Entscheidungsstichwort (Thema)

Leistungsgewährung nach einer Änderung der Rechtsprechung

 

Leitsatz (redaktionell)

Entsprach ein Bescheid über eine Dauerleistung zwar der ständigen Rechtsprechung des BSG zum Zeitpunkt seines Erlasses, nicht jedoch der für den Bezieher günstigeren Rechtsprechung zum Zeitpunkt seiner Überprüfung, liegt kein Fall des § 48 Abs. 2 SGB X, sondern ein solcher des § 44 Abs. 1 SGB X vor.

 

Normenkette

SGB X § 48 Abs. 2, § 44 Abs. 1

 

Tatbestand

I

Streitig ist eine rückwirkende Leistungsgewährung nach einer Änderung der Rechtsprechung.

Die in Argentinien lebende Klägerin bezieht von der Beklagten seit Juni 1977 eine Rente. Ihren Antrag, zu ihrer seit 1971 bestehenden privaten Krankenversicherung bei der A… M… S… A… S. A. (AMSA) einen Beitragszuschuß zu gewähren, hatte die Beklagte durch Bescheid vom 23. Januar 1980 und Widerspruchsbescheid vom 16. Januar 1981 wegen ausreichenden Schutzes durch die argentinische Rentnerkrankenversicherung bindend abgelehnt. Im April 1982 beantragte die Klägerin, unter Hinweis auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 5. November 1980 - 11 RJz 5/79 - (= SozR 2200 § 381 Nr. 41), wonach diese Rentnerkrankenversicherung den Zuschuß - im Gegensatz zur bisherigen Rechtsprechung - nicht ausschließt, diese Bescheide aufzuheben und ihr den Beitragszuschuß zu gewähren. Durch Bescheid vom 30. August 1982 bewilligte ihr die Beklagte den Beitragszuschuß daraufhin für die Zeit ab Dezember 1980.

Die Klage auf Beitragszuschuss bereits ab Rentenbeginn (Juni 1977) blieb in beiden Vorinstanzen ohne Erfolg (Urteil des Sozialgerichts - SG - vom 7. Februar 1983; Urteil des Landessozialgerichts - LSG - vom 30. Juni 1983). Das LSG meint, die Beklagte habe nach § 48 Abs. 2 Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren - (SGB X) die Bewilligung des Beitragszuschusses zu Recht auf die Zeit ab Dezember 1980 beschränkt. Frühestens mit der Entscheidung des BSG vom November 1980 könne von einer ständigen Rechtsprechung gesprochen werden, daß auch die Zugehörigkeit zur argentinischen Rentnerkrankenversicherung den Beitragszuschuß nicht ausschließe. Unerheblich sei, daß dieses Urteil schon vor Erlaß des Widerspruchsbescheides vom 16. Januar 1981 ergangen sei, weil es für die Anwendung des § 48 SGB X nur auf den ablehnenden Verwaltungsakt vom 23. Januar 1980 ankomme. Ein weitergehender Anspruch folge auch nicht aus § 44 SGB X, da die nachträgliche anderweitige Auslegung des Rechts in ständiger Rechtsprechung den Tatbestand einer unrichtigen Rechtsanwendung bei Erlaß des ursprünglichen Verwaltungsaktes nicht erfülle. Ebensowenig könne die Klägerin ihr Begehren auf den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch stützen.

Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung der §§ 44 Abs. 1 und 2 sowie 48 Abs. 2 SGB X. Unter Berufung auf ein rechtskräftiges Urteil des LSG für das Land Nordrhein-Westfalen (vom 21. Juli 1983 - L 16 Kr 138/82 -) trägt sie vor, daß die Änderung der Rechtsprechung nur verdeutlicht habe, was schon in der Vergangenheit Rechtens gewesen sei. Deswegen sei bereits der Bescheid vom 23. Januar 1980 unrichtig gewesen.

Die Klägerin beantragt, die Urteile der Vorinstanzen sowie die Bescheide der Beklagten vom 23. Januar 1980 und 16. Januar 1981 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, in Abänderung des Bescheids vom 30. August 1982 Beitragszuschüsse ab 1. Juli 1977 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt, die Revision der Klägerin zurückzuweisen.

II

Die Revision ist für die Zeit ab Januar 1978 begründet.

Entgegen der Annahme des LSG kann die Klägerin aufgrund des § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X (Satz 2 greift nicht ein) verlangen, daß die Beklagte den ablehnenden Verwaltungsakt vom 23. Januar 1980 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids mit Wirkung für die Vergangenheit ohne zeitliche Einschränkung zurücknimmt. Diese Vorschrift verpflichtet zur rückwirkenden "Rücknahme eines rechtswidrigen, nicht begünstigenden Verwaltungsaktes" (so die Überschrift), wenn sich im Einzelfall ergibt, daß bei Erlaß eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Im vorliegenden Fall war der ablehnende Verwaltungsakt vom 23. Januar 1980 rechtswidrig; bei seinem Erlaß (und dem des Widerspruchsbescheides) war das Recht unrichtig angewandt worden mit der Folge, daß Beitragszuschüsse zu Unrecht nicht an die Klägerin erbracht wurden.

Die Klägerin hatte nämlich, anders als die Beklagte bei Erlaß des genannten Verwaltungsaktes angenommen hat, in der streitigen Zeit vor Dezember 1980 einen Anspruch auf Beitragszuschuß nach § 83 e AVG in der hierfür maßgebenden Fassung des Gesetzes vom 27. Juni 1977. Das ist aufgrund des festgestellten Sachverhalts unter den Beteiligten auch nicht mehr streitig. Hervorzuheben ist insoweit nur, daß die Rentnerkrankenversicherung der Klägerin in Argentinien den Anspruch nicht ausschließen konnte; hierzu verweist der Senat auf sein bereits angeführtes Urteil vom 5. November 1980 (SozR 2200 § 381 Nr. 41), an dem er festhält.

Für die Anwendung des § 44 SGB X ist es unerheblich, ob sich der rechtswidrige Verwaltungsakt (die dortige Rechtsanwendung) bei seinem Erlaß auf die anderweitige frühere Rechtsprechung des BSG zum Beitragszuschuß stützen ließ. Der Gesetzeswortlaut ("rechtswidrig", "unrichtig", "zu Unrecht") mißt dem keine Bedeutung bei. Wesentlich ist für § 44 nur, ob der Verwaltungsakt - was die Worte "ergibt" und "erweist" bekräftigen - bei der Entscheidung über die Anwendung des § 44 SGB X als rechtswidrig anzusehen ist. Insofern besteht in der Beurteilung der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kein Unterschied zu den Vorläufervorschriften der §§ 627, 1300 der Reichsversicherungsordnung a.F. (RVO a.F.), 79 AVG a.F. und 40 Abs. 1 KOVVfG. Im Gegensatz zu den erstgenannten dieser Vorschriften spielen in § 44 SGB X aber auch Abstufungen der Rechtswidrigkeit (Eindeutigkeit, Vertretbarkeit u.s.w.) keine Rolle mehr (SozR 2200 § 1251 Nr. 102 auf Blatt 280; Urteil vom 20. Oktober 1983 - 2 RU 77/82 - NZA 1984, 62).

Unerheblich ist schließlich, ob zugleich der Tatbestand des § 48 Abs. 2 SGB X erfüllt ist. Nach dieser Vorschrift ist der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft (außer in den Fällen des § 48 Abs. 1 Satz 1 "auch dann") aufzuheben, wenn das BSG in ständiger Rechtsprechung nachträglich das Recht anders auslegt als die Behörde bei Erlaß des Verwaltungsaktes und sich dies - wie hier - zu Gunsten des Berechtigten auswirkt. Denn § 48 Abs. 2 besagt im weiteren ausdrücklich: "§ 44 bleibt unberührt". Der Gesetzgeber wollte so sicherstellen, daß § 44 "neben § 48 anwendbar ist" (BT-Drucks 8/4022 S. 83, dort noch: § 42 neben § 46). Er hat hierbei (vgl. ferner BT-Drucks 8/2034 S. 35) an die frühere Rechtslage im Verfahrensrecht der Kriegsopferversorgung anknüpfen wollen, diese indessen im Ergebnis umgekehrt. § 40 Abs. 1 KOVVfG a.F. wurde dahin verstanden, daß die Behörde einen rechtswidrigen Verwaltungsakt zurücknehmen muß, über die Rückwirkung aber anders als in § 44 Abs. 1 SGB X nach Ermessen entscheiden darf. Nach § 40 Abs. 2 mußte die Behörde in den jetzt von § 48 Abs. 2 SGB X erfaßten Fällen den Verwaltungsakt dagegen rückwirkend und nicht wie heute in § 48 Abs. 2 SGB X nur für die Zukunft zurücknehmen (BSGE 45, 1, 6 f.; SozR Nrn. 4 und 18 zu § 40 VerwVG). Die Beklagte fragt deshalb mit Recht, welcher Anwendungsbereich dem nun zweitrangig gewordenen § 48 Abs. 2 sinnvoll verbleibt. Der Senat muß die Antwort hier nicht finden; er hat davon auszugehen, daß der Gesetzgeber jedenfalls den Anwendungsbereich des § 44 Abs. 1 SGB X nicht durch § 48 Abs. 2 geschmälert sehen wollte. § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X verpflichtet jedoch, wie schon dargelegt, zur Rücknahme für die Vergangenheit dann, wenn der Verwaltungsakt rechtswidrig Leistungen versagt hat, gleichgültig woraus die Erkenntnis der Rechtswidrigkeit gewonnen wird; er greift deshalb auch ein, wenn eine - erstmalige oder geänderte - sozialgerichtliche Rechtsprechung die Basis dieser Erkenntnis ist (vgl. BSGE 55, 87, 89). In diesem Sinne hat die Rechtsprechung auch die zuvor geltenden Vorschriften ausgelegt (BSGE 51, 31, 36 m.w.N. = SozR 2200 § 1399 Nr. 13).

Nach § 44 Abs. 4 SGB X kann die Klägerin allerdings rückwirkende Leistungen nur längstens für den dort bestimmten Zeitraum von vier Jahren erhalten; da sie die Rücknahme im April 1982 beantragt hat, beginnt der Zeitraum mit dem 1. Januar 1978.

Hiernach war der Revision für die Zeit ab 1. Januar 1978 stattzugeben und sie für das vorhergehende Jahr zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

BSGE, 209

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