Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Urteil vom 26.11.1991; Aktenzeichen L 1 U 262/90)

 

Tenor

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 26. November 1991 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat dem Kläger auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Streitig ist, ob der Kläger am 29. Oktober 1989 einen die Leistungspflicht des beklagten Unfallversicherungsträgers begründenden Arbeitsunfall/Schülerunfall erlitten hat.

Der Kläger nahm als Schüler des Wernher-von-Braun-Gymnasiums in F. … vom 24. Oktober bis 5. November 1989 an einer Klassenfahrt nach Großbritannien teil, die im Rahmen eines internationalen Schüleraustausches vom Gymnasium organisiert und durchgeführt wurde. Das Programm entsprach den in der Bekanntmachung des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus (Beigeladener) vom 24. Januar 1984 (Nr A/16 – 8/113352) zum internatiolen Schüleraustausch aufgestellten Kriterien. Es sah bis zum 2. November 1989 eine Unterbringung bei englischen Gastfamilien vor und enthielt neben der Besichtigung von Sehenswürdigkeiten die Teilnahme an Gemeinschaftsveranstaltungen sowie am Unterricht in der englischen Partnerschule. Das Wochenende vom 28. auf den 29. Oktober 1989 war entsprechend dem vom Gymnasium aufgestellten Austauschprogramm dem individuellen Aufenthalt in der jeweiligen Gastfamilie vorbehalten. Am 29. Oktober 1989 unternahm der Kläger mit der ihn betreuenden Gastfamilie einen Ausflug zu einer Sommerrodelbahn. Er verunglückte beim Rodeln und erlitt einen komplizierten Bruch des rechten Unterschenkels.

Der Beklagte lehnte es ab, den Kläger wegen der Unfallfolgen zu entschädigen, weil der Kläger zum Unfallzeitpunkt nicht unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung gestanden habe. Der Ausflug zum Sommerrodeln sei nicht von der Schule, sondern von den Gasteltern organisiert worden (Bescheid vom 27. März 1990).

Das Sozialgericht (SG) hat den Beklagten am 2. Oktober 1990 verurteilt, den Unfall des Klägers vom 29. Oktober 1989 als Arbeitsunfall anzuerkennen und die daraus resultierenden gesetzlichen Leistungen zu erbringen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 26. November 1991) und zur Begründung ua ausgeführt: Der Kläger habe am 29. Oktober 1989 einen Arbeitsunfall – Schülerunfall – erlitten, weil er auch bei dem mit den Gasteltern unternommenen Ausflug zum Sommerrodeln gemäß § 548 iVm § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst b der Reichsversicherungsordnung (RVO) unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung gestanden habe. Das Wochenende vom 28./29. Oktober 1989 sei nicht lediglich ein zeitlicher Teil des Auslandsaufenthaltes gewesen, sondern ein wesentlicher inhaltlicher Teil des Austauschprogramms. Der besondere Zweck des internationalen Schüleraustausches liege nämlich – im Gegensatz zu Studienfahrten mit Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften – gerade in der Förderung des direkten Kontaktes des jeweiligen Schülers in/mit seiner Gastfamilie, so daß die Teilnahme an deren Freizeitaktivitäten – wie das zum Unfall führende Sommerrodeln – dem Austauschprogramm und damit dem organisatorischen Verantwortungsbereich des Gymnasiums zuzuordnen sei.

Mit der – vom LSG zugelassenen – Revision rügt der Beklagte eine Verletzung materiellen Rechts. Das LSG habe die Rechtsgrundsätze, die das Bundessozialgericht (BSG) zum Versicherungsschutz bei schulischen Veranstaltungen entwickelt habe, im vorliegenden Fall unzutreffend angewandt. So werde nicht jede Verrichtung, die während einer Schulveranstaltung unternommen werde, vom grundsätzlich gegebenen Versicherungsschutz erfaßt. Auch ein schulischer Auslandsaufenthalt zerfalle in einen vom organisatorischen Verantwortungsbereich der Schule geprägten versicherten Teil und einen dem unversicherten Bereich zuzurechnenden „privaten” Teil, zu dem insbesondere die Freizeitgestaltung gehöre. Hierzu zähle auch der Wochenendaufenthalt bei der englischen Gastfamilie. Es sei den Gasteltern nämlich weitgehend überlassen geblieben, in welcher Weise sie ihren Gastschüler betreuen wollten. Insoweit habe die Schule lediglich allgemeine Empfehlungen erteilt; ihre Verantwortlichkeit habe sich im übrigen auf die Auswahl der Kontaktpersonen beschränkt, die die Schüler in England an die Gasteltern weitervermittelt und die Wünsche und Vorstellungen der deutschen Schule an die Gasteltern weitergegeben hätten. Eine derart geringe Einflußnahme der Schule auf die Wochenendgestaltung des Gastschülers reiche keineswegs aus, um die Gasteltern als „Beauftragte der Schule” einstufen zu können. Auch der Umstand, daß die Förderung des familiären Kontaktes zu den Zielen des Austauschprogramms gehört habe, könne nicht zu einer Ausdehnung des Unfallversicherungsschutzes auf den Freizeitbereich führen. Die gegenteilige Auffassung würde zu einem mit dem Recht der gesetzlichen Unfallversicherung nicht zu vereinbarenden Versicherungsschutz „rund um die Uhr” führen.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 26. November 1991 sowie das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 2. Oktober 1990 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 27. März 1990 abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision des Beklagten zurückzuweisen.

Der Beigeladene teilt die Rechtsauffassung des Beklagten.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫).

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision des Beklagten ist unbegründet.

Zu Recht haben das SG und das LSG erkannt, daß der Kläger am 29. Oktober 1989 einen Arbeitsunfall erlitten hat.

Nach § 548 Abs 1 Satz 1 RVO ist ein Arbeitsunfall ein Unfall, den eine versicherte Person bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten erleidet. Dazu gehören nach § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst b RVO auch Verrichtungen eines Schülers während des Besuchs einer allgemeinbildenden Schule. Dem Versicherungsschutz unterliegen in erster Linie Betätigungen während des Unterrichts, in den dazwischen liegenden Pausen und solche im Rahmen sogenannter Schulveranstaltungen. Allerdings ist der Schutzbereich der „Schülerunfallversicherung” nach der ständigen Rechtsprechung des Senats und nahezu einhelliger Auffassung in Schrifttum enger als der Versicherungsschutz in der gewerblichen Unfallversicherung (zB BSGE 41, 149, 151; 51, 257, 259; SozR 2200 § 539 Nrn 120 und 122; zuletzt Urteil vom 28. Februar 1990 – 2 RU 34/89; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 11. Aufl, S 474r ff und 483o/p; Lauterbach/Watermann, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl, § 539 Anm 85; Gitter, SGb-Sozialversicherung-Gesamtkommentar Bd 6, § 539 Anm 48). Er richtet sich, wie sich sowohl aus dem Wortlaut der Vorschrift als auch aus ihrer Entstehungsgeschichte (dazu ausführlich BSGE 35, 207, 210 f mwN) ergibt, nach dem organisatorischen Verantwortungsbereich der Schule. Außerhalb dieses Verantwortungsbereichs besteht in der Regel auch dann kein Versicherungsschutz bei Verrichtungen, wenn diese wesentlich durch den Schulbesuch bedingt sind und ihm deshalb an sich nach dem Recht der gewerblichen Unfallversicherung zuzuordnen wären (BSGE 51, 257, 259).

Unter Beachtung dieser Grundsätze stand der Kläger unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung, als er am 29. Oktober 1989 beim Sommerrodeln verunglückte. Denn der Wochenendaufenthalt bei der englischen Gastfamilie und die damit verbundenen Unternehmungen sind dem organisatorischen Verantwortungsbereich des Wernher-von-Braun-Gymnasiums zuzuordnen.

Nach den unangegriffenen und daher den erkennenden Senat bindenden tatsächlichen Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) handelte es sich bei der individuellen Unterbringung des Schülers bei den Gasteltern um einen Kernbereich des Auslandsaufenthaltes, dessen rechtliche Qualifizierung als Schulveranstaltung außer Streit steht. Der neu geschaffene Schüleraustausch sollte sich von Studienfahrten, Wanderungen und anderen touristischen Unternehmungen abgrenzen. Ziel sollte die Förderung des Kontakts zwischen deutschen und ausländischen Schülern sein. Diese sollten gemeinsam etwas unternehmen, sei es in oder außerhalb der Schule, ua auch wegen der sprachlichen Förderung. Zu diesem Zweck sind vorbereitende Gespräche zwischen der deutschen Begleitlehrerin und der zuständigen englischen Lehrerin geführt worden, welche die Auswahl der Gasteltern und die Modalitäten der Betreuung zum Gegenstand hatten.

Zutreffend hat das LSG aufgrund dieser Umstände erkannt, daß es sich bei dem Wochenendaufenthalt in der englischen Gastfamilie um einen integralen Bestandteil des Austauschprogramms gehandelt hat, der dem organisatorischen Verantwortungsbereich der Schule zuzuordnen ist. Mit Blick auf den pädagogischen Zweck der Familienunterbringung läßt sich der Auslandsaufenthalt im Rahmen der organisierten Schulveranstaltung auch nicht – wie der Beklagte meint – in einen versicherten schulischen und einen unversicherten privaten Teil aufspalten, insbesondere nicht bezüglich der Freizeitaktivitäten am schulfreien Wochenende. Viel mehr sollte gerade das von der Schule mit als Teil der Schulveranstaltung organisierte gemeinsame Verbringen des Wochenendes mit der Gastfamilie der angestrebten Kontaktpflege dienen. Daß die Schule keine unmittelbare Einflußmöglichkeit auf die konkrete Gestaltung der jeweiligen Unternehmungen hatte, ändert nichts an deren organisatorischen Verantwortlichkeit; denn ebensowenig wie die unterstützende Teilnahme von Lehrern an Freizeitveranstaltungen ihrer Schüler eine organisatorische Verantwortung zu begründen vermag (BSGE 44, 94, 97; zuletzt Urteil vom 24. Januar 1990 – 2 RU 22/89 –), entfällt die Verantwortung der Schule deshalb, weil sie die konkrete Durchführung ihrer eigenen Veranstaltung nicht im einzelnen bestimmen kann.

Diese Auffassung führt auch nicht zu einem Versicherungsschutz „rund um die Uhr”, wie der Beklagte meint. Ausgenommen vom Versicherungsschutz bleiben – worauf das LSG bereits zutreffend hingewiesen hat – außerhalb der Schulveranstaltung auch bei der hier vorliegenden Fallgestaltung typisch eigenwirtschaftliche Verrichtungen wie zB Essen, Trinken und Schlafen sowie solche, die in keinem wesentlichen inneren Zusammenhang mit dem Austauschprogramm stehen.

Nach allem war die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

NJW 1993, 2006

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