Leitsatz (amtlich)

Bei einem Unfall auf dem Weg nach oder von dem Ort der Tätigkeit besteht kein Versicherungsschutz, wenn der Versicherte einer ausschließlich in seiner privaten Sphäre entstandenen Gefahr erlegen ist, ohne daß Umstände, die mit der Zurücklegung des Weges zusammenhängen, wirksam geworden sind.

 

Orientierungssatz

Während einer geringfügigen Unterbrechung des Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit besteht Versicherungsschutz nicht nur gegen allgemeine Gefahren, sondern grundsätzlich auch gegen Gefahren, die aus der geringfügigen Verrichtung selbst herrühren (vgl BSG 1974-12-18 2 RU 37/73). Die Grenze, jenseits der aber auch in derartigen Fällen der Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung nicht mehr besteht, ist ua dort zu ziehen, wo das Zurücklegen des Weges den Unfall nicht wesentlich mitbedingt hat, sondern nur als Gelegenheitsursache anzusehen ist.

 

Normenkette

RVO § 550 Abs. 1 Fassung: 1974-04-01

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 16.02.1977; Aktenzeichen L 17 U 126/76)

SG Düsseldorf (Entscheidung vom 23.02.1976; Aktenzeichen S 18 (17) U 176/75)

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 16. Februar 1977 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Der bei der Klägerin für den Fall der Krankheit versicherte Schreiner Johannes P (P.) verletzte sich am 21. Januar 1975 auf dem Wege von der Arbeit nach Hause an der linken Hand. Als er zu dem in Werksnähe gelegenen Parkplatz ging, auf dem sein Auto stand, öffnete er seine Aktentasche und griff mit der linken Hand in sie hinein, um einen Apfel herauszunehmen, den er essen wollte. Dabei schnitt er sich an einem in der Tasche befindlichen offenen Messer, das sein fünfjähriger Sohn am Tage zuvor ohne sein Wissen dort hineingelegt hatte. Wegen der erlittenen Verletzung (Strecksehnendurchtrennung des 3. Strahles links) war P. bis zum 6. April 1975 arbeitsunfähig. Die Klägerin zahlte ihm nach Wegfall der Lohnfortzahlung Krankengeld vom 5. März bis zum 6. April 1975 in Höhe von insgesamt 1.602,81 DM.

Den von der Klägerin gemäß § 1504 RVO geltend gemachten Anspruch auf Ersatz dieses Betrages lehnte die Beklagte ab, weil sich der Unfall nicht bei einer versicherten, sondern bei einer eigenwirtschaftlichen Tätigkeit ereignet habe, die nicht zum Risikobereich der gesetzlichen Unfallversicherung gehöre.

Klage und Berufung sind ohne Erfolg geblieben (Urteile des Sozialgerichts - SG - Düsseldorf vom 23. Februar 1976 und des Landessozialgerichts - LSG - für das Land Nordrhein-Westfalen vom 16. Februar 1977). Zur Begründung hat das LSG ua ausgeführt: Der Klägerin stehe der Anspruch auf Ersatz des Krankengeldes nicht zu, weil P. keinen Arbeitsunfall erlitten habe. Rechtlich allein wesentlich für den Unfall seien keine Umstände gewesen, die P. im Zusammenhang mit der Zurücklegung des Weges begegnet seien. Allein wesentlich für den Unfall seien die Aufbewahrung des Apfels und eines offenen Messers in der Aktentasche und der Griff des Verletzten in die Tasche gewesen, um den Apfel zu essen. Dieser Sachverhalt sei ausschließlich der privaten eigenwirtschaftlichen Sphäre des P. zuzurechnen und stehe mit der Zurücklegung des Weges in keinem ursächlichen Zusammenhang. Die Hinweise der Klägerin auf die ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), wonach der Versicherungsschutz bei einer geringfügigen Unterbrechung der versicherten Tätigkeit durch eine in diese eingeschobene private Verrichtung nicht entfalle, gehe fehl. Die Klägerin verkenne die besondere Eigenart des vorliegenden Falles, der dadurch gekennzeichnet sei, daß P. nicht einer Gefahr erlegen sei, der er im Zusammenhang mit der Zurücklegung des Heimweges begegnet sei, sondern die Gefahr schon vor Antritt des Weges allein wesentlich in seinem eigenwirtschaftlichen Bereich gesetzt worden und nur zufälligerweise gerade während der Zurücklegung des Weges wirksam geworden sei. Für den Versicherungsschutz in Fällen geringfügiger privater Verrichtungen, die in die versicherte Tätigkeit eingeschoben sind, sei Voraussetzung, daß der Versicherte auch dabei im Zusammenhang mit seiner versicherten Tätigkeit einer Gefahrensituation begegne, der er ohne Ausübung dieser Tätigkeit nicht ausgesetzt gewesen wäre oder die ihn ohne Zurücklegung des unter Versicherungsschutz stehenden Weges nicht an die Stelle geführt haben würde, wo er durch eine geringfügige private Verrichtung zu Schaden gekommen sei. Beruhe jedoch der Unfall allein wesentlich auf einer Gefahrensituation, die bereits vor Ausübung der versicherten Tätigkeit bzw. vor Zurücklegung des unter Versicherungsschutz stehenden Weges aus ausschließlich der privaten Sphäre des Verletzten zuzurechnenden Gründen bestanden hat und sich jederzeit und allerorts habe realisieren können, handele es sich nur um ein rein zufälliges örtliches und zeitliches Zusammentreffen mit der versicherten Tätigkeit und begründe keinen Versicherungsschutz. Andernfalls würde dem das Unfallversicherungsrecht allgemein beherrschenden Grundsatz nicht ausreichend Rechnung getragen, daß Versicherungsschutz nur für Unfälle begründet sei, die in einem inneren ursächlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit stehen.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Klägerin hat dieses Rechtsmittel eingelegt und im wesentlichen wie folgt begründet: Nach ständiger Rechtsprechung des BSG bleibe der Versicherungsschutz erhalten, wenn eine private Besorgung oder Verrichtung, die in die betriebliche Tätigkeit oder in das Zurücklegung des Weges zwischen Wohnung und Arbeitsstätte eingeschoben werde, nach natürlicher Betrachtungsweise nur eine geringfügige Unterbrechung der versicherten Tätigkeit bewirke. Der prinzipiell erforderliche innere und ursächliche Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Eintritt des Schadens werde in derartigen Fällen ausnahmsweise unterstellt. Das LSG enge den Versicherungsschutz bei kurzfristigen Unterbrechungen in unzulässiger Weise ein, wenn es die Fortdauer des Versicherungsschutzes auf die Folgen von Gefahren beschränke, denen der Versicherte im Zusammenhang mit der Zurücklegung des Heimweges ausgesetzt sei. Das LSG habe eine Unterscheidung nach "allgemeinen" und "spezifischen" Gefahren abgelehnt. Die Abgrenzung des Versicherungsschutzes nach den vom LSG aufgezeigten Kriterien würde zu rein zufälligen, beinahe willkürlichen Ergebnissen führen. Ein Versicherter, der beispielsweise auf dem Heimweg ein Taschenmesser finde und sich an ihm verletze, als er es in die Aktentasche stecke, würde nach der Ansicht des LSG dabei unter Versicherungsschutz stehen. Denn es handele sich um eine kurzfristig eingeschobene Verrichtung, bei der zudem eine typische "Wegegefahr" wirksam geworden sei. Das Beispiel unterscheide sich von dem hier vorliegenden Fall lediglich dadurch, daß sich das Messer ohne Wissen des Versicherten bereits in seiner Tasche befunden habe. Darin könne kein rechtlich bedeutsamer Unterschied gesehen werden. Überdies sei es zu dem Unfall durch das Sichfortbewegen des P. gekommen. Dieser habe, da er primär auf den Weg achtete, blindlings in die Aktentasche gegriffen. In dieser Situation sei es ihm nicht möglich gewesen, zunächst in die Tasche zu schauen, um die Lage des Apfels auszumachen. Hätte er dies getan, wäre ihm das Messer nicht verborgen geblieben, und der Unfall wäre vermieden worden. Somit sei das Sichfortbewegen eine rechtlich wesentliche Unfallursache gewesen.

Die Klägerin beantragt,

die Urteile des LSG für das Land Nordrhein-Westfalen vom 16. Februar 1977 und des SG Düsseldorf vom 23. Februar 1976 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, 1.602,81 DM an sie zu zahlen,

hilfsweise

die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie trägt vor, der Unfallversicherungsschutz erstrecke sich auf die Zurücklegung des Weges nach oder von dem Ort der Tätigkeit, also auf das Sichfortbewegen. Im vorliegenden Fall sei der Unfall aber nicht durch das Sichfortbewegen, sondern durch den Umstand verursacht worden, daß der fünfjährige Sohn des P. am Tage zuvor ein Messer in die Aktentasche seines Vaters gesteckt hatte.

 

Entscheidungsgründe

Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten sich damit einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).

Die Revision der Klägerin ist nicht begründet.

Nach § 1504 Abs 1 RVO hat der Träger der Unfallversicherung, wenn eine Krankheit die Folge eines von ihm zu entschädigenden Arbeitsunfalls ist, dem Träger der gesetzlichen Krankenversicherung, bei dem der Verletzte versichert ist, die Kosten mit Ausnahme des Sterbegeldes zu erstatten, die nach Ablauf des achtzehnten Tages nach dem Arbeitsunfall entstehen. Ausgenommen sind die Kosten der Krankenpflege.

Der Schreiner P. hat am 21. Januar 1975 keinen von der Beklagten zu entschädigenden Arbeitsunfall erlitten. Ein Ersatzanspruch der Klägerin gegen die Beklagte besteht daher nicht.

Nach § 550 Abs 1 RVO gilt als Arbeitsunfall auch ein Unfall auf einem mit der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten zusammenhängenden Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit. Wie bei der versicherten Tätigkeit selbst (§ 548 Abs 1 RVO) ist der Versicherungsschutz auch nach § 550 Abs 1 RVO von einem inneren ursächlichen Zusammenhang, hier zwischen dem Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit und der versicherten Tätigkeit, abhängig. Nicht bei jedem Unfall, den jemand bei der Zurücklegung eines solchen Weges erleidet, besteht deshalb Versicherungsschutz (BSG SozSich-Kartei Nr. 2078, V/A zu § 543 RVO - Heft 11/1967). Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG, an die das Revisionsgericht mangels zulässiger und begründeter Rügen gebunden ist (§ 163 SGG), hatte P. auf dem Weg von der Arbeit nach Hause in seine Aktentasche gegriffen, um einen Apfel herauszunehmen, den er essen wollte. Dabei verletzte er sich an dem in der Tasche befindlichen offenen Messer, das sein fünfjähriger Sohn dort am Tage zuvor ohne sein Wissen hineingelegt hatte. Zutreffend hat das LSG die zum Unfall führende Verrichtung als eine ausschließlich der privaten Sphäre des P. zuzurechnende Tätigkeit angesehen, die mit der Zurücklegung des Weges von der Arbeit nach Hause in keinem ursächlichen Zusammenhang gestanden hat. Der vom LSG festgestellte Sachverhalt bietet keinen Anhalt für die Annahme, daß P. nur deshalb ohne in die Tasche zu schauen nach dem Apfel gegriffen hat, weil er in erster Linie auf den Weg habe achten müssen. Sofern die Klägerin mit ihrem entsprechenden Revisionsvorbringen einen inneren ursächlichen Zusammenhang des durch die betriebliche Tätigkeit des P. bedingten Sichfortbewegens und dem Unfall dartun will, handelt es sich um neues tatsächliches Vorbringen, das im Revisionsverfahren nicht berücksichtigt werden kann.

Der Versicherungsschutz ist für den Unfall auch nicht unter dem Gesichtspunkt einer in die versicherte Tätigkeit eingeschobenen geringfügigen privaten Verrichtung zu bejahen. Nach der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats, die sich an diejenige des Reichsversicherungsamts anschließt (vgl EuM 22, 303; 23, 270; 33, 268) bleibt der Versicherungsschutz erhalten, wenn eine private Besorgung oder Verrichtung, die in die betriebliche Tätigkeit oder in das Zurücklegen des Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit eingeschoben wird, nach natürlicher Betrachtungsweise nur eine geringfügige Unterbrechung der versicherten Tätigkeit bewirkt (vgl SozR Nr 31 zu § 548 RVO mit weiteren Nachweisen; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 8. Aufl, S 486 t). Während der geringfügigen Unterbrechung besteht Versicherungsschutz nicht nur gegen allgemeine Gefahren, sondern grundsätzlich auch gegen Gefahren, die aus der geringfügigen Verrichtung selbst herrühren (BSG Urteil vom 18. Dezember 1974 - 2 RU 37/73 - unveröffentlicht; aA Podzun, Der Unfallsachbearbeiter, 3. Aufl, Kennzahl 070 S 10). Die Grenze, jenseits der aber auch in derartigen Fällen der Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung nicht mehr besteht, ist ua dort zu ziehen, wo das Zurücklegen des Weges den Unfall nicht wesentlich mitbedingt hat, sondern nur als Gelegenheitsursache anzusehen ist. Das Unfallgeschehen ist nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG dadurch gekennzeichnet, daß P. einer ausschließlich in seiner privaten Sphäre entstandenen Gefahr erlegen ist, ohne daß Umstände, die mit der Zurücklegung des Weges zusammenhängen, wirksam geworden sind. Daß sich P. auf dem Heimweg verletzte, geschah rein zufällig; der Unfall hätte sich jederzeit und an jedem anderen Ort ereignen können.

Da P. keinen Arbeitsunfall erlitten hat, steht der Klägerin auch der geltend gemachte Ersatzanspruch nicht zu. Ihre Revision mußte deshalb zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs 4 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1654671

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