 monatlich 525.- DM. Außerdem bezog er Überstundenvergütungen für Mehrarbeit, die er seit Beginn des Jahres 1951 über die tarifliche Arbeitszeit hinaus regelmäßig leistete.

Auf fernmündliche Anfrage erhielt die Klägerin von der beklagten Krankenkasse die Auskunft, bei Arbeitnehmern, die regelmäßig und fortlaufend für längere Zeit Mehrarbeit leisteten, seien die hierfür gezahlten Mehrarbeitsvergütungen bei der Ermittlung des Jahresarbeitsverdienstes zu berücksichtigen, so daß sie unter Umständen ein Ausscheiden aus der Versicherungspflicht bewirkten. Da der Angestellte K. bei Zusammenrechnung von Gehalt und Überstundenvergütung jährlich mehr als 7.200,- DM - die damals für die Versicherungspflicht in der Angestelltenversicherung und in der Arbeitslosenversicherung maßgebliche Grenze - verdiente, meldete die Klägerin ihn zum 31. Juli 1951 bei der beklagten Krankenkasse in der Angestelltenversicherung (AV) und in der Arbeitslosenversicherung (ArblV) ab. Als die für die Versicherungspflicht maßgebende Grenze des Jahresarbeitsverdienstes zum 1. September 1952 auf 9.000 DM erhöht wurde, meldete die Klägerin den Angestellten K. wieder zur AV und zur ArblV bei der beklagten Krankenkasse an. In der Zeit vom 1. August 1951 bis zum 31. August 1952 hatte der Angestellte K. für Februar und April 1952 freiwillig Beitragsmarken der Klasse X entrichtet.

Auf Grund des Ergebnisses einer Betriebsprüfung, die im April 1953 bei der Klägerin durchgeführt wurde, kam die beklagte Krankenkasse zur Auffassung, daß der Angestellte K. auch in der Zeit vom 1. August 1951 bis zum 31. August 1952 in der AV und in der ArblV versicherungspflichtig gewesen sei, weil die Überstundenvergütungen bei der Ermittlung des Jahresarbeitsverdienstes nicht hätten berücksichtigt werden dürfen. Mit Bescheid vom 13. April 1953 forderte die beklagte Krankenkasse von der Klägerin die Nachentrichtung der Beiträge zur AV und zur ArblV für die Zeit vom 1. Oktober 1951 bis zum 31. August 1952 in Höhe von 824,12 DM.

Die Klägerin bestritt die Berechtigung dieser Beitragsforderung mit der Begründung, die beklagte Krankenkasse habe ihr früher fernmündlich eine gegenteilige Auskunft erteilt; außerdem sei der Erlaß des Arbeitsministers des Landes Nordrhein-Westfalen vom 24. September 1951, auf den sich die Beklagte zur Stütze ihrer geänderten Rechtsauffassung berufe, nicht veröffentlicht worden. Nunmehr rief die beklagte Krankenkasse das Versicherungsamt der Stadt Remscheid an. Mit Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ging das Verfahren als Klage auf das Sozialgericht (SG) über. Vor dem SG hat die Klägerin beantragt

festzustellen, daß der Beigeladene K. in der Zeit vom 1. Oktober 1951 bis 31. August 1952 in der AV und in der ArblV versicherungsfrei war.

Die beklagte Krankenkasse hat

Klageabweisung

beantragt, Den gleichen Antrag hat die beigeladene Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) gestellt, während die beigeladene Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (BfArb) und der Beigeladene K. sich dem Antrag der Klägerin anschlossen.

Das SG hat der Klage stattgegeben (Urteil vom 6. Februar 1956). Gegen dieses Urteil hat die beigeladene BfA Berufung eingelegt mit dem Antrag,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Sie führte zur Begründung aus, zu Unrecht habe das SG den Erlaß des Reichsarbeitsministers (RAM) vom 24. Oktober 1944 (AN S. 302) als nicht maßgebend angesehen: Daß die Mehrarbeitsvergütungen nach dem Gemeinsamen Erlaß des Reichsministers der Finanzen und des RAM vom 10. September 1944 (AN S. 281) - als Entgelt - beitragspflichtig seien, schließe nicht aus, sie bei der Ermittlung des Jahresarbeitsverdienstes unberücksichtigt zu lassen, wenn eine entsprechende Bestimmung - hier: der Erlaß vom 24. Oktober 1944 - vorliege.

Die beklagte Krankenkasse hat sich dem Antrag der BfA angeschlossen.

Die Klägerin hat beantragt,

die Berufung mit der Maßgabe zurückzuweisen, daß der Bescheid der beklagten Krankenkasse vom 13. April 1953 aufgehoben wird.

Sie hielt die vom SG vertretene Auffassung für richtig, daß der Erlaß des RAM vom 24. Oktober 1944 nicht anzuwenden sei mit der Folge, daß der Angestellte K. wegen Überschreitens der Jahresarbeitsverdienstgrenze in der vom angefochtenen Beitragsbescheid erfaßten Zeit versicherungsfrei gewesen sei. Selbst wenn aber Versicherungspflicht bestanden habe, hätte die beklagte Krankenkasse die Beiträge nicht mehr nachträglich fordern dürfen, da sie, die Klägerin, auf die Verbindlichkeit der ihr von der beklagten Krankenkasse erteilten Auskunft habe vertrauen dürfen.

Die beigeladene BfArb hat beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie vertrat die Auffassung, daß der Erlaß vom 24. Oktober 1944 infolge der Neufassung des § 165 der Reichsversicherungsordnung (RVO) und des § 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) durch die Erste Verordnung zur Vereinfachung des Leistungs- und Beitragsrechts in der Sozialversicherung vom 17. März 1945 (RGBl I 41) - 1. VereinfVO - gegenstandslos geworden sei.

Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 8. Juli 1959 - unter Zulassung der Revision - das Urteil des SG wie folgt geändert:

"Unter teilweiser Aufhebung des Verwaltungsaktes der Beklagten vom 13.4.1953 wird festgestellt, daß der Beigeladene zu 3) in der Zeit vom 1.10.1951 bis 31.8.1952 versicherungspflichtig zur Angestellten- und Arbeitslosenversicherung war, die Nachforderung der Beiträge von der Klägerin für den obigen Zeitraum jedoch unzulässig ist.

Im übrigen wird die Klage abgewiesen und die weitergehende Berufung zurückgewiesen."

Das LSG hat es als "eine vom Gericht als sachdienlich angeregte zulässige Erweiterung des Klageantrags (§ 99 Abs. 3 SGG)" angesehen, daß die Klägerin vom Feststellungsantrag zum Anfechtungsantrag übergegangen ist; im Grunde habe die Klägerin stets die Aufhebung des Beitragsbescheids der beklagten Krankenkasse vom 13. April 1953 begehrt. In der Sache selbst habe das SG zwar zu Unrecht den Beigeladenen K. als versicherungsfrei angesehen; denn dessen Jahresarbeitsverdienst habe die für die Versicherungspflicht maßgebliche Grenze nicht überschritten, weil die Mehrarbeitsvergütungen nach dem - noch gültigen - Erlaß des RAM vom 24. Oktober 1944 unberücksichtigt bleiben müßten. Dennoch hätte die beklagte Krankenkasse nicht die Nachzahlung der Beiträge verlangen dürfen. Die im Jahre 1951 von der beklagten Krankenkasse anläßlich der telefonischen Unterredung gegenüber der Klägerin geäußerte Auffassung, Mehrarbeitsvergütungen seien auf den Jahresarbeitsverdienst anzurechnen, stellte keine bloße Auskunft, sondern einen Verwaltungsakt dar, durch den die Versicherungsfreiheit des Angestellten K. festgestellt worden sei, auch wenn möglicherweise bei der fernmündlichen Anfrage kein bestimmter Arbeitnehmer genannt worden sei. Mangels ausdrücklicher gesetzlicher Regelungen - § 77 SGG komme im vorliegenden Fall nicht zur Anwendung, da erst am 1. Januar 1954 in Kraft getreten - sei die Zulässigkeit der Rücknahme des fernmündlich erteilten rechtswidrigen Verwaltungsakts nach den in Rechtsprechung und Schrifttum entwickelten allgemeinen Rechtsgrundsätzen zu beurteilen. Der Verwaltungsakt sei für die Klägerin begünstigend, weil er sie von der Pflicht zur Einbehaltung des Arbeitnehmeranteils und Abführung des Gesamtsozialversicherungsbeitrags befreit habe und für den Beigeladenen K. teils belastend - Beeinträchtigung des Versicherungsschutzes -, teils begünstigend - Freistellung von der Zahlung seines Beitragsanteils -. Als die beklagte Krankenkasse im Jahre 1953 ihre Entscheidung über die Versicherungsfreiheit zurückgenommen habe, sei jedoch die etwaige Belastung "bereits wieder weitgehend entfallen." Deshalb sei die fehlerhafte Entscheidung über die Versicherungsfreiheit im vorliegenden Fall wie ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt zu beurteilen. Außerdem sei zu berücksichtigen, daß die beklagte Krankenkasse mit ihrer Nachforderung von Beiträgen in der Vergangenheit liegende Wirkungen ihres rechtswidrigen Verwaltungsakts beseitigen wolle. In einem solchen Falle müßten sich die beteiligten Versicherungsträger entgegenhalten lassen, daß die Unterlassung der rechtzeitigen Beitragsabführung in ihren Verantwortungsbereich falle. Deshalb habe das öffentliche Interesse den schutzwürdigen privaten Interessen nachzustehen. Als solche kämen hier der Vertrauensschutz des Arbeitgebers einerseits, das Interesse des Arbeitnehmers an Versicherungsschutz andererseits in Betracht. Im Bereich der Krankenversicherung und der Arbeitslosenversicherung beeinträchtige die unterlassene Beitragszahlung nicht den Versicherungsschutz. Anders liege es in der Regel für den Bereich der Rentenversicherung. Hier könne die Unterlassung der Beitragszahlung u. U. dazu führen, daß die Wartezeit nicht erfüllt werde oder - für die Zeit vor dem 1. Januar 1957 - die Anwartschaft erlösche oder auch die künftige Rentenleistung niedriger werde. Im vorliegenden Fall könne die Unterlassung der Nachzahlung der 11 Beiträge nach Lage der Umstände für den Beigeladenen K. nur eine geringfügige Verminderung der Rentenhöhe zur Folge haben. Diese "angesichts der umfangreichen vorhandenen Beitragsleistung sicherlich sehr geringe Beeinträchtigung der Belange des Beigeladenen" rechtfertige es auch hinsichtlich der Beiträge zur Angestelltenversicherung nicht, daß der Arbeitgeber durch die Beitragseinhebung nachträglich und überdies doppelt belastet würde, weil er nunmehr auch den Arbeitnehmeranteil aufbringen müsse. Sofern man in der telefonischen Äußerung der beklagten Krankenkasse keinen Verwaltungsakt, sondern eine bloße Auskunft erblicke, komme man zum gleichen Ergebnis. Nach den Grundsätzen von Treu und Glauben könne eine Krankenkasse, die die rechtzeitige Unterlassung der Beitragsabführung selbst herbeigeführt habe, nicht mehr die Beiträge zu einem Zeitpunkt fordern, in dem der Arbeitgeber die Arbeitnehmeranteile nicht mehr einbehalten könne.

Gegen dieses Urteil hat die beigeladene BfA Revision eingelegt mit dem Antrag,

das angefochtene Urteil und das Urteil des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen, soweit sie sich gegen die Nachforderung von Beitragsanteilen zur Rentenversicherung der Angestellten richtet.

Zur Begründung hat sie geltend gemacht: Zu Unrecht habe das LSG die telefonische Mitteilung der beklagten Krankenkasse im Jahre 1951 als Verwaltungsakt angesehen. Es habe sich um eine Auskunft und keine hoheitliche Regelung des Einzelfalls gehandelt. - Selbst wenn man aber in der telefonischen Äußerung der Beklagten einen Verwaltungsakt erblicke, sei die beklagte Krankenkasse zur Nachforderung der Beiträge berechtigt gewesen. Nur das positive Anerkenntnis der Versicherungspflicht durch den Versicherungsträger i. S. des § 145 Abs. 3 AVG - inhaltlich den bis zum Inkrafttreten des AnVNG auch für die AV maßgebenden § 1445 Abs. 2 RVO aF entsprechend - binde den Versicherungsträger, während eine die Rentenversicherungspflicht verneinende Erklärung des Versicherungsträgers der späteren Bejahung der Versicherungspflicht und Nachforderung der Beiträge für die gleiche Zeit nicht entgegenstehe (vgl. RVA vom 1. Dezember 1923, AN 1924, 34). - Unzutreffend sei auch die differenzierende Betrachtungsweise des LSG, wonach die Feststellung der beklagten Krankenkasse vom Jahre 1951 teils begünstigender, teils belastender Natur sei. Die fehlerhafte Verneinung der Versicherungspflicht sei - "als Vorenthaltung eines Privilegs" - für den Versicherten immer eine Belastung. Der belastende Verwaltungsakt sei aber jederzeit zugunsten des Betroffenen abänderungsfähig. Demgegenüber sei die Rechtssituation des Arbeitgebers "akzessorisch", "derivativ", "reflexbedingt" und könne keine selbständige Beurteilung dahingehend erfahren, ob eine die Versicherungspflicht eines Arbeitnehmers betreffende Entscheidung der Krankenkasse als Einzugsstelle begünstigender oder belastender Natur sei. Selbst wenn aber die Verneinung der Versicherungspflicht eines Arbeitnehmers für den Arbeitgeber stets eine Begünstigung darstellte, müsse die Abwägung der Interessen des Arbeitgebers an der Aufrechterhaltung des fehlerhaften Verwaltungsakts und des Arbeitnehmers an dessen Beseitigung dazu führen, diesen Widerstreit der Interessen zugunsten des Arbeitnehmers zu entscheiden; denn das Individualinteresse des Versicherten decke sich mit dem öffentlichen Interesse, daß jeder vom Gesetz als des Versicherungsschutzes bedürftig Anerkannte diesen Schutz auch erhalte. Ob die durch Unterlassung der Beitragszahlung eintretende Schädigung des Versicherten größer oder kleiner sei und ob dieser selbst sie als solche empfinde, sei dabei unerheblich. Den berechtigten Interessen des Arbeitgebers werde durch die relativ kurze Verjährungsfrist (§ 29 Abs. 1 RVO) Rechnung getragen.

Die Klägerin hat beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die beigeladene BfArb und die Rechtsnachfolger des während des Revisionsverfahrens gestorbenen Beigeladenen K. haben im Revisionsverfahren keine Erklärungen zur Sache abgegeben.

II.

Die Revision ist begründet. Zu Unrecht hat das LSG die Nachforderung der Beiträge für die AV als unzulässig angesehen.

Die Klägerin hat ihren Klageantrag - ursprünglich auf Feststellung der Versicherungsfreiheit des Beigeladenen K. in der AV und in der ArblV für die Zeit vom 1. Oktober 1951 bis zum 31. August 1952 lautend - während des Berufungsverfahrens dahin gefaßt, daß sie in erster Linie den Beitragsbescheid der beklagten Krankenkasse vom 13. April 1953 anfechte und nur noch hilfsweise die Feststellung der Versicherungsfreiheit begehre. Das LSG hat den Übergang vom Antrag auf Feststellung der Versicherungsfreiheit zum Antrag auf Aufhebung des Beitragsbescheids als nach § 99 Abs. 3 Nr. 2 SGG zulässige Erweiterung des Klageantrags angesehen. Das könnte dann nicht unbedenklich sein, wenn der Aufhebungsklage ein Vorverfahren vorgeschaltet sein müßte (vgl. § 80 Nr. 1 SGG). Im vorliegenden Fall bedurfte es jedoch eines Vorverfahrens nicht, da es sich um einen mit Inkrafttreten des SGG vom Versicherungsamt auf das SG übergegangenen Rechtsstreit handelt (§ 215 Abs. 2, Abs. 4 Satz 2 SGG). Unter diesen Umständen ist der Übergang von der Feststellungsklage zur Aufhebungsklage - ebenso wie die Umstellung des Feststellungsantrags auf einen Leistungsantrag (BSG vom 10. Juni 1955 - 10 RV 20/54 - Sozialrechtliche Entscheidungssammlung BSG I/4, SGG § 99 Nr. 1) - als zulässige Erweiterung des Klageantrags anzusehen, wenn der Klagegrund nicht geändert wird. Das ist hier aber der Fall. Die Klägerin hat sich vom Beginn dieses Rechtsstreits an darauf berufen, daß sie auf jeden Fall von der Beitragsforderung der beklagten Krankenkasse freigestellt werden müsse, selbst wenn K. in der fraglichen Zeit versicherungspflichtig gewesen wäre. Damit erwies sich der ursprünglich allein gestellte und hilfsweise aufrechterhaltene Antrag auf Feststellung der Versicherungsfreiheit von vornherein als unzulänglich. Im Grund begehrte die Klägerin, wie auch das LSG richtig erkannt hat, stets die Aufhebung des Beitragsbescheids vom 13. April 1953, so daß die Neufassung des Klageantrags in der Berufungsinstanz möglicherweise nur als eine Verdeutlichung des von der Klägerin "erhobenen Anspruchs" im Sinne des § 123 SGG, auf jeden Fall aber als zulässige Erweiterung des Klageantrags anzusehen ist.

Streitig ist - nach der Einschränkung des Revisionsantrags durch die BfA, die im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) steht (BSG 17, 1, 3 und 17, 173, 174 f) - nur noch die Nachforderung der Beiträge zur AV für die Zeit vom 1. Oktober 1951 bis zum 31. August 1952. Zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, daß K. in dieser Zeit versicherungspflichtig war. Nach Abs. 2 des Erlasses des RAM vom 29. Oktober 1944 (AN 302), der geltendes Recht ist (BSG 18, 65), sind Vergütungen, die für eine über die regelmäßige Arbeitszeit von 48 Wochenstunden hinaus geleistete Mehrarbeit gewährt werden, für die Jahresarbeitsverdienstgrenzen nicht anzurechnen. Die für die Versicherungspflicht in der AV maßgebliche Jahresarbeitsverdienstgrenze war in der fraglichen Zeit 7.200.- DM (§ 1 Abs. 2 Nr. 2 AVG idF des Art. 6 der Ersten Verordnung zur Vereinfachung des Leistungs- und Beitragsrechts in der Sozialversicherung vom 17. März 1945 - 1. VereinfVO - RGBl I 41). Blieben die Mehrarbeitsvergütungen für die Ermittlung des Jahresarbeitsverdienstes unberücksichtigt, so hielt sich der Jahresarbeitsverdienst des Angestellten K. - bei einem Monatsgehalt von 525 DM - innerhalb der genannten Grenze.

Dessenungeachtet hält das LSG die Nachforderung der Beiträge zur AV für unzulässig, weil die beklagte Krankenkasse im Jahre 1951 bei einer telefonischen Unterredung im Jahre 1951 die Auffassung geäußert habe, Mehrarbeitsvergütungen seien auf den Jahresarbeitsverdienst anzurechnen. Diese Auffassung ist irrig. Die telefonische Erklärung der beklagten Krankenkasse stellt keinen Verwaltungsakt dar. Zwar ist für Verwaltungsakte der Krankenkassen im allgemeinen keine Form vorgeschrieben. Es ist daher nicht ausgeschlossen, daß eine Krankenkasse hoheitliche Regelungen des Einzelfalles auch fernmündlich trifft. Doch wäre ein solches Vorgehen in Fragen der Versicherungspflicht oder Beitragspflicht angesichts der weittragenden Wirkungen solcher Entscheidungen sehr ungewöhnlich und im Hinblick darauf, daß der beteiligte Arbeitnehmer und die beteiligten Versicherungsträger der anderen Versicherungszweige von der Entscheidung mitbetroffen werden (BSG 15, 118, 123; vgl. auch BSG 17, 261, 263), auch nicht sachgemäß. Deshalb werden fernmündliche Äußerungen einer Krankenkasse zur Rechtslage, die auf Anfrage ergehen, im allgemeinen nicht als Verwaltungsakte angesehen werden können. Das gilt erst recht dann, wenn - wie im vorliegenden Fall - nicht einmal ersichtlich ist, daß der Einzelfall dargelegt wurde. Die Beantwortung einer Rechtsfrage ist eine Rechtsauskunft - "Rechtsfolgeauskunft" in der Terminologie von Zeidler, Verhandlungen des 44. Deutschen Juristentags Bd. I, 2. Teil S. 16: Der Anfragende will bei geklärtem Tatbestand über die daraus von Gesetzes wegen abzuleitenden Rechtsfolgen unterrichtet sein - und ermangelt der entscheidenden Merkmale des Verwaltungsakts (vgl. Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Bd. 1, 8. Aufl. S. 182; Hans J. Wolff, Verwaltungsrecht I, 5. Aufl. S. 247). Daß auch die Beteiligten im vorliegenden Fall die fernmündliche Äußerung der beklagten Krankenkasse als bloße Auskunft und nicht als Verwaltungsakt angesehen haben, wird daran besonders deutlich, daß die Klägerin den Angestellten K. bei der beklagten Krankenkasse abgemeldet hat. Wäre nämlich deren Mitteilung eine "Entscheidung über die Versicherungspflicht" (vgl. § 121 Abs. 3 AVG) gewesen, so hätte es einer solchen Abmeldung nicht bedurft.

Stellt die telefonische Äußerung der beklagten Krankenkasse aber keinen Verwaltungsakt dar, so entfällt schon deshalb die Möglichkeit, im Sinne des angefochtenen Urteils allgemeine Grundsätze des Verwaltungsrechts über die Rücknahme bindend gewordener fehlerhafter Verwaltungsakte heranzuziehen. Das schließt aber nicht aus, daß eine Krankenkasse, auf deren falsche Rechtsauskunft das gesetzwidrige Verhalten eines Arbeitgebers - hier: die Abmeldung des Angestellten K. zur AV und die Nichtabführung der Beiträge - zurückzuführen ist, aus einen anderen Grunde als dem der Bindungswirkung des unanfechtbar gewordenen Verwaltungsakts gehindert sein kann, sich in Widerspruch zu ihrer früheren Erklärung zu setzen. Der Senat hat bereits in ähnlichem Zusammenhang (BSG 17, 173, 174 f) darauf hingewiesen, daß die nachträgliche Geltendmachung von Beitragsforderungen durch die Einzugsstelle nach dem auch für das öffentliche Recht gültigen Grundsatz von Treu und Glauben ausgeschlossen sein kann. Die hiernach gebotene differenzierende Betrachtungsweise des RVA unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Interessenlagen ist im Kern auch heute noch gültig. Hatte dieses die Möglichkeit der nachträglichen Beitragsforderung für den Bereich der Krankenversicherung (KrV) und der ArblV stark eingeschränkt (GE Nr. 2327, AN 1917 396, 398; GE Nr. 5054, AN 1937, 73, 74; EuM 46, 288, 293; 47, 166, 169), so hatte es in der Rentenversicherung die Beitragsnachforderung für grundsätzlich zulässig angesehen. Ausschlaggebend war dabei die Erwägung, daß in der Rentenversicherung der Leistungsanspruch des Versicherten nicht mit dem bloßen Nachweis einer versicherungspflichtigen Beschäftigung begründet werden kann, sondern eine tatsächliche Beitragsverwendung hinzukommen muß (GE Nr. 5054, AN 1937, 73).

In der Tat muß dieses Interesse des Versicherten als besonders schutzwürdig angesehen werden. Dabei kann es - entgegen der Auffassung des LSG - nicht darauf ankommen, ob der betroffene Versicherte schon die Wartezeit erfüllt oder - nach altem Recht - die Anwartschaft durch freiwillige Beiträge aufrechterhalten hat. Nichterfüllung der Wartezeit und Verlust der Anwartschaft können nur besonders einschneidende Folgen unterlassener Beitragsentrichtung sein. Ebensowenig kann die Auffassung des Versicherten über seine Versicherungspflicht dabei von Bedeutung sein. Aus guten Gründen hat der Gesetzgeber Versicherungspflicht und daraus resultierende Beitragspflicht allein von der Erfüllung bestimmter Tatbestandsmerkmale und nicht von den zuweilen kurzsichtigen Vorstellungen der beteiligten Versicherten abhängig gemacht. Die Schutzwürdigkeit des Interesses des Versicherten an der Beitragsentrichtung folgt vielmehr schon daraus, daß beim Ausfall von Beiträgen für Zeiten versicherungspflichtiger Beschäftigung die späteren Versicherungsleistungen an ihn oder seine Hinterbliebenen regelmäßig niedriger sind, als ihm nach seiner Stellung im Arbeitsleben zukommt. Dabei muß berücksichtigt werden, daß die Sicherung der Existenzgrundlage durch eine angemessene Rente für die der Versicherungspflicht unterliegenden abhängig Beschäftigten die praktisch wichtigste Form der Zukunftssicherung darstellt.

Demgegenüber sind die Nachteile, die den Arbeitgeber bei nachträglicher Beitragseinziehung treffen, von geringerem Rang. Zwar wird dieser nachträglich finanziellen Belastungen ausgesetzt, mit denen er nicht zu rechnen brauchte. Doch sind solche Inanspruchnahmen durch die öffentliche Hand angesichts der vielfach komplizierten und nicht selten zweifelhaften Rechtslage in der neueren Wirtschafts- und Sozialgesetzgebung auch sonst dem Wirtschaftsleben nicht fremd. Vor allem aber fällt entscheidend ins Gewicht, daß die gesetzliche Regelung das Ausmaß der Belastung des Arbeitgebers durch nachträgliche Beitragseinziehung in vernünftigen Grenzen hält, so daß diese regelmäßig wirtschaftlich tragbar bleibt. Die relativ kurze Verjährungsfrist des § 29 Abs. 1 RVO, die auch für Beitragsrückstände gilt, begrenzt das Risiko des Arbeitgebers auf einen Zeitraum von weniger als drei Jahren.

Wenn der Arbeitgeber "schuldlos" die Beiträge nachentrichtet, behält er das Recht, den auf den Versicherten entfallenden Beitragsanteil vom Entgelt einzubehalten (§ 183 Abs. 3 AVG aF = § 119 Abs. 3 AVG nF). Unter der Voraussetzung, daß der Versicherte im Zeitpunkt der Beitragsnachforderung noch bei demselben Arbeitgeber beschäftigt ist, beschränkt sich daher dessen Belastung regelmäßig darauf, daß er für eine ihn ohnehin treffende Beitragsverpflichtung erst einige Zeit nach ihrer Fälligkeit in Anspruch genommen wird; das kann u. U. sogar ein Vorteil für den Arbeitgeber sein. Eine wirkliche Belastung des Arbeitgebers wird regelmäßig nur dann vorliegen, wenn die Einbehaltung des den Arbeitnehmer treffenden Beitragsanteils infolge dessen Ausscheidens aus der Beschäftigung bei dem den Beitrag schuldenden Arbeitgeber nicht mehr möglich ist.

Ist in solchen Fällen die auf eine unrichtige Auskunft der Einzugsstelle zurückzuführende verspätete Beitragseinziehung ursächlich für eine Schädigung des Arbeitgebers, so steht diesem u. U. ein Anspruch auf Schadensersatz nach Amtshaftungsgrundsätzen (§ 839 des Bürgerlichen Gesetzbuches - BGB - i. V. m. Art. 34 GG) zu. Nach den hierbei an das Verschulden des Amtsträgers zu stellenden strengen Anforderungen stellt die unrichtige Gesetzesauslegung durch diesen jedoch nur dann eine schuldhafte Amtspflichtsverletzung dar, "wenn sie gegen den klaren, bestimmten und völlig eindeutigen Wortlaut des Gesetzes verstößt oder wenn die Auslegung sich in Gegensatz zu einer gefestigten, höchstrichterlichen Rechtsprechung stellt" (BGH in BGHZ 30, 19, 22). Da dies regelmäßig bei der unrichtigen Auskunft durch die Einzugsstelle nicht der Fall sein wird, kann der aufgezeigten Möglichkeit eines Schadensersatzanspruchs im allgemeinen keine große praktische Bedeutung zugemessen werden. Aber auch mit dieser Einschränkung ist der Arbeitgeber, der nachträglich auf Beiträge in Anspruch genommen wird, aufs Ganze gesehen gegen übermäßige Belastungen so geschützt, daß sein Interesse gegenüber dem weitaus stärkeren Interesse des Versicherten an der Beitragsentrichtung zurückstehen muß. Da schon diese Abwägung der beteiligten privaten Interessen des Arbeitgebers und des Versicherten die Entscheidung zugunsten des Versicherten rechtfertigt, braucht nicht darauf eingegangen zu werden, ob auch das öffentliche Interesse an der Herstellung eines dem Gesetz entsprechenden Zustands insoweit stärker ist (vgl. zu den Schwierigkeiten der Abwägung des öffentlichen mit dem privaten Interesse BSG 15, 252, 257).

Demnach besteht der angefochtene Beitragsbescheid der beklagten Krankenkasse, soweit er die Beiträge zur AV betrifft, zu Recht. Die Klage ist insoweit abzuweisen. Soweit der Beitragsbescheid die Beiträge zur ArblV betrifft, hat es bei der vom LSG bestätigten und mit der Revision nicht angefochtenen Aufhebung sein Bewenden.

Aus den Gründen dieser Entscheidung ergibt sich ferner, daß der von der Klägerin in zweiter Linie gestellte Feststellungsantrag in vollem Umfang unbegründet ist.

Hiernach war, wie geschehen, zu erkennen. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 und 4 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 52

NJW 1964, 1492

MDR 1964, 792

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