Entscheidungsstichwort (Thema)

Rentenversicherung. Selbständiger. Antragspflichtversicherung. Beginn. Antragsfrist. geringfügige Tätigkeit. Arbeitslosenhilfebezug. Doppelberufler. Übergangsrecht. zum Begriff „nicht nur vorübergehend” gemäß § 2 Abs 1 Nr 11 AVG

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die Frage, ob eine Antragspflichtversicherung in der Angestelltenversicherung in der Zeit vor dem Inkrafttreten des SGB 6 am 1.1.1992 bestanden hat, ist noch nach dem AVG zu beurteilen.

2. Die Frist für die Antragspflichtversicherung beginnt mit Aufnahme der selbständigen Erwerbstätigkeit, auch wenn die Tätigkeit in geringfügigem Umfang (§ 8 Abs 1 Nr 1 SGB 4) oder kurzzeitig (§ 102 AFG) ausgeübt wird und der Selbständige im gleichen Zeitraum arbeitslos gemeldet ist.

Stand: 24. Oktober 2002

 

Normenkette

AVG § 2 Abs. 1 Nr. 11; RVO § 1227 Abs. 1 S. 1 Nr. 9; SGB VI § 4 Abs. 2, § 300 Abs. 1-2; SGB IV § 8 Abs. 1 Nr. 1; AFG § 102

 

Verfahrensgang

LSG Hamburg (Urteil vom 24.04.1996; Aktenzeichen III ANBf 18/94)

SG Hamburg (Entscheidung vom 14.12.1993; Aktenzeichen 10 AN 95/92)

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 24. April 1996 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Streitig ist das Recht zur Antragspflichtversicherung in der Rentenversicherung.

Die Klägerin war nach Abschluß ihrer juristischen Ausbildung arbeitslos und bezog Arbeitslosenhilfe. Im August 1987 wurde sie als Rechtsanwältin zugelassen und war von da an wöchentlich zwölf bis sechzehn Stunden als selbständige Rechtsanwältin in einer Anwaltssozietät tätig. Sie zeigte dem Arbeitsamt die Tätigkeit an. Gewinn erzielte sie hieraus nicht. Der Bezug von Arbeitslosenhilfe endete mit dem Monat August 1991.

Seit dem 1. September 1991 übt die Klägerin ihre Rechtsanwaltstätigkeit ganztags aus. Noch in diesem Monat beantragte sie bei der beklagten Bundesversicherungsanstalt für Angestellte Versicherungspflicht als selbständig Erwerbstätige. Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 7. November 1991 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. März 1992 für die Zeit von September bis Dezember 1991 ab, weil die Klägerin die zweijährige Antragsfrist des § 2 Abs 1 Nr 11 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) nach Aufnahme der selbständigen Erwerbstätigkeit im August 1987 versäumt habe, stellte jedoch aufgrund der Verlängerung der Antragsfrist auf fünf Jahre in § 4 Abs 2 des Sozialgesetzbuchs – Gesetzliche Rentenversicherung (SGB VI) Versicherungspflicht ab Januar 1992 fest.

Im Klageverfahren hat die Klägerin ihr Begehren, bereits ab September 1991 pflichtversichert zu sein, weiter verfolgt. Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 14. Dezember 1993). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen (Urteil vom 24. April 1996). Die Klägerin habe die Aufnahme in die Pflichtversicherung nicht innerhalb der Zwei-Jahres-Frist des § 2 Abs 1 Nr 11 AVG beantragt. Sie habe ihre selbständige Tätigkeit bereits im August 1987 aufgenommen. Die Zulassung als Rechtsanwältin und die Aufnahme einer wöchentlichen Tätigkeit zwischen zwölf und sechzehn Stunden bilde den Beginn dieser Tätigkeit. Dem habe der Leistungsbezug wegen Arbeitslosigkeit nicht entgegengestanden. Da ein selbständig Erwerbstätiger zugleich eine abhängige Beschäftigung ausüben könne (sogenannter Doppelberufler), sei es auch zulässig, sich hinsichtlich der abhängigen Beschäftigung arbeitslos zu melden und im Rahmen des § 102 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) eine kurzzeitige selbständige Tätigkeit auszuüben. Die Tätigkeit der Klägerin als Rechtsanwältin könne bei einer Dauer von drei Jahren nicht mehr als vorübergehend angesehen werden. Sie habe den Antrag auf Pflichtversicherung bereits nach Ablauf von zwei Monaten nach Aufnahme der selbständigen Tätigkeit (Überschreiten der Geringfügigkeitsgrenze des § 8 Abs 1 Nr 2 des Sozialgesetzbuchs – Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung ≪SGB IV≫), dh im November 1987 stellen können und ihn während der Ausschlußfrist bis August 1989 stellen müssen. Der Umfang der selbständigen Tätigkeit sei für den Lauf der Antragsfrist unerheblich. Die Klägerin könne ihren Anspruch auch nicht auf einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch stützen, weil das Arbeitsamt keine in den Verwaltungsablauf der Beklagten eingeschaltete Stelle gewesen sei.

Mit der Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 2 Abs 1 Nr 11 AVG. Sie habe in der Zeit der Arbeitslosigkeit nachhaltig eine unselbständige Beschäftigung angestrebt und mit der Tätigkeit als selbständige Rechtsanwältin in erster Linie unschöne längerfristige Lücken in ihrem beruflichen Lebenslauf vermeiden wollen. Erst als sie sich im September 1991 – mangels Vermittlungserfolgs des Arbeitsamtes sowie aufgrund eigener erfolgloser Bewerbungen – zur Selbständigkeit entschlossen habe, sei zu erwarten gewesen, daß sie die Tätigkeit nicht nur vorübergehend ausüben werde. Das LSG habe seiner Entscheidung richtig zugrunde gelegt, daß sie nur zwölf bis sechzehn Stunden wöchentlich tätig gewesen sei und Verluste erwirtschaftet habe. Ihre Tätigkeit sei also geringfügig iS des § 8 Abs 1 Nr 1 SGB IV und damit versicherungsfrei nach § 4 Abs 1 Nr 5 Halbs 1 AVG gewesen. Es stelle einen unlösbaren Widerspruch dar, wenn einerseits eine kurzfristige Tätigkeit iS des § 8 Abs 1 Nr 2 SGB IV als nur vorübergehend angesehen werde, andererseits die Antragsfrist auch bei einer gemäß § 8 Abs 1 Nr 1 SGB IV geringfügigen Tätigkeit in Lauf gesetzt werde. Mithin könne es tatsächlich nur darauf ankommen, ob im Zeitpunkt der Antragstellung in vorausschauender Betrachtungsweise festgestanden habe, daß die selbständige Tätigkeit auf Dauer ausgeübt werden solle. Davon habe sie bis einschließlich August 1991 nicht ausgehen können. Darüber hinaus sei sie bei Anzeige der Aufnahme der kurzzeitigen selbständigen Tätigkeit als Rechtsanwältin vom Arbeitsamt nicht über die Zulässigkeit und eventuelle Notwendigkeit eines Antrags auf Pflichtversicherung bei der Beklagten hingewiesen worden.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

das Urteil des LSG vom 24. April 1996 und das Urteil des SG vom 14. Dezember 1993 sowie den Bescheid der Beklagten vom 7. November 1991 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. März 1992 aufzuheben und festzustellen, daß sie in der Zeit vom 1. September bis 31. Dezember 1991 pflichtversichert in der Angestelltenversicherung war.

Die Beklagte beantragt sinngemäß,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Die Klägerin habe ihre selbständige Erwerbstätigkeit ab August 1987 nicht nur vorübergehend ausgeübt. Unabhängig von der Auslegung dieses Begriffs genüge hierfür die ungewisse Erwartung des Eintritts der Bedingung „Vermittlung einer abhängigen Beschäftigung durch das Arbeitsamt” nicht. Gerade der von der Klägerin vorgetragene Umstand, daß die Arbeitsmarktsituation für Juristen zur damaligen Zeit schwierig gewesen sei, lege eine gewisse Kontinuität der selbständigen Tätigkeit nahe. Die Klägerin berufe sich auch zu Unrecht auf den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision der Klägerin ist unbegründet. Das LSG hat die Berufung gegen das klagabweisende Urteil des SG zu Recht zurückgewiesen. Der angefochtene Bescheid ist rechtmäßig. Die Klägerin war in der Zeit von September bis Dezember 1991 nicht antragspflichtversichert.

Nach dem bis zum 31. Dezember 1991 geltenden § 2 Abs 1 Nr 11 AVG waren alle Personen versicherungspflichtig, für die nicht bereits nach anderen Vorschriften Versicherungspflicht bestand und die nicht nur vorübergehend im Geltungsbereich dieses Gesetzes eine selbständige Erwerbstätigkeit ausübten, wenn sie die Versicherung innerhalb von zwei Jahren nach Aufnahme der selbständigen Erwerbstätigkeit beantragten. Die Versicherungspflicht begann mit dem Beginn des Kalendermonats, in dem der Antrag gestellt wurde, frühestens jedoch mit dem Kalendermonat, in dem die Voraussetzungen für die Versicherung erfüllt waren (§ 2 Abs 2 Satz 2 AVG). Der seit dem 1. Januar 1992 geltende § 4 Abs 2 SGB VI läßt ebenfalls die Versicherungspflicht auf Antrag von Personen zu, die nicht nur vorübergehend selbständig tätig sind, erweitert die Antragsfrist jedoch auf fünf Jahre nach Aufnahme der selbständigen Tätigkeit. Die Antragspflichtversicherung nach neuem Recht beginnt bereits mit dem Tag, der dem Eingang des Antrags folgt, frühestens jedoch mit dem Tag, an dem die Voraussetzungen eingetreten sind (§ 4 Abs 4 Satz 1 Nr 1 SGB VI). Die Antragspflichtversicherung der Klägerin in den Monaten September bis Dezember 1991 richtet sich nach dem bis zum 31. Dezember 1991 geltenden Recht des AVG. Nach § 300 Abs 1 SGB VI sind die Vorschriften des SGB VI zwar vom Zeitpunkt ihres Inkrafttretens an auch auf Sachverhalte oder Ansprüche anzuwenden, die vor diesem Zeitpunkt bestanden haben. Dem hat die Beklagte Rechnung getragen, indem sie die Antragspflichtversicherung der Klägerin vom 1. Januar 1992 an festgestellt hat. Eine Antragspflichtversicherung auch für September bis Dezember 1991 ist jedoch mit § 300 Abs 1 SGB VI nicht zu begründen. Die Vorschrift gilt nicht für versicherungsrechtliche Tatbestände (vgl Niesel in Kasseler Komm § 300 SGB VI RdNr 4), insbesondere nicht für die Antragspflichtversicherung Selbständiger. § 4 Abs 2 SGB VI eröffnet die Antragspflichtversicherung für nicht nur vorübergehend selbständig Tätige erst ab seinem Inkrafttreten, dh in den alten Bundesländern frühestens mit Wirkung ab 1. Januar 1992 (Art 85 Abs 1 des Rentenreformgesetzes ≪RRG≫ 1992 vom 18. Dezember 1989 ≪BGBl I 2261≫). Die Vorschrift läßt iVm der Regelung über den Beginn der Antragspflichtversicherung in § 4 Abs 4 Satz 1 Nr 1 SGB VI keine Pflichtversicherung für Zeiträume vor der Antragstellung zu. Sie enthält auch keine Änderung des früheren Rechts. Das bestätigt die Sonderregelung in § 229 Abs 3 SGB VI. Nach dieser Vorschrift beginnt für Personen, die (schon) am 31. Dezember 1991 nicht nur vorübergehend selbständig tätig und in dieser Tätigkeit bis dahin nicht berechtigt waren, die Versicherungspflicht zu beantragen, die Antragsfrist nach § 4 Abs 2 SGB VI erst mit dem 1. Januar 1992. Das Gesetz geht also davon aus, daß eine Pflichtversicherung für eine Zeit vor dem 1. Januar 1992 nach § 4 Abs 2 SGB VI nicht beantragt werden kann. Nach § 300 Abs 2 SGB VI ist ebenfalls das frühere Recht anzuwenden. Nach dieser Regelung finden die bisher geltenden Vorschriften auch nach dem Zeitpunkt ihrer Aufhebung noch auf einen bis dahin bestehenden Anspruch Anwendung, wenn dieser bis zum Ablauf von drei Kalendermonaten nach der Aufhebung geltend gemacht wird. Anspruch iS dieser Vorschrift ist auch die Berechtigung, die Pflichtversicherung als Selbständiger zu beantragen (vgl BSG SozR 3-2600 § 197 Nr 1 S 3 mwN zum Recht auf Nachentrichtung). Der von der Klägerin erhobene Anspruch auf Pflichtversicherung betrifft einen Zeitraum bis zur Aufhebung des AVG und ist noch vor Inkrafttreten des neuen Rechts geltend gemacht worden. Er ist daher nach dem bisher geltenden Recht zu beurteilen.

Die Klägerin wurde durch ihren Antrag vom September 1991 nicht versicherungspflichtig, weil sie zu diesem Zeitpunkt nach dem seinerzeit geltenden Recht nicht mehr antragsberechtigt war; sie hatte die bei ihr ab August 1987 laufende zweijährige Antragsfrist versäumt. Die Antragsfrist beginnt mit der Antragsberechtigung. Diese entsteht mit Aufnahme einer nicht nur vorübergehenden selbständigen Erwerbstätigkeit.

Das Gesetz erläutert weder den Begriff der selbständigen Erwerbstätigkeit noch das Merkmal ihrer „nicht nur vorübergehenden” Ausübung. Hinsichtlich der selbständigen Erwerbstätigkeit ergibt sich aus der Entstehungsgeschichte, dem Zweck und dem Wortlaut der Regelungen über die Antragspflichtversicherung (§ 2 Abs 1 Nr 11 AVG, § 1227 Abs 1 Satz 1 Nr 9 der Reichsversicherungsordnung ≪RVO≫), daß selbständig erwerbstätig iS dieser Vorschriften alle Personen sind, die mit Gewinnerzielungsabsicht eine Tätigkeit in der Land- und Forstwirtschaft oder in einem Gewerbebetrieb oder eine sonstige, insbesondere freiberufliche Arbeit in persönlicher Unabhängigkeit und auf eigene Rechnung und Gefahr ausüben. Zum Begriff der selbständigen Erwerbstätigkeit gehört es nicht, daß tatsächlich Einkünfte iS des § 2 Abs 1 Satz 1 Nrn 1 bis 3 des Einkommensteuergesetzes, dh Arbeitseinkommen iS des § 15 SGB IV erzielt werden; der in der Literatur teilweise vertretenen Ansicht, selbständig tätig seien (nur) Personen, die durch Teilnahme am wirtschaftlichen Verkehr Einkünfte der genannten Art erzielen (vgl Boecken in Gemeinschaftskomm-SGB VI, § 4 RdNr 57; Klattenhoff in Hauck/Haines, SGB VI, § 4 RdNr 26), vermag der Senat nur in dem Sinne zu folgen, daß die Tätigkeit auf die Erzielung positiver Einkünfte gerichtet sein muß und nicht etwa nur der Liebhaberei dienen darf. Die Vorschriften über die Antragspflichtversicherung sind durch das RRG 1972 vom 16. Oktober 1972 (BGBl I 1965) in das Rentenrecht eingefügt worden. Sie gehörten zu den Regelungen über die Öffnung der gesetzlichen Rentenversicherung für Selbständige (vgl BT-Drucks VI/2153 und die Berichte des Ausschusses für Arbeits- und Sozialordnung und des Haushaltsausschusses des Bundestages in BT-Drucks VI/3767 S 1 und 5, VI/3781 S 2 und VI/3806 S 1 und 5). Das Antragsrecht sollte danach grundsätzlich allen Selbständigen offenstehen, insbesondere den Gewerbetreibenden und den Angehörigen freier Berufe (vgl BT-Drucks VI/2153 S 16).

Die Klägerin war bei dieser Auslegung des § 2 Abs 1 Nr 11 AVG schon ab August 1987 selbständig erwerbstätig. Sie übte als Rechtsanwältin einen freien Beruf aus (§ 2 Abs 1 der Bundesrechtsanwaltsordnung) und war nach den für den Senat bindenden Feststellungen des LSG als solche selbständig in einer Anwaltssozietät tätig. Für die selbständige Erwerbstätigkeit iS der Antragspflichtversicherung war es unerheblich, daß die Klägerin nach den Feststellungen des LSG aus ihrer Tätigkeit keinen Gewinn erzielte. Die Klägerin war ab August 1987 auch „nicht nur vorübergehend” selbständig erwerbstätig.

Die Frage, wie der Begriff der nicht nur vorübergehenden Ausübung der selbständigen Erwerbstätigkeit zu verstehen ist, wird nicht einheitlich beantwortet. Nach Auffassung der Rentenversicherungsträger wird, wie auch von der Beklagten in ihrer Revisionserwiderung vorgetragen, eine selbständige Erwerbstätigkeit nicht nur vorübergehend ausgeübt, wenn die Grenzen einer kurzfristigen Tätigkeit iS des § 8 Abs 1 Nr 2 SGB IV überschritten werden, sie also zum Zeitpunkt der Antragstellung bereits mehr als zwei Monate dauert oder nicht schon innerhalb von zwei Monaten nach Antragstellung beendet werden soll (vgl VerbKomm, § 1227 RVO RdNr 40 und § 4 SGB VI RdNr 14; ebenso Eicher/Haase/Rauschenbach, Die Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten, § 4 SGB VI Anm 8; Klattenhoff in Hauck/Haines, SGB VI, § 4 RdNr 29; Koch/Hartmann, AVG, § 2 Anm 13; Gesamtkomm Sozialversicherung – Lilge § 1227 RVO Anm 19c). Demgegenüber wird in der Literatur teilweise eine individuelle vorausschauende Beurteilung für erforderlich gehalten: Die Auslegung des Begriffs „nicht nur vorübergehend” am Maßstab der Geringfügigkeitsgrenze des § 8 Abs 1 Nr 2 SGB IV widerspreche dem Interesse der Versichertengemeinschaft an kontinuierlichen Versicherungsverhältnissen (Boecken in Gemeinschaftskomm-SGB VI, § 4 RdNrn 60, 61) und werde dem variierenden Sicherungsbedürfnis der Selbständigen nicht gerecht (Zweng/Scheerer/Buschmann/Dörr, Handbuch der Rentenversicherung, SGB VI, § 4 RdNr 17). Mit dem Begriff „nicht nur vorübergehend” sei eine auf Dauer angelegte selbständige Tätigkeit gemeint. Eine selbständige Tätigkeit sei daher „nur vorübergehend” und eine Antragspflichtversicherung deshalb unzulässig, wenn zur Zeit ihrer Aufnahme (so Funk in Kasseler Komm, SGB VI, § 4 RdNr 23) bzw im Zeitpunkt der Antragstellung (so Boecken in Gemeinschaftskomm-SGB VI, § 4 RdNr 61) von vornherein feststehe, daß sie zeitlich begrenzt ausgeübt werden solle.

Der Senat kann bei der Entscheidung dieses Rechtsstreits offenlassen, ob der Begriff „vorübergehend” in Anlehnung an eine kurzfristige Tätigkeit iS des § 8 Abs 1 Nr 2 iVm Abs 3 SGB IV eng auszulegen oder in Abwägung der Verhältnisse des Einzelfalles darauf abzustellen ist, ob die Tätigkeit von vornherein zeitlich begrenzt, dh nicht auf Dauer ausgeübt werden sollte. Beide Auslegungen führen hier zu dem Ergebnis, daß die Klägerin bereits ab August 1987 nicht nur vorübergehend selbständig erwerbstätig war. Dabei sind der Beurteilung der Dauer der selbständigen Erwerbstätigkeit, da es um den Beginn der Antragsfrist geht, die Verhältnisse zum Zeitpunkt ihrer Aufnahme zugrunde zu legen. Denn Beginn und Lauf dieser Frist müssen von vornherein feststehen. Die Voraussetzung der „nicht nur vorübergehenden” selbständigen Erwerbstätigkeit muß zwar grundsätzlich auch noch bei einer Antragstellung nach Aufnahme der Tätigkeit nach den dann (bei Antragstellung) gegebenen Verhältnissen vorausschauend geprüft werden, weil die Antragsberechtigung zu diesem Zeitpunkt bestehen muß. Das ist hier jedoch unerheblich, da die Klägerin bei Antragstellung im September 1991 schon wegen Ablaufs der Antragsfrist nicht mehr antragsberechtigt war.

Die Tätigkeit der Klägerin war zum Zeitpunkt ihrer Aufnahme nach den Feststellungen des LSG nicht auf längstens zwei Monate oder fünfzig Arbeitstage begrenzt. Spätestens im November 1987 stand außerdem fest, daß die Klägerin mehr als nur kurzfristig als Rechtsanwältin tätig sein werde. Die Tätigkeit kann auch nicht als von vornherein zeitlich begrenzt angesehen werden, selbst wenn nicht die Grenzen der kurzfristigen Tätigkeit, sondern das Vorbringen der Klägerin zugrunde gelegt wird, sie habe während der Zeit ihrer Arbeitslosigkeit nachhaltig eine unselbständige Beschäftigung angestrebt und mit ihrer Tätigkeit als Rechtsanwältin nur unschöne Lücken in ihrem beruflichen Lebenslauf vermeiden wollen. Die Ungewißheit über die Dauer einer selbständigen Tätigkeit, etwa im Hinblick auf ihren wirtschaftlichen Erfolg oder die Verwirklichung anderer beruflicher Perspektiven, wie hier der Aufnahme einer abhängigen Beschäftigung, reicht für die Annahme einer zeitlichen Begrenzung nicht aus, wenn nicht konkrete Anhaltspunkte für die Wiederaufgabe der selbständigen Tätigkeit bestehen. Dem Bedürfnis des Selbständigen, vor einer Entscheidung für ein bestimmtes Alterssicherungssystem seine berufliche Entwicklung abwarten zu können, trägt die Antragsfrist von zwei Jahren Rechnung (jetzt fünf Jahre; vgl zu diesem Zweck der Erweiterung der Antragsfrist BT-Drucks 11/5530 S 40). Dieses Bedürfnis kann daher nicht auch für die Auslegung des Begriffs „vorübergehend” maßgebend sein, wenn der Antragsfrist selbst noch eine Bedeutung zukommen soll. Allein die Hoffnung und das Bemühen der Klägerin, eine abhängige Beschäftigung zu finden, die ihr die Aufgabe der selbständigen Tätigkeit ermöglicht hätte, genügt daher nicht, um diese Tätigkeit als zeitlich begrenzt anzusehen. Die Rüge der Klägerin, die Vorinstanzen hätten die schwierige Arbeitsmarktlage für Juristen im Jahre 1987 und in der Folgezeit nicht berücksichtigt, greift nicht durch. Bei vorausschauender Betrachtungsweise sprach diese Arbeitsmarktsituation eher für eine Fortführung der selbständigen Tätigkeit als Rechtsanwältin als für eine zeitliche Begrenzung.

Die Antragsberechtigung der Klägerin und damit Beginn und Lauf der Antragsfrist für die Pflichtversicherung als Selbständige ab August 1987 wurde von der im gleichen Zeitraum bestehenden Arbeitslosigkeit mit Leistungsbezug nicht berührt. Der Senat hat bereits entschieden, daß sich der Ausschluß der Antragspflichtversicherung in § 2 Abs 1 Nr 11 AVG (§ 1227 Abs 1 Satz 1 Nr 9 und Satz 1 Halbs 2 RVO) durch eine Versicherungspflicht aufgrund anderer Vorschriften nur auf einen Versicherungspflichttatbestand wegen derselben Beschäftigung oder Tätigkeit bezieht; dagegen können Personen, die in einem versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis stehen und während dieser Zeit eine davon unabhängige selbständige Tätigkeit ausüben (sog Doppelberufler), für die selbständige Tätigkeit die Pflichtversicherung beantragen (BSGE 49, 38 = SozR 2200 § 1227 Nr 29; BSG Urteil vom 15. Dezember 1983 – 12 RK 6/83 – USK 83163). Diese auf dem Grundsatz der versicherungsrechtlich selbständigen Beurteilung verschiedener Lebenssachverhalte beruhende Rechtsprechung ist auch auf den vorliegenden Sachverhalt anzuwenden, bei dem die selbständige Tätigkeit neben die Arbeitslosigkeit mit Leistungsbezug getreten ist. Auf die rentenrechtliche Beurteilung der Zeit des Arbeitslosenhilfebezuges (vgl § 252 Abs 2 Nr 1 SGB VI) kommt es insoweit nicht an.

Die Antragsberechtigung der Klägerin wurde auch nicht bis zur Aufnahme der ganztägigen selbständigen Tätigkeit im September 1991 hinausgeschoben, wenn sie in der Zeit von August 1987 bis August 1991, was das LSG nicht festgestellt hat, nur geringfügig iS des § 4 Abs 1 Nr 5 Halbs 1 AVG iVm § 8 Abs 1 Nr 1 SGB IV tätig gewesen sein sollte, dh nicht nur kein Arbeitseinkommen erzielte, sondern auch regelmäßig weniger als 15 Stunden in der Woche tätig war. Zwar hätte ihr Antrag dann nicht zur Feststellung der Versicherungspflicht führen können, weil eine selbständige Tätigkeit, welche die Grenzen der Geringfügigkeit nach § 8 Abs 1 Nr 1 SGB IV nicht überschreitet, nach Abs 3 der Vorschrift versicherungsfrei ist. Dies schließt jedoch die Antragsberechtigung und damit den Beginn der Antragsfrist nicht aus (vgl auch Jahn DRV 1980, 336, 338; Klattenhoff in Hauck/Haines, SGB VI, § 4 RdNr 59). Versicherungsfreiheit wegen Geringfügigkeit kann nur eintreten, wenn grundsätzlich Versicherungspflicht besteht (vgl auch BSG SozR 2200 § 1227 Nr 9 S 23 und Nr 13 S 31). Bei der Antragspflichtversicherung Selbständiger wird die Versicherungspflicht dem Grunde nach durch den Antrag ausgelöst. Dieser Systematik würde es widersprechen, wenn bereits das Antragsrecht durch eine erst danach rechtlich relevante Versicherungsfreiheit ausgeschlossen wäre. Die Auffassung entspricht dem Wortlaut der Regelungen über die Antragspflichtversicherung, welche die Berechtigung zum Antrag auf Pflichtversicherung nur von der Ausübung einer nicht nur vorübergehenden selbständigen Erwerbstätigkeit abhängig machen. Sie dient auch der Rechtsklarheit und beugt Manipulationen vor. Da die Antragsberechtigung für Beginn und Lauf der Antragsfrist maßgebend ist, muß sie für den Selbständigen jederzeit zu beurteilen sein. Das ist dann der Fall, wenn sie allein an Aufnahme und Fortführung der selbständigen Erwerbstätigkeit anknüpft. Diese Tatsachen sind auch vom Rentenversicherungsträger, der im Zeitpunkt der Antragstellung die Verhältnisse in der Regel rückblickend für die Vergangenheit festzustellen hat, relativ leicht überprüfbar. Dagegen würde die Prüfung, ob die Tätigkeit bis zur Antragstellung versicherungsfrei iS des § 8 Abs 1 Nr 1 iVm Abs 3 SGB IV war oder nicht, auf größere Schwierigkeiten stoßen.

Die Klägerin war somit nach § 2 Abs 1 Nr 11 AVG ab ihrer Zulassung als Rechtsanwältin und Aufnahme der selbständigen Tätigkeit im August 1987 berechtigt, die Pflichtversicherung als Selbständige zu beantragen. Die zweijährige Antragsfrist nach dieser Vorschrift begann mit Entstehen der Antragsberechtigung und endete gemäß § 26 Abs 1 des Sozialgesetzbuchs – Verwaltungsverfahren (SGB X) iVm § 188 Abs 2, erste Alternative des Bürgerlichen Gesetzbuchs im August 1989. Anhaltspunkte dafür, daß die selbständige Tätigkeit während der Zeit von August 1987 bis August 1989 zeitweise unterbrochen war und daher die Frist zu einem späteren Zeitpunkt neu begonnen hat, ergeben sich nicht. Die Antragsfrist war demnach im Zeitpunkt der Antragstellung im September 1991 bereits abgelaufen.

Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen unverschuldeter Versäumung der Antragsfrist nach § 27 Abs 1 SGB X kommt nicht in Betracht. Zwar kann diese Vorschrift nach der Rechtsprechung des Senats grundsätzlich auf die Versäumung materiell-rechtlicher Fristen Anwendung finden (vgl BSGE 64, 153, 156 = SozR 1300 § 27 Nr 4), um die es sich auch bei der Frist für den Antrag auf Pflichtversicherung handelt (vgl BSGE 48, 12 = SozR 2200 § 1227 Nr 23 und BSG SozR 2200 § 1227 Nr 25). Eine Wiedereinsetzung ist hier jedoch schon deshalb ausgeschlossen, weil der Antrag auf Pflichtversicherung vom September 1991 mehr als ein Jahr nach dem Ende der Frist im August 1989 gestellt worden ist (vgl § 27 Abs 3 SGB X).

Die Beklagte ist schließlich nicht verpflichtet, die Klägerin aufgrund eines Herstellungsanspruchs so zu stellen, als habe sie den Antrag auf Pflichtversicherung rechtzeitig gestellt. Eine Beratungspflichtverletzung durch die Beklagte selbst ist nicht ersichtlich und wird von der Klägerin auch nicht geltend gemacht. Auch der Bundesanstalt für Arbeit (BA) ist kein Beratungsfehler unterlaufen, den sich die Beklagte zurechnen lassen müßte. Ein Herstellungsanspruch kann sich allerdings unter Umständen auch auf Fehler anderer Behörden stützen, wenn diese es versäumt haben, die Klägerin auf sich aufdrängende Nachteile in anderen Rechtsbereichen und auf insoweit bestehende Beratungsmöglichkeiten durch den zuständigen Träger hinzuweisen (vgl BSGE 73, 56 = SozR 3-1200 § 14 Nr 9 mwN). Der BA mußte sich jedoch im Zusammenhang mit der Anzeige der Klägerin über die Aufnahme einer kurzzeitigen selbständigen Tätigkeit ein Beratungsbedarf über Begründung oder Aufrechterhaltung eines Versicherungsschutzes in der Rentenversicherung nicht aufdrängen. Der Leistungsanspruch der Klägerin aus der Arbeitslosenversicherung wurde durch die selbständige Tätigkeit in kurzzeitigem Umfang iS des § 102 AFG nicht gefährdet (§ 101 Abs 1 Satz 1 und Satz 2 Nr 1 AFG). Die Zeit des Leistungsbezuges wegen Arbeitslosigkeit erfüllte nach dem bis zum 31. Dezember 1991 geltenden Recht in der Rentenversicherung einen Ausfallzeittatbestand (§ 36 Abs 1 Satz 1 Nr 3a AFG) und galt damit als Aufschubzeit im Rahmen des Versicherungsschutzes wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit (§ 23 Abs 2a Satz 2 Nrn 2 oder 6 AVG). Rentenversicherungsrechtliche Nachteile, die der Klägerin durch Aufnahme der kurzzeitigen selbständigen Tätigkeit entstehen konnten, lagen aus der Sicht der BA somit nicht klar zutage.

Die Revision der Klägerin erwies sich demnach als unbegründet und war daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes

 

Fundstellen

DStR 1998, 305

SozR 3-2200 § 1227, Nr.8

SozSi 1997, 437

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