Leitsatz (amtlich)

1. Zu den laufenden Verwaltungsgeschäften eines Rentenversicherungsträgers gehört auch die Erhebung einer Schadensersatzklage wegen schuldhafter Verletzung von Pflichten, die der KK hinsichtlich des Einzugs von Rentenversicherungsbeiträgen obliegen (RVO § 1436).

2. Über Schadensersatzansprüche nach RVO § 1436 haben die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit zu entscheiden. VwGO § 40 Abs 2 Satz 1, der für die Schadensersatzansprüche aus der Verletzung öffentlich-rechtlicher Pflichten den ordentlichen Rechtsweg eröffnet, ist insoweit nicht anwendbar.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Im eigenen, weitgehend "rechtsfreien" und von Gesichtspunkten der Zweckmäßigkeit bestimmten Selbstverwaltungsbereich ist der Kreis der laufenden Verwaltungsgeschäfte im wesentlichen auf Geschäfte beschränkt, die mehr oder weniger regelmäßig wiederkehren und sachlich, insbesondere wirtschaftlich, keine erhebliche Bedeutung haben.

Soweit es sich dagegen um gesetzlich übertragene Pflichtaufgaben handelt, die sich in der Auslegung und Anwendung von Rechtsnormen erschöpfen, sind auch seltenere oder wirtschaftlich bedeutsame Geschäfte, etwa erhebliche Leistungsnachzahlungen an einzelne Versicherte oder Gruppen von ihnen in der Regel zur laufenden Verwaltung zu rechnen, es sei denn, daß die Entscheidung außerdem wesentlich von Erwägungen abhängt, die die gesamte "Verwaltungspolitik" des Versicherten berühren und aus diesem Grunde in die Zuständigkeit des Vorstandes fallen.

2. Für die Frage nach der Natur eines "laufenden Verwaltungsgeschäfts" kommt es nicht entscheidend darauf an, ob und wie häufig sich dieser Vorgang in der Verwaltungspraxis wiederholt und welche (wirtschaftliche) Bedeutung ihm im Einzelfall für den Geschäftsbetrieb zukommt; entscheidend ist vielmehr, ob das Verwaltungsgeschäft wesentlich von Erwägungen abhängt, die die gesamte Verwaltungspolitik" des Versicherungsträgers berühren und aus diesem Grunde in die Zuständigkeit des Vorstands fallen.

3. Soweit die Mitglieder der Geschäftsführung gemäß SVwG § 8 Abs 4 vom 1951-02-22 (idF der Bekanntmachung vom 1952-08-13 (BGBl I 1952, 247) selbständig handeln dürfen, ist auch die gerichtliche Vertretung des Versicherungsträgers ihnen und nicht dem Vorstande (SVwG § 6 Abs 1) übertragen (SVwG § 8 Abs 4 S 1 Halbs 2).

 

Normenkette

RVO § 1436 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23, § 1399 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23, Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; SGG § 51 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03; VwGO § 40 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1960-01-21; SVwG § 8 Abs. 4 S. 1 Hs. 2 Fassung: 1952-08-13

 

Tenor

Die Revision der beklagten Ersatzkasse gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 28. Februar 1963 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Die klagende Landesversicherungsanstalt (LVA) verlangt von der beklagten Ersatzkasse Schadensersatz, weil diese als Einzugsstelle von Rentenversicherungsbeiträgen die ihr hinsichtlich des Beitragseinzugs obliegenden Pflichten schuldhaft verletzt habe (§ 1436 der Reichsversicherungsordnung - RVO -).

Über das Vermögen der Firma W Maschinen- und Apparatebau GmbH in A ist vor einigen Jahren das Vergleichsverfahren eröffnet worden. Die bisher nicht beglichenen Beitragsschulden der Firma betragen über 5.000 DM, davon allein gegenüber der klagenden LVA annähernd 3.000 DM. Die LVA meint, die beklagte Ersatzkasse habe infolge eines Rechtsirrtums zu spät Zwangsvollstreckungsmaßnahmen gegen die Beitragsschuldnerin eingeleitet und dadurch die Nichteinziehbarkeit der Beiträge verschuldet. Nachdem die Ersatzkasse der LVA Ende 1958 von den Beitragsrückständen berichtet hatte, erhob diese - nach längerem ergebnislosen Schriftwechsel mit der Beklagten - im April 1961 Klage gegen sie; die Klageschrift war von einem Mitglied der Geschäftsführung der LVA unterzeichnet. Die Klägerin beantragte, die Beklagte zum Ersatz des Beitragsausfalls nebst 4 % Zinsen zu verurteilen.

Das Sozialgericht (SG) wies die Klage als unzulässig ab, weil ihre Erhebung nicht zu den laufenden Verwaltungsgeschäften der LVA gehöre und diese daher insoweit nicht von den Mitgliedern der Geschäftsführung vertreten werde. Außerdem sei über die Klage nicht im sozialgerichtlichen Verfahren, sondern im ordentlichen Rechtsweg zu entscheiden; das ergebe sich aus § 40 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO), der u.a. Schadensersatzansprüche aus der Verletzung öffentlich-rechtlicher Pflichten den ordentlichen Gerichten zuweise (Urteil vom 16. August 1962).

Auf die Berufung der LVA hob das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) das erstinstanzliche Urteil auf und verwies den Rechtsstreit an das SG zurück: Entgegen der Ansicht des SG gehöre die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen nach § 1436 RVO nicht zu den dem Vorstand verbliebenen wichtigen und grundsätzlichen Fragen der Durchführung der gesetzlichen Rentenversicherung, sondern mit zu den der Geschäftsführung obliegenden typischen Geschäften der laufenden Verwaltung. Auch sei hier der Rechtsweg vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit zulässig. Schadensersatzansprüche nach § 1436 RVO seien öffentlich-rechtlicher Natur, die ordentlichen Gerichte seien deshalb insoweit nicht zuständig. Diese hätten auch früher nicht über vergleichbare Schadensersatzansprüche des Trägers der Arbeitslosenversicherung gegen die Einzugsstellen entschieden. § 40 Abs. 2 VwGO eröffne zwar den ordentlichen Rechtsweg für Schadensersatzansprüche aus der Verletzung öffentlich-rechtlicher Pflichten, das gelte "jedoch nur für echte Schadensersatzklagen aus § 839 BGB in Verbindung mit Art. 34 GG". Eine solche Klage habe die Klägerin nicht erhoben (Urteil vom 28. Februar 1963).

Die beklagte Ersatzkasse rügt mit der vom LSG zugelassenen Revision, dieses habe zu Unrecht angenommen, daß die Erhebung der vorliegenden Schadensersatzklage zu den laufenden Verwaltungsgeschäften der LVA gehöre. Von einer mehr oder weniger regelmäßigen Wiederkehr solcher Geschäfte könne bei der Klägerin nicht die Rede sein, es handele sich vielmehr um ein Geschäft "mit ausgesprochenem Ausnahmecharakter". Über den Rechtsstreit hätten auch nicht die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit, sondern die ordentlichen Gerichte zu entscheiden. Schadensersatzansprüche aus der Verletzung öffentlich-rechtlicher Pflichten seien wegen ihrer sachlichen Nähe zu den Amtshaftungsansprüchen kraft Tradition den ordentlichen Gerichten zugewiesen. § 40 Abs. 2 VwGO habe insoweit eine endgültige, alle Zweifel ausschließende Regelung getroffen. Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Schleswig-Holsteinischen LSG vom 28. Februar 1963 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Schleswig vom 16. August 1962 zurückzuweisen.

Die klagende LVA hält das angefochtene Urteil für zutreffend und beantragt,

die Revision der Beklagten zurückzuweisen,

hilfsweise,

die Sache an das zuständige Landgericht zu verweisen.

Das beigeladene Amt A hat im Revisionsverfahren keinen Antrag gestellt.

II

Die Revision der beklagten Ersatzkasse ist unbegründet.

Das Berufungsgericht hat zutreffend entschieden, daß die Mitglieder der Geschäftsführung der klagenden LVA befugt sind, die Klägerin im vorliegenden Rechtsstreit zu vertreten. Die Führung dieses Rechtsstreits gehört zu den laufenden Verwaltungsgeschäften eines Rentenversicherungsträgers im Sinne des § 8 Abs. 4 des Gesetzes über die Selbstverwaltung und über Änderungen von Vorschriften auf dem Gebiet der Sozialversicherung (Selbstverwaltungsgesetz) vom 22. Februar 1951 in der Fassung der Bekanntmachung vom 13. August 1952 (BGBl I S. 247). Soweit die Mitglieder der Geschäftsführung hiernach selbständig handeln dürfen, ist auch die gerichtliche Vertretung des Versicherungsträgers ihnen und nicht dem Vorstand (§ 6 Abs. 1 Selbstverwaltungsgesetz) übertragen (§ 8 Abs. 4 Satz 1, 2. Halbsatz).

Die Unterscheidung zwischen laufenden und sonstigen Verwaltungsgeschäften hat sich im Kommunalrecht herausgebildet (vgl. die im Reichs- und Preußischen Verwaltungsblatt Bd. 52 S. 687 Anm. 25 angeführten zahlreichen Entscheidungen und aus der Nachkriegszeit BGHZ 14, 89; 21, 59; 32, 375). Der Kreis der laufenden Verwaltungsgeschäfte ist dabei im wesentlichen übereinstimmend auf solche Geschäfte beschränkt worden, die mehr oder weniger regelmäßig wiederkehren und sachlich, insbesondere wirtschaftlich, keine erhebliche Bedeutung haben (ähnlich Gönnenwein, Gemeinderecht, S. 338; Salzmann/Schunck, Kommentar zum Selbstverwaltungsgesetz für Rheinland-Pfalz, 2. Aufl., § 41 Anm. 2 S. 154; Kunze/Schmidt, Kommentar zur Gemeindeordnung für Baden-Württemberg, § 44 Anm. II 3 S. 315 ff).

Diese Abgrenzung der laufenden Verwaltungsgeschäfte ist im eigenen, weitgehend "rechtsfreien" und von Gesichtspunkten der Zweckmäßigkeit bestimmten Selbstverwaltungsbereich der Gemeinde sinnvoll, sofern mit ihr die Beschlußfassung über alle nicht alltäglichen Geschäfte den Mitgliedern der gewählten Vertretungskörper oder ihren Ausschüssen vorbehalten, den hauptamtlichen Gemeindebeamten also vorenthalten wird. Ähnliches gilt für den eigentlichen Selbstverwaltungsbereich der Sozialversicherungsträger, zu dem etwa Entscheidungen über Grundstückskäufe, die Errichtung von Verwaltungsgebäuden oder Heilstätten, die Anlage des Vermögens usw. gehören. Insoweit kann daher der kommunalrechtliche Begriff der laufenden Verwaltungsgeschäfte, der auch noch den Richtlinien des Reichsversicherungsamtes (RVA) über die Aufgaben der Geschäftsführer bei den gewerblichen Berufsgenossenschaften vom 23. April 1935 (AN 1935, 223) zugrunde liegt, unbedenklich übernommen werden.

Soweit es sich dagegen um gesetzlich übertragene Pflichtaufgaben handelt, die sich in der Auslegung und Anwendung von Rechtsnormen erschöpfen, kann die genannte Begriffsbestimmung für die Träger der Sozialversicherung nur mit erheblichen Einschränkungen gelten. Insoweit fällt nämlich für die Aufgabenverteilung innerhalb einer Körperschaft nicht oder kaum ins Gewicht, welches Organ gerade die betreffende Aufgabe wahrnimmt, sofern nur das Recht richtig angewendet wird. Reine Rechtsfragen zu beantworten, sind aber die - entsprechend vorgebildeten - hauptamtlichen Mitglieder der Geschäftsführung eines Versicherungsträgers im allgemeinen besser geeignet als die ehrenamtlichen Vorstandsmitglieder. Bei der Erfüllung von Pflichtaufgaben der Versicherungsträger kann es deshalb nicht den Ausschlag geben, ob ein Verwaltungsgeschäft sich mehr oder weniger häufig wiederholt und welche sachliche, insbesondere wirtschaftliche Bedeutung es für den Versicherungsträger hat. Auch seltenere oder wirtschaftlich bedeutsamere Geschäfte, etwa erhebliche Leistungsnachzahlungen an einzelne Versicherte oder Gruppen von ihnen, sind daher in der Regel zur laufenden Verwaltung zu rechnen, es sei denn, daß die Entscheidung außerdem wesentlich von Erwägungen abhängt, die die gesamte "Verwaltungspolitik" des Versicherungsträgers berühren und aus diesem Grunde in die Zuständigkeit des Vorstandes fallen. Im übrigen bleibt der Vorstand, wie ausgeführt, für alle bedeutsameren Geschäfte zuständig, die zu den Selbstverwaltungsangelegenheiten des Versicherungsträgers in dem gekennzeichneten engeren Sinne gehören und über bloße Verwaltungsroutine hinausgehen. Mit dieser Abgrenzung der laufenden Verwaltungsgeschäfte glaubt der Senat, dem Sinn des Gesetzes, das den Vorstand von allen seiner Stellung und Zusammensetzung nach nicht gemäßen Aufgaben entlasten will, und damit auch den Bedürfnissen der Praxis gerecht zu werden. Sie vermindert ferner die Rechtsunsicherheit, die der Anwendung eines unbestimmten Rechtsbegriffes wie dem der "laufenden Verwaltung" notwendig anhaftet, die aber gerade in der Frage, welches Organ den Versicherungsträger bei der Erledigung eines Verwaltungsgeschäfts gesetzlich zu vertreten hat, besonders schwer erträglich ist.

Im vorliegenden Fall hat die klagende LVA einen Schadensersatzanspruch wegen eingetretener Beitragsverluste geltend gemacht. Ob und wann ein solcher Anspruch gegen eine Einzugsstelle zu erheben ist, hat der Rentenversicherungsträger allein nach rechtlichen Gesichtspunkten zu prüfen. Die Entscheidung hängt dabei häufig, wie auch hier, von der Beantwortung schwieriger Rechtsfragen ab. Mit dem eigentlichen Selbstverwaltungsbereich der Klägerin, der von Erwägungen der Zweckmäßigkeit beherrscht wird, hat das streitige Verwaltungsgeschäft nichts zu tun; es ist vielmehr - wie auch die Geltendmachung sonstiger Ausgleichsansprüche zwischen Sozialversicherungsträgern - Bestandteil ihres gesetzlich normierten Aufgabenkreises und steht im übrigen in engem Zusammenhang mit der den Rentenversicherungsträgern als Recht und Pflicht übertragenen Überwachung des Einzugs ihrer Beiträge durch die Einzugsstellen (§ 1437 RVO). Für die Frage nach der laufenden Natur des vorliegenden Verwaltungsgeschäfts kommt es deshalb nicht entscheidend darauf an, ob und wie häufig sich dieser Vorgang in der Verwaltungspraxis der Klägerin wiederholt und welche (wirtschaftliche) Bedeutung ihm im Einzelfall für den Geschäftsbetrieb der Klägerin zukommt. Da er auch keine wesentlichen Interessen der allgemeinen Verwaltung des Rentenversicherungsträgers berührt, ist er somit ein Geschäft der laufenden Verwaltung im Sinne des § 8 Abs. 4 des Selbstverwaltungsgesetzes, für das die Mitglieder der Geschäftsführung zuständig sind (ebenso im Ergebnis Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. bis 6. Auflage, S. 156 1; vgl. auch Sauerwein, ZfS 1951, 85 f). - Nicht zu entscheiden braucht der Senat hiernach, ob der Vorstand ein zu Unrecht von einem Mitglied der Geschäftsführung vorgenommenes Verwaltungsgeschäft nachträglich genehmigen kann (vgl. BGH in NJW 1966 S. 2402), ob eine solche Genehmigung auch stillschweigend möglich ist, und ob im Hinblick darauf, daß die Mitglieder der Geschäftsführung dem Vorstand des Rentenversicherungsträgers mit beratender Stimme angehören (§ 8 Abs. 3 des Selbstverwaltungsgesetzes), eine stillschweigende Genehmigung darin liegen kann, daß der Vorstand die ihm bekannte Vornahme eines Verwaltungsgeschäfts durch ein Mitglied der Geschäftsführung nicht beanstandet.

Der vorliegende Rechtsstreit, in dem die klagende LVA Schadensersatz für den Ausfall von Rentenversicherungsbeiträgen fordert, die ihrer Ansicht nach durch Verschulden der beklagten Ersatzkasse - als Einzugsstelle nach § 1399 RVO - uneinbringlich geworden sind, gehört, wie das Berufungsgericht zutreffend entschieden hat, zu den öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten in Angelegenheiten der Sozialversicherung und damit vor die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit (§ 51 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

Nach § 1399 Abs. 1 und 2 RVO werden die Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung, die die Arbeitgeber für versicherungspflichtige Beschäftigte zu entrichten haben, von den Trägern der gesetzlichen Krankenversicherung zusammen mit den Krankenversicherungsbeiträgen eingezogen. Einzugsstellen in diesem Sinne sind auch die Ersatzkassen, allerdings nur für ihre krankenversicherungspflichtigen Mitglieder (vgl. §§ 1399 Abs. 2 Satz 2, 1433 RVO). Soweit der Einzug der Rentenversicherungsbeiträge den Erlaß von Verwaltungsakten über die Versicherungspflicht, die Beitragspflicht oder die Beitragshöhe erfordert, entscheidet ebenfalls die Einzugsstelle, die dabei an Erklärungen des Rentenversicherungsträgers zu Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung gebunden ist (§ 1399 Abs. 3 und 4 RVO). Weitere Vorschriften über die Beziehungen der Rentenversicherungsträger zu den Einzugsstellen, insbesondere über deren Pflicht zur rechtzeitigen Einziehung und Abführung der Rentenversicherungsbeiträge, enthalten die §§ 1433 ff RVO und die auf Grund des § 1433 erlassenen allgemeinen Verwaltungsvorschriften des Bundesarbeitsministers. § 1436 Abs. 1 RVO bestimmt sodann:

Verletzt eine Einzugsstelle schuldhaft eine der Verpflichtungen, die ihr hinsichtlich des Einzugs der Beiträge zur Rentenversicherung der Arbeiter obliegen, so ist sie dem zuständigen Träger der Rentenversicherung schadensersatzpflichtig. Die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches über die Haftung für Vertragsverletzungen finden entsprechende Anwendung. Das gilt insbesondere, wenn eine Einzugsstelle die Beiträge schuldhaft verspätet einzieht.

Die in den §§ 1433 ff RVO normierten Pflichten der Einzugsstelle zur rechtzeitigen Einziehung und Abführung der Rentenversicherungsbeiträge gehören dem öffentlichen Recht an. Der Gesetzgeber hat sie der Einzugsstelle im öffentlichen Interesse auferlegt, um den Rentenversicherungsträgern die ordnungsmäßige Wahrnehmung ihrer Aufgaben zu ermöglichen. Die Einzugsstelle kann auch von der Aufsichtsbehörde mit hoheitlichen Mitteln (§ 30 RVO) zur Erfüllung ihrer Pflichten angehalten werden.

Was für die genannten Pflichten gilt, trifft auch für Schadensersatzansprüche zu, die aus einer Verletzung dieser Pflichten entstehen; auch sie sind öffentlich-rechtlicher Art (vgl. RGZ in 144, 15, 21 unter Hinweis auf Jellineck , Verwaltungsrecht, 3. Auflage, S. 50 ff; RG in Reichsarbeitsblatt 1937 I 86, 88). Daß auf solche Schadensersatzansprüche Vorschriften des bürgerlichen Rechts entsprechend anzuwenden sind, wie § 1436 Abs. 1 RVO vorschreibt, ändert an ihrer Rechtsnatur nichts. Das - noch weithin ungeschriebene - öffentliche Recht greift nicht selten auf Vorschriften des bürgerlichen Rechts zurück, in denen sich allgemeine Rechtsgedanken ausprägen (Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, 7. Auflage, § 9 S. 154 ff). Ein Schadensersatzanspruch des Rentenversicherungsträgers wegen nicht rechtzeitiger Einziehung oder Abführung von Rentenversicherungsbeiträgen ist mithin öffentlich-rechtlich und ein darüber geführter Rechtsstreit eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit, die ihrem Gegenstand nach, wie nicht näher begründet zu werden braucht, eine Angelegenheit der Sozialversicherung betrifft. Als solche gehört sie nach § 51 SGG vor die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit, sofern der Gesetzgeber sie nicht ausnahmsweise einer anderen Gerichtsbarkeit zugewiesen hat. Das ist nicht geschehen.

§ 13 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) weist den Zivilgerichten nur bürgerliche Rechtsstreitigkeiten zu. Zu ihnen wurden allerdings früher auch Streitigkeiten gerechnet, die dogmatisch zwar als öffentlich-rechtlich anzusehen sind, über die aber bei Erlaß des GVG oder eines späteren Gesetzes, aus dem der Klaganspruch hergeleitet wurde, wegen des sonst fehlenden Rechtsschutzes gewohnheitsrechtlich die Zivilgerichte entschieden - sog. bürgerliche Rechtsstreitigkeiten kraft Überlieferung - (vgl. Rosenberg, Lehrbuch des deutschen Zivilprozeßrechts, 8. Aufl., § 11 II 3 b S. 42 f; Baumbach/Lauterbach, ZPO, 29. Aufl., § 13 GVG Anm. 2 A). Ob und für welche Ansprüche sich eine solche, lediglich traditionell begründete Zuständigkeit der Zivilgerichte auch heute noch rechtfertigen ließe, kann hier offenbleiben. (vgl. die Begründung zu § 40 VwGO, wiedergegeben bei Eyermann/Fröhler, § 40 VwGO Nr. 92). Über Schadensersatzansprüche auf Grund der - erst 1957 in Kraft getretenen - Vorschrift des § 1436 RVO hatten die Zivilgerichte niemals zu entscheiden. Sie hatten auch nie, wie das Berufungsgericht näher ausgeführt hat (vgl. das in Breithaupt 1963 S. 827 abgedruckte Urteil), über rechtsähnliche Ansprüche, insbesondere der Träger der Arbeitslosenversicherung gegen die Einzugsstellen, zu befinden (vgl. jetzt § 160 Abs. 4 AVAVG und früher § 6 der Verordnung über die Einziehung der Beiträge zur Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung vom 9.2.1938, RGBl I S. 182, dazu RVA in AN 1941, 355). Das Reichsgericht hat sogar in einem Urteil vom Jahre 1934 - bevor die Entscheidung über Schadensersatzansprüche aus § 6 der genannten Verordnung den Beschlußbehörden der Reichsversicherung übertragen wurde - den Zivilrechtsweg insoweit ausdrücklich für unzulässig erklärt (RGZ 144, 15). Mit einer traditionellen Zuständigkeit für Streitigkeiten der vorliegenden Art kann somit die Kompetenz der Zivilgerichte entgegen der Ansicht der Beklagten nicht begründet werden.

Sie folgt auch nicht, wie die Beklagte meint, aus § 40 Abs. 2 Satz 1 der (am 1. April 1960 in Kraft getretenen) VwGO, wonach u.a. für Schadensersatzansprüche aus der Verletzung öffentlich-rechtlicher Pflichten der ordentliche Rechtsweg gegeben ist. Mit dieser Vorschrift sind bestimmte Streitigkeiten - abweichend von dem Grundsatz in § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO, der den Verwaltungsrechtsweg für alle öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art eröffnet - "durch Bundesgesetz einem anderen Gericht ausdrücklich zugewiesen" worden. Das ist geschehen, weil man es bei der Beratung der VwGO im Bundestag für zweckmäßig gehalten hat, daß über Streitigkeiten, die mit den durch Art. 14 und 34 GG den ordentlichen Gerichten zugewiesenen Streitigkeiten aus Enteignung und Amtspflichtverletzung eng zusammenhängen, ebenfalls die ordentlichen Gerichte entscheiden (vgl. zur Entstehungsgeschichte des § 40 Abs. 2 VwGO BGHZ 43, 34, 38 ff und 269, 277 f; Köhler, VwGO § 40 Erl. I 5, S. 180 f). § 40 Abs.2 Satz 1 VwGO hat mithin "keineswegs alle Schadensersatzansprüche aus der Verletzung öffentlich-rechtlicher Pflichten ... den ordentlichen Gerichten zugewiesen" (BGHZ 43, 278), sondern nur den bisherigen "Besitzstand" der Zivilgerichte aus Zweckmäßigkeitsgründen auf gewissen Teilbereichen des öffentlichen Rechts aufrechterhalten. Die Vorschrift ist deshalb einschränkend auszulegen. Das gilt insbesondere für die den Zivilgerichten vorbehaltenen Schadensersatzansprüche aus der Verletzung öffentlich-rechtlicher Pflichten. Nicht dazu gehören jedenfalls solche Ansprüche, über die die Zivilgerichte niemals zu entscheiden hatten. Das trifft, wie dargelegt, für Schadensersatzansprüche der hier streitigen Art zu. Insoweit sind deshalb die Zivilgerichte auch nach dem Inkrafttreten des § 40 Abs. 2 VwGO nicht zuständig geworden (ebenso im Ergebnis Jantz/Zweng, Das neue Recht der Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten, Anm. 2 zu § 1436 RVO; Brackmann aaO, S. 372 i; Brockhoff in RVO-Gesamtkommentar, Anm. zu § 1436).

Im übrigen würde der Gesichtspunkt des Sachzusammenhanges, der der Rechtswegregelung des § 40 Abs. 2 VwGO zugrunde liegt, eine Zuweisung der vorliegenden Streitsache an die Zivilgerichte selbst dann nicht rechtfertigen, wenn sie nach § 40 Abs. 2 Satz 1 VwGO ohne Rücksicht auf ihren bisherigen "Besitzstand" für die dort genannten Ansprüche zuständig sein sollten. Wie der BGH wiederholt entschieden hat, steht einer Körperschaft des öffentlichen Rechts, die ihre Aufgaben mit Hilfe von Bediensteten einer anderen Körperschaft erfüllt, auch bei schuldhaftem Handeln dieser Personen kein Schadensersatzanspruch wegen Amtspflichtverletzung zu: Das Bestehen einer Amtspflicht setze eine rechtliche Beziehung voraus, wie sie für das Verhältnis des Bürgers "gegenüber" der Verwaltung charakteristisch sei; eine solche Beziehung fehle, wenn mehrere Verwaltungsträger zur Erfüllung einer gemeinsamen Aufgabe "gleichsinnig und nicht etwa je in Vertretung widerstreitender Interessen" zusammenwirkten; dem außenstehenden Dritten erschienen sie dann als eine Einheit und ihre Beziehungen untereinander als ein Internum (so BGHZ 26, 232, 234 ff für das Verhältnis von Versicherungsamt und Rentenversicherungsträger bei der Beurkundung von Rentenanträgen; vgl. ferner BGHZ 27, 210, 213; BGHZ 32, 145 ff; NJW 1966, 1179, 1181 unter II). Nach dieser - vom erkennenden Senat gebilligten - Rechtsauffassung erfüllen auch die Bediensteten einer Einzugsstelle bei der Einziehung und Abführung von Rentenversicherungsbeiträgen keine Amtspflichten gegenüber dem Rentenversicherungsträger, da die Einzugsstelle und der Rentenversicherungsträger dabei nicht widerstreitende Interessen vertreten, sondern "gleichsinnig" zusammenwirken. Schadensersatzansprüche nach § 1436 RVO können deshalb aus rechtlichen Gründen nicht mit Amtshaftungsansprüchen des Rentenversicherungsträgers zusammentreffen, so daß hier das entscheidende Motiv, das den Gesetzgeber in § 40 Abs. 2 Satz 1 VwGO bewogen hat, die darin genannten Schadensersatzansprüche den Zivilgerichten zuzuweisen, entfällt.

Das LSG hat somit die Zulässigkeit des Rechtsweges zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit zutreffend bejaht und dem SG mit Recht aufgegeben, die bisher unterbliebene Sachprüfung nachzuholen. Die Revision der Beklagten ist unbegründet.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil des SG vorbehalten.

 

Fundstellen

Haufe-Index 707734

BSGE, 129

MDR 1967, 622

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