Beteiligte

Kläger und Revisionskläger

Beklagte und Revisionsbeklagte

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte verpflichtet ist, den Kläger von der Krankenversicherungspflicht der Rentner zu befreien (§ 173a der Reichsversicherungsordnung -RVO-).

Der Kläger (geboren 29. Januar 1912) schrieb am 5. Januar 1977 der beigeladenen Bundesversicherungsanstalt u.a.:

"… Im Januar des Jahres werde ich 65 Jahre. Ich beantrage die Rentenzahlung ab April des Jahres. Bitte teilen Sie mir mit, wie hoch die monatliche Rente ab April ist und was von mir für Ihre Zahlung zu veranlassen ist…"

Dieses Schreiben ging bei der Beklagten nach dem Eingangsstempel am 10. Januar 1977 ein. Es trägt außerdem Bearbeitungsstempel vom 13. Januar 1977, 1. und 4. Februar 1977. Das Rentenantragsformular mit Erläuterungsmerkblatt und Formblatt für die Meldung zur. Krankenversicherung der Rentner (KVdR) wurde jedoch erst am 4. Februar 1977 abgesandt. Wann die Sendung beim Kläger eingetroffen ist, ist nicht mehr festzustellen.

Auf dem Rentenantragsformular ist auf der ersten Seite der Stempelaufdruck: "Formloser Rentenantrag liegt vor" und auf der letzten Seite folgender amtlicher Vermerk angebracht: "Der Rentenantrag ist am 10.1.1977 formlos gestellt worden".

Am 18. Februar 1977 unterschrieb der Kläger das Rentenantragsformular und die formularmäßige Meldung zur KVdR und beantragte auf ihr zugleich die Befreiung von der KVdR. Er übersandte beide Schriftstücke der Beigeladenen, die sie am 23. Februar 1977 erhielt. Die Beigeladene schickte den Befreiungsantrag an den Kläger zurück, worauf dieser ihn bei der Beklagten mit einem am 25. März 1977 dort eingegangenen Schreiben wiederholte.

Die Beklagte lehnte den Befreiungsantrag als verspätet ab (Bescheid vom 20. April 1977, Widerspruchsbescheid vom 27. Oktober 1977). Klage und Berufung hatten ebenfalls keinen Erfolg (Urteil des Sozialgerichts -SG- München vom 17. Juli 1979; Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts -LSG- vom 29- April 1981).

Das LSG hat die Auffassung vertreten, das Schreiben vom 10. Januar 1977 habe bereits einen Rentenantrag enthalten, die Monatsfrist für den Antrag auf Befreiung von der KVdR nach § 173a Abs. 2 RVO sei mithin am 10. Februar 1977 abgelaufen gewesen, so daß die Beklagte den erst nach diesem Zeitpunkt eingegangenen Antrag zu Recht als verspätet und unwirksam angesehen habe. Die Beklagte sei auch weder nach Treu und Glauben oder unter dem Gesichtspunkt des Herstellungsanspruchs verpflichtet gewesen, den Kläger so zu behandeln, als hätte er den Antrag rechtzeitig gestellt. Der Kläger habe nicht um Beratung und Belehrung nachgesucht; es habe auch sonst keine Veranlassung bestanden, ihn zu einem früheren Zeitpunkt auf die mit dem Rentenantrag eingetretene Versicherungspflicht und die Möglichkeit eines Befreiungsantrags hinzuweisen. Für eine Beratung sei auch die für die Antragstellung zur Verfügung stehende kurze Frist nicht ausreichend gewesen. Der Kläger müsse sich selbst zurechnen lassen, daß er den Antrag formlos bei der Beigeladenen gestellt habe, statt auf dem üblichen Formular unter Einschaltung einer Beratungsstelle.

Im übrigen sei nicht ersichtlich, daß die Beigeladene durch eine unangemessen lange Bearbeitungszeit die rechtzeitige Information des Klägers behindert habe. Ob der Kläger noch vor Ablauf der Ausschlußfrist am 10. Februar 1977 die Sendung der Beigeladenen vom 4. Februar 1977 erhalten und damit die Möglichkeit gehabt habe, bei unverzüglicher Kenntnisnahme vom Inhalt der Sendung die Antragsfrist einzuhalten, könne offenbleiben.

Mit der Revision macht der Kläger geltend, daß das Antragsschreiben vom 5. Januar 1977 in seinem letzten Satz bereits ein Beratungsersuchen enthalten habe, dem die Beigeladene zu Unrecht nicht nachgekommen sei. Die kurze Frist für die Stellung des Befreiungsantrags sei kein Hinderungsgrund für eine ausreichende Beratung, sondern stelle im Gegenteil höhere Anforderungen an die jeweilige Behörde, dem Versicherten zügig eine Information zukommen zu lassen. Die Beigeladene habe diese Pflicht verletzt, indem sie die Formulare so spät abgesandt habe, daß sie erst am 15. oder 16. Februar 1977 beim Kläger eingegangen seien.

Der Kläger beantragt,die Urteile des Landessozialgerichts und des Sozialgerichts aufzuheben sowie die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 20. April 1977 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Oktober 1977 zu verurteilen, den Kläger von der Krankenversicherung der Rentner zu befreien.

Die Beklagte beantragt,die Revision zurückzuweisen.

Sie beruft sich im wesentlichen auf das angefochtene Urteil.

Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.

Alle Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Rechtsstreits durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-) einverstanden erklärt.

II

Die Revision des Klägers ist begründet. Die Beklagte hat es zu Unrecht abgelehnt, den Kläger von der Versicherungspflicht in der KVdR zu befreien.

Dem LSG ist allerdings darin zuzustimmen, daß der Befreiungsantrag des Klägers nicht rechtzeitig gestellt worden ist. Sein Schreiben vom 5. Januar 1977 (eingegangen bei der Beigeladenen am 10. Januar 1977) erhält erkennbar den Willen, eine Rente zu beantragen, und ist deshalb als Rentenantrag anzusehen, der den Eintritt der Versicherungspflicht nach § 165 Abs. 1 Nr. 3 RVO bewirkte. Die Frist für den Befreiungsantrag begann demgemäß nach § 173a Abs. 2 RVO mit dem 11. Januar 1977 und endete nach einem Monat, d.h. am 10. Februar 1977. Der mit Schreiben vom 18. Februar 1977 gestellte und bei der Beigeladenen am 23. Februar eingegangenen Befreiungsantrag war mithin nicht fristgerecht und deshalb unwirksam.

Der Kläger ist jedoch so zu stellen, als wenn er fristgerecht Befreiung beantragt hätte. Er hat insoweit gegen die Beklagte einen Herstellungsanspruch, weil die Beigeladene ihn nicht rechtzeitig über sein Recht, einen Befreiungsantrag zu stellen, und die dabei zu beachtende kurze Ausschlußfrist belehrt hat.

Dem LSG kann bereits darin nicht gefolgt werden, daß der Kläger sich die unzureichende Beratung selbst zuzuschreiben habe, weil er sich mit seinem Befreiungsantrag direkt an die Beigeladene gewandt habe. Die Beigeladene war hier immerhin die für die Entgegennahme des Rentenantrages zuständige Behörde. Sie ist auch in erster Linie zur Beratung verpflichtet, wenn der Rentenantrag Veranlassung gibt, den Antragsteller zu Ergänzungen oder Änderungen des Antrages aufzufordern oder ihm Hinweise oder Belehrungen - auch hinsichtlich der Rentnerkrankenversicherung - zu erteilen. Es dürfen dem Versicherten deshalb grundsätzlich keine Nachteile entstehen, wenn er diesen Weg beschreitet. Dies gilt auch und erst recht, wenn - wie bei der Befreiung von der KVdR - eine kurze Frist zu beachten ist und deshalb die erhöhte Gefahr besteht, daß die Frist versäumt wird, weil der Versicherte die zu ihrer Einhaltung erforderlichen Schritte nicht kennt. Da dies bei Rentenantragstellern in der Regel zutreffen wird und von ihnen auch nicht erwartet werden kann, daß sie generell mit solchen kurzen Fristen rechnen, darf ihnen das Risiko für die Einhaltung der Fristen nicht allein angelastet werden. Es ist vielmehr Teil der Anforderungen des Rentenantragsverfahrens, sie darüber rechtzeitig zu informieren.

Nicht folgen kann der Senat ferner der Überlegung des LSG, die Beigeladene habe, falls sie etwa - schon aufgrund des formlosen Rentenantrags des Klägers - ihm gegenüber zur Beratung über die KVdR verpflichtet gewesen sein sollte, eine dafür angemessene Bearbeitungszeit (vom 10. Januar bis zum 4. Februar 1977) nicht überschritten. Der Kläger weist mit Recht darauf hin, daß gerade bei kurzen Antragsfristen die Behörde zu erhöhten Anstrengungen verpflichtet ist, damit trotz der kurzen Frist die Beratung noch zu einem Zeitpunkt erfolgen kann, der es dem einzelnen Bürger erlaubt, rechtzeitig zu reagieren. Eine solche Verpflichtung ergibt sich schon aus § 2 des Sozialgesetzbuches - Allgemeiner Teil - (SGB 1), der die Behörde verpflichtet, im Rahmen des Verwaltungsverfahrens sicherzustellen, daß die sozialen Rechte möglichst weitgehend verwirklicht werden (BSGE 51, 89, 95) sowie aus § 17 Abs. 1 Nrn. 1 und 3 SGB 1, der diese Verpflichtung für den Bereich der Leistungen dahin konkretisiert, daß der Leistungsträger darauf hinzuwirken hat, daß jeder Berechtigte die ihm zustehenden Sozialleistungen umfassend und schnell erhält und der Zugang zu diesen Leistungen möglichst einfach gestaltet wird. Diese Grundsätze - umfassende und schnelle Rechtsverwirklichung sowie einfache, bürgergerechte Gestaltung des Verwaltungsverfahrens - sind auch keine Besonderheiten des Leistungsrechts, sondern lassen erkennen, welche Anforderungen der Gesetzgeber generell an das Verwaltungshandeln stellt.

Die Verpflichtung der Beigeladenen, einen Rentenantragsteller auf die - kurze - Frist für den Antrag auf Befreiung von der KVdR hinzuweisen, besteht auch nicht nur dann, wenn der Behörde positiv bekannt ist, daß bei dem Rentenbewerber ein solcher Befreiungsantrag in Betracht kommt. Eine solche Beschränkung würde den genannten Verfahrensgrundsätzen des SGB nicht voll gerecht. Die Versicherung in der KVdR war während der fraglichen Zeit und ist auch nach neuem Recht (§ 165 Abs. 1 Nr. 3 RVO i.d.F. des Krankenversicherungs-Kostendämpfungsgesetzes -KVKG-) noch in vielen Fällen die erste für einen Rentenantragsteller unmittelbar bedeutsame Folge seines Rentenantrags. Er muß hierüber schon deshalb unverzüglich informiert werden, weil er nur so einen ihm etwa zustehenden Versicherungsschutz in der KVdR auch in Anspruch nehmen kann (BSGE 51, 89, 97). Im Hinblick auf die große Zahl privat gegen Krankheit versicherter Personen liegt es außerdem für den Rentenversicherungsträger, bei dem ein neuer Rentenantrag eingeht, keineswegs fern, daß der betreffende Antragsteller ebenfalls privat versichert ist und sich daraus für ihn die Notwendigkeit ergibt, hinsichtlich seiner Versicherung alsbald zu reagieren und entweder die Versicherung zu kündigen oder einen Antrag auf Befreiung von der KVdR zu stellen. Diese langfristig wirksame Entscheidung im Zusammenhang mit der Rentenantragstellung muß zudem innerhalb kurzer Zeit getroffen werden. Wegen der Vielzahl der Privatversicherten und der für sie gegebenen Notwendigkeit, in einer kurzen Frist zu reagieren, gehört es deshalb zu den Pflichten der Beigeladenen, bei Eingang formloser Rentenanträge den Antragsteller unmittelbar über die Befreiungsmöglichkeit und die Kürze der dafür zur Verfügung stehenden Frist zu belehren. Diese Verpflichtung überfordert die Beigeladene auch nicht. Zum einen muß sie den Antragsteller ohnehin über das Bestehen des Versicherungsschutzes aus der KVdR informieren; im übrigen sind keine Hinderungsgründe dafür ersichtlich, daß die Antragsunterlagen oder jedenfalls das Formblatt über die Meldung zur KVdR selbst bei einer großen Zahl formlos eingehender Anträge so zügig versandt werden, daß dem Versicherten ausreichend Zeit verbleibt, sich über die Stellung eines Befreiungsantrages schlüssig zu werden und entsprechende Schritte zu unternehmen (s. dazu BSGE 51, 89, 93 f.). Auch im vorliegenden Falle wäre dies ohne weiteres möglich gewesen, wie die Bearbeitungsstempel auf dem formlosen Rentenantragsschreiben des Klägers vom 5. Januar 1977 zeigen.

Die Beigeladene hat den Kläger jedoch so spät unterrichtet, daß ihm, nachdem er die Antragsunterlagen (Formblätter usw.) erhalten hatte, für seine Antragstellung keine ausreichende Zeit mehr zur Verfügung stand. Selbst wenn er - entgegen seinem Vorbringen - die Sendung nicht erst nach Fristablauf empfangen haben sollte, ergibt sich doch aus dem Absendetermin (4. Februar 1977, einem Freitag), daß er frühestens ein oder zwei Tage vor Fristablauf (10. Februar 1977) in den Besitz der Unterlagen gelangt ist. Diese Zeit war aber nicht ausreichend, um die Stellung eines Befreiungsantrages zu überdenken und - bei einer positiven Entscheidung - dafür zu sorgen, daß der Antrag noch rechtzeitig bei der Beklagten oder der Beigeladenen einging.

Der Herstellungsanspruch des Klägers gegen die Beklagte scheitert schließlich nicht daran, daß die Fristversäumnis auf ein Verhalten der Beigeladenen zurückgeht; denn der Senat hat bereits entschieden, daß im Rahmen der KVdR die zuständige Krankenkasse für ein Fehlverhalten des Rentenversicherungsträgers einzustehen hat (BSGE 51, 89). Auch das Verhalten der Beigeladenen, das den an ihr Verwaltungsverfahren zu stellenden Anforderungen nicht entsprach, löste mithin für den Kläger einen Herstellungsanspruch aus, wenn es ursächlich für eine verspätete Stellung seines Befreiungsantrags war. Da dies hier aber zu bejahen ist, war dem Begehren des Klägers unter Aufhebung der Vorentscheidungen stattzugeben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.12 RK 37/81

Bundessozialgericht

 

Fundstellen

Breith. 1983, 768

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