Entscheidungsstichwort (Thema)

Rückforderung von gezahlten Rentenleistungen

 

Beteiligte

Klägerin und Revisionsbeklagte

Beklagte und Revisionsklägerin

 

Tatbestand

I.

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte Rentenleistungen zurückfordern darf, die sie der Klägerin gezahlt hat.

Die Beklagte bewilligte der 1911 geborenen Klägerin mit Bescheid vom 4. August 1976 Altersruhegeld in Höhe von 509,70 DM monatlich ab Juni 1976, ohne daß bei der Rentenberechnung noch vorhandene Beitragszeiten in der Arbeiterrentenversicherung berücksichtigt wurden. Durch Bescheid vom 10. Dezember 1976 stellte sie unter Einschluß der betreffenden Zeiten rückwirkend ab Rentenbeginn die Rente neu fest, die nun 740,20 DM monatlich betrug, und hob zugleich den ursprünglichen Bescheid vom 4. August 1976 auf. Ab Februar 1977 wurde der Klägerin die Rente laufend in neuer Höhe ausgezahlt. Infolge eines Versehens der Beklagten erhielt die Klägerin jedoch ab demselben Zeitpunkt daneben noch die in dem aufgehobenen Bescheid bewilligt gewesene Rente weiter. Bis zur Zahlungseinstellung im August 1980 trat auf diese Weise eine Oberzahlung von 24.534,90 DM ein, die die Beklagte mit Bescheid vom 1. Juni 1981 von der Klägerin zurückforderte.

Die Klage hiergegen hat das Sozialgericht (SG) unter Hinweis auf § 50 Abs. 2 i.V.m. § 45 Abs. 2 Satz 3 des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - (SGB X) abgewiesen. Selbst wenn die Klägerin die Rechtswidrigkeit der doppelten Rentenzahlung nicht erkannt habe, wie sie behaupte, beruhe dieser Irrtum jedenfalls auf grober Fahrlässigkeit. Das Landessozialgericht (LSG) hat den Rückforderungsbescheid aufgehoben, weil die Klägerin entgegen § 24 Abs. 1 SGB X vor seinem Erlaß nicht angehört worden sei. Ein Tatbestand, der die Beklagte berechtigt hätte, von der Anhörung ausnahmsweise abzusehen (§ 24 Abs. 2 SGB X), liege nicht vor. Da kein Widerspruchsverfahren durchgeführt worden sei, habe die Anhörung - in dessen Verlauf - auch nicht wirksam nachgeholt werden können.

Mit der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision beantragt die Beklagte,

das Urteil des LSG aufzuheben und den Rechtsstreit zurückzuverweisen.

Zur Begründung rügt sie eine Verletzung der §§ 78 Abs. 1 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) und 24 SGB X. Das LSG habe in der Sache entschieden, obgleich dies wegen des Fehlens eines Vorverfahrens unzulässig gewesen sei. Den Beteiligten sei darum Gelegenheit zu geben, das Vorverfahren - in der Berufungsinstanz - noch durchzuführen.

Die Klägerin tritt dem Antrag der Beklagten nicht entgegen.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist mit der Maßgabe begründet, daß das Urteil des LSG aufzuheben und der Rechtsstreit zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen ist (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG). Das LSG hat nämlich nicht beachtet, daß es an dem zwingend vorgeschriebenen Vorverfahren fehlt; aus diesem Grunde hat der Senat auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten hin die Revision zugelassen.

Die Klägerin hat eine Anfechtungsklage erhoben, deren Gegenstand der Rückforderungsbescheid vom 1. Juni 1981 ist. Nach § 78 Abs. 1 Satz 1 SGG sind vor Erhebung der Anfechtungsklage die Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit des Verwaltungsaktes in einem Vorverfahren nachzuprüfen. Hiervon macht § 78 Abs. 2 SGG in Angelegenheiten der Rentenversicherung der Angestellten zwar eine Ausnahme. Danach ist die Anfechtungsklage auch ohne Vorverfahren zulässig, wenn die Aufhebung eines Verwaltungsaktes begehrt wird, der eine Leistung betrifft, auf die ein Rechtsanspruch besteht. Dies ist bei der strittigen Rückforderung indes nicht der Fall.

Wie der Senat im Urteil vom 18. August 1983 in BSGE 55, 250 = SozR 1300 § 50 Nr. 3 entschieden hat, steht dem allerdings nicht schon entgegen, daß die Rückforderung von dem Versicherungsträger geltend gemacht wird und sich gegen einen Einzelnen richtet. Denn in § 78 Abs. 2 SGG ist der Begriff der "Leistung" nicht eingegrenzt; er gilt auch für Leistungsforderungen der öffentlichen Verwaltung gegenüber Einzelpersonen. Auf die Rückforderung (Leistung) hat die Beklagte aber darum keinen Rechtsanspruch, weil sie auf § 50 Abs. 2 SGB X gegründet ist. Zwar lautet diese Vorschrift in ihrem Satz 1 dahin, daß Leistungen, soweit sie ohne Verwaltungsakt zu Unrecht erbracht wurden, zu erstatten "sind"; in Satz 2 läßt sie jedoch auch die §§  45 und 47 (nach der Fassung durch das Gesetz vom 4. November 1982, BGBl. I 1450: §§ 45 und 48) entsprechend gelten. Da die Beklagte von einer unrechtmäßigen Zahlung an die Klägerin ausgeht, war hier demnach § 45 SGB X in die Entscheidung einzubeziehen, der die Voraussetzungen für die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes enthält. Nach § 45 Abs. 1 SGB X "darf" die Behörde einen begünstigenden Verwaltungsakt zurücknehmen, sie muß es also nicht; ob sie es beim Vorliegen der im Gesetz geforderten Kriterien tut, ist in ihr Ermessen gestellt. Das bedeutet aber im Rahmen von § 50 Abs. 2 SGB X, wie der Senat in der Entscheidung a.a.O. bereits näher ausgeführt hat, daß eine Rückforderung aufgrund dieser Vorschrift auch nur unter entsprechenden Beschränkungen stattfinden "darf", d.h. letztlich im behördlichen Ermessen steht, dessen Ausübung hier in die Entscheidung über die Rückforderung verlagert ist.

Die dem zugrundeliegende Ansicht, daß die Behörde einen begünstigenden Verwaltungsakt bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 45 SGB X nicht schlechthin zurücknehmen müsse, ist mittlerweile in der Literatur zum Versorgungsrecht angezweifelt worden (Lamb, VersorgB 1984, 81, 82; anscheinend auch Eirich a.a.O. S. 53, 55; zum Rechtsproblem ferner Neumann-Duesberg, WzS 1981, 130, 137). Das gibt dem Senat indes keinen Anlaß zur Aufgabe des Rechtsstandpunktes. Bei der Entscheidung über die Rücknahme jegliches Ermessen zu verneinen, geht bereits am Wortlaut ("darf zurückgenommen werden" und nicht "ist zurückzunehmen"), aber auch an der Entstehungsgeschichte und der Zielsetzung des Gesetzes vorbei. Die Vorschrift ist aus § 48 Abs. 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG) vom 25. Mai 1976 (BGBl. I 1253) übernommen worden, wenn auch mit der Modifizierung, daß Teile der Sätze 1 und 2 des § 48 Abs. 1 VwVfG in § 45 Abs. 1 SGB X zu einem Satz zusammengezogen worden sind. Der andere Aufbau hat zwar dazu geführt, daß der für belastende wie begünstigende Verwaltungsakte gleichermaßen geltende Anfangstext von § 48 Abs. 1 VwVfG mit dem Wort "kann", das die Regelung als Ermessensbestimmung ausweist, in § 45 Abs. 1 SGB X nicht enthalten ist. Gleichwohl ist der Charakter als Ermessensvorschrift für die in § 45 SGB X allein geregelte Rücknahme begünstigender Verwaltungsakte nicht verlorengegangen. Wenn die einschränkenden Regelungen im Abs. 2 des § 48 VwVfG nicht bedeuten, daß bei ihrem Vorliegen für die Behörde ein Zwang zur Rücknahme des Verwaltungsaktes besteht (Stelkens/Bonk/Leonhardt, Komm zum VwVfG, 2. Aufl. 1983, Rdnr. 11 zu § 48; BT-Drucks. 7/910, Begründung des § 44 des Entwurfs 1973 eines VwVfG, S. 69 unten, 70 oben), dann kann es nicht einleuchtend sein, inwiefern die gleichlautenden Regelungen im Abs. 2 des § 45 SGB X einen solchen Zwang auslösen sollten. Die Begründung des Entwurfs 1973 eines VwVfG (BT-Drucks. a.a.O. zu § 44), der Verzicht auf den Rücknahmezwang halte die Verwaltung in dem erforderlichen Maße elastisch, hat auch für § 45 SGB X ihren guten Sinn. Denn einerseits schließt die Einräumung eines Ermessens es nicht aus, daß der Verwaltungsakt unter den dort genannten Voraussetzungen in der Regel zurückgenommen wird, andererseits gibt sie jedoch die Möglichkeit, in Ausnahmefällen von einer Rücknahme - möglicherweise auch im Interesse der Behörde - abzusehen.

Handelt es sich in § 50 Abs. 2 SGB X somit um eine dem Ermessen der Behörde unterfallende Entscheidung, so ist vor Erhebung der Klage gegen einen Rückforderungsbescheid, wie schon dargelegt, ein Vorverfahren durchzuführen. Dieser Umstand führt allerdings nicht dazu, daß der Senat die Klage durch Prozeßurteil abweisen müßte. Vielmehr ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts -BSG- (SozR 1500 § 78 Nr. 8 mit Hinweisen auf die Rechtsprechungsentwicklung) den Beteiligten Gelegenheit zu geben, den Mangel durch Nachholen des Vorverfahrens zu beheben. Zweckmäßigerweise geschieht dies nicht durch das Revisionsgericht, sondern durch die Tatsacheninstanzen (BSGE 16, 21, 24 = SozR Nr. 5 zu § 78 SGG; BSGE 25, 66, 68 = SozR Nr. 4 zu § 1538 RVO), so daß der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen ist. Dieses wird nun darauf hinzuwirken haben, daß das Versäumte nachgeholt wird.

Im Rahmen des Vorverfahrens hat die Beklagte dann ferner Gelegenheit, die Klägerin gemäß § 24 Abs. 1 SGB X anzuhören, was entgegen dieser Vorschrift vor dem Rückforderungsbescheid unterblieben war, obgleich er einen Verwaltungsakt darstellt, der in Rechte eines Beteiligten eingreift. Daß die Klägerin eine Sozialleistung zurückerstatten soll, auf deren Empfang sie nach dem Sachverhalt keinen Anspruch besaß, schließt einen Eingriff in ein "Recht" i.S. des § 24 Abs. 1 SGB X nicht aus; dem steht ferner nicht entgegen, daß die überzahlte Rente ohne Verwaltungsakt und sonach ohne formalen Rechtsgrund gewährt worden ist. Denn § 24 Abs. 1 SGB X versteht unter "Rechte" nicht allein formalisierte, sondern, wie das LSG zutreffend ausgeführt hat, auch sonstige Rechtspositionen, die nach dem Gesetz nur unter bestimmten Voraussetzungen angetastet oder entzogen werden dürfen. Hierzu gehören ohne Verwaltungsakt rechtswidrig erlangte Zuwendungen, weil deren Rückforderung nur unter den Voraussetzungen des § 50 Abs. 2 i.V.m. § 45 SGB X gestattet ist. Der Schutz vor einer "Überraschungsentscheidung", den § 24 SGB X bezweckt, erfordert eine Anhörung auch in diesen Fällen; hier ist es ebenfalls sinnvoll, möglicherweise stichhaltige Einwendungen frühzeitig zu kennen.

Wann von einer Anhörung abgesehen werden kann, hat der Gesetzgeber in § 24 Abs. 2 SGB X abschließend geregelt (SozR 1200 § 34 Nrn. 2, 3, 6, 9, 12, 14); der vorliegende Sachverhalt fällt nicht darunter. Da die Klägerin auf ihr Anhörungsrecht weder ausdrücklich noch schlüssig verzichtet hat (s hierzu SozR 1200 § 34 Nrn. 4, 17) - daß sie unmittelbar Klage erhoben hat, geht auf die unrichtige Rechtsmittelbelehrung der Beklagten zurück -, ist dieses auch nicht verbraucht.

Unter diesen Umständen kann dahingestellt bleiben, ob ein angefochtener Verwaltungsakt wegen unterbliebener Anhörung aufgehoben werden darf, wenn der Betroffene zwar auf die Anhörung nicht verzichtet, selbst aber die unterlassene Anhörung - wie hier - nicht gerügt hat (vgl. hierzu § 42 SGB X sowie SozR 1200 § 34 Nr. 17).

Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI518863

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