Entscheidungsstichwort (Thema)

Erwerbsunfähigkeit älterer langzeitarbeitsloser Versicherter. qualitativer Wert des bisherigen Berufes bei Mischtätigkeiten

 

Leitsatz (amtlich)

1. Auch ein lebensälterer, langzeitarbeitsloser Versicherter, der nur noch leichte Arbeiten vollschichtig verrichten kann, ist nur dann erwerbsunfähig iS von § 24 Abs 2 AVG (= § 1247 Abs 2 RVO), wenn er nicht mehr regelmäßig oder nur noch für geringfügiges Entgelt tätig sein oder lediglich seltene Vollzeitarbeitsplätze ausfüllen kann (Bestätigung und Fortführung von BSG vom 25.6.1986 - 4a RJ 55/84 und vom 9.9.1986 - 6b RJ 50/84 = SozR 2200 § 1246 Nrn 137 und 139; Urteil vom 21.7.1992 - 4 RA 13/91; Beschluß vom 23.3.1993 - 4 BA 121/92 = NZS 1993, 403).

2. Zur Beurteilung des qualitativen Wertes des bisherigen Berufes und des Verweisungsberufes bei sogenannten Mischtätigkeiten im Rahmen der Prüfung von Berufsunfähigkeit (§ 23 Abs 2 AVG = § 1246 Abs 2 RVO).

 

Normenkette

AVG § 24 Abs. 2, § 23 Abs. 2; RVO § 1247 Abs. 2, § 1246 Abs. 2

 

Verfahrensgang

SG München (Entscheidung vom 17.01.1991; Aktenzeichen S 12 An 133/90)

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 13.01.1993; Aktenzeichen L 13 An 68/91)

 

Tatbestand

Streitig ist die Gewährung einer Rente wegen Erwerbs- bzw Berufsunfähigkeit (EU/BU).

Der 1942 in Celje/Slowenien geborene Kläger hat dort den Beruf des Galvaniseurs erlernt und von 1969 bis 1972 in der Bundesrepublik Deutschland ausgeübt. Danach war er bis Dezember 1987 in der Baufirma seines Bruders als sog kaufmännischer Angestellter versicherungspflichtig beschäftigt. Bis Februar 1989 bezog er Krankengeld, danach Arbeitslosengeld. Seit Dezember 1990 erhält er Arbeitslosenhilfe.

Den am 23. März 1989 gestellten Antrag des Klägers auf Gewährung einer Rente wegen EU bzw BU lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 28. November 1989 aufgrund eines orthopädischen und eines nervenärztlichen Gutachtens ab. In dem orthopädischen Gutachten wurde ausgeführt, der Kläger könne leichte bis mittelschwere Arbeiten ohne häufiges Heben, Tragen oder Bewegen von Lasten und ohne ständiges Bücken vollschichtig verrichten. Nervenärztlich wurde der Kläger als kaufmännischer Angestellter für vollschichtig einsetzbar gehalten.

Das Sozialgericht (SG) München hat die Klage nach Erhebung medizinischen Sachverständigenbeweises abgewiesen (Urteil vom 17. Januar 1991). Der von ihm gehörte orthopädische Gutachter kam zu dem Ergebnis, dem Kläger seien aufgrund seiner Gesundheitsstörungen - insbesondere im Bereich der Wirbelsäule - schwere und mittelschwere Arbeiten, insbesondere das Heben und Tragen von Lasten sowie Arbeiten im Bücken nicht mehr zumutbar. Der Kläger sollte nicht auf Treppen, Leitern, Gerüsten und in Hockestellung oder über längere Zeiträume hinweg an Büromaschinen und Bildschirmen arbeiten. Vielmehr sollte ein Wechsel zwischen Gehen, Stehen und Sitzen ohne Zwangshaltung der Wirbelsäule möglich sein. Damit könne der Kläger als Baustellenbetreuer und LKW-Fahrer nur noch weniger als zwei Stunden täglich tätig sein. Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sei er dagegen vollschichtig einsetzbar.

Das Bayerische Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers durch Urteil vom 13. Januar 1993 zurückgewiesen. Es ist im wesentlichen folgender Auffassung: Der Kläger habe sich von der ursprünglich ausgeübten Tätigkeit des Galvaniseurs freiwillig gelöst und genieße insofern keinen Berufsschutz. "Bisheriger Beruf" iS des § 23 Abs 2 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) sei vielmehr die zuletzt in der Baufirma ausgeübte Tätigkeit. Es handele sich hierbei um eine Mischtätigkeit körperlicher und büromäßiger Natur, die als solche nicht in dem einschlägigen Tarifvertrag für das Baugewerbe erwähnt sei. Der Kläger sei mit der Einrichtung und Versorgung der Baustellen, Personen- und Materialtransporten, der Baustellenbetreuung und -organisation, dem Einkauf von Arbeitsmaterialien, der Lohnabrechnung und anderen Büroarbeiten sowie der Einstellung und Kündigung von Arbeitern beschäftigt gewesen. Den Beruf in dieser Form könne der Kläger aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausüben, weil er im wesentlichen mit schwerer körperlicher Arbeit verbunden sei. Für die Tätigkeit, die der Kläger verrichtet habe, gebe es keine einschlägige Ausbildung. Aus der Vergütung nach der Berufsgruppe M IV 2 des Lohntarifvertrages für gewerbliche Arbeitnehmer ergebe sich, daß es sich um einen Fachberuf handele. Es gebe noch genügend gleichwertige Tätigkeiten, die der Kläger aufgrund seiner Fähigkeiten weiterhin ausüben könne. So könne er als Fachvorarbeiter (Berufsgruppe M II) mit Schwerpunkt auf den Bereichen Mitarbeiterführung und Arbeitsorganisation tätig werden. Auf dem Gebiet der Angestelltentätigkeiten sei er als Bauleiter ebenfalls voll einsatzfähig; auch hier gehe es insbesondere um die Aufgabenbereiche Arbeitsorganisation und Mitarbeiterführung.

Mit der - vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen - Revision rügt der Kläger eine Verletzung der §§ 103, 106, 109, 62 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sowie der §§ 23, 24 AVG. Das LSG habe einen Beweisantrag des Klägers auf Einholung eines orthopädischen Gutachtens nicht beschieden. Desweiteren habe das LSG seiner Entscheidung eine Tätigkeitsbeschreibung gemäß Tarifvertrag (Berufsgruppe M II) zugrunde gelegt, die es vorher in das Verfahren nicht eingeführt habe. Schließlich habe das LSG auch nicht die Anforderungen im bisherigen Beruf im einzelnen festgestellt und dem medizinischen Sachverständigen die Frage vorgelegt, ob der Kläger diesen Anforderungen heute tatsächlich noch gewachsen sei.

Der Kläger beantragt schriftsätzlich sinngemäß,

die Urteile des Bayerischen Landessozialgerichts vom 13. Januar 1993 und des Sozialgerichts München vom 17. Januar 1991 sowie den Bescheid der Beklagten vom 28. November 1989 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit zu zahlen.

Die Beklagte hat sich zum Revisionsvorbringen nicht geäußert und keinen Antrag gestellt.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision des Klägers ist iS der Aufhebung des angefochtenen Urteils und der Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Die tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts reichen - ungeachtet der Verfahrensrügen des Klägers - nicht aus, abschließend zu beurteilen, ob der Kläger erwerbsunfähig (eu) oder berufsunfähig (bu) ist.

Maßgebend für den Anspruch des Klägers sind die Vorschriften des AVG, das mit dem 1. Januar 1992 außer Kraft getreten ist (Art 83 Nr 1, Art 85 Abs 1 des Rentenreformgesetzes 1992 ≪RRG 1992≫). Denn es ist über einen vor diesem Zeitpunkt geltend gemachten Rentenanspruch im ersten Feststellungsverfahren zu entscheiden (§ 300 Abs 2 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch ≪SGB VI≫; vgl Urteile des erkennenden Senats vom 21. Juli 1992 - 4 RA 13/91 - und vom 25. Februar 1992 - 4 RA 14/91 -).

Gemäß § 24 Abs 1 AVG erhält der Versicherte Rente wegen EU, der eu ist und zuletzt vor Eintritt der EU eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt hat, wenn die Wartezeit erfüllt ist. Rente wegen BU erhält der Versicherte, der bu ist und die eben genannten versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt (§ 23 Abs 1 AVG).

Keiner Darlegung bedarf, daß der Kläger im Hinblick auf beide beanspruchten Renten die Wartezeit, dh eine Versicherungszeit von 60 Kalendermonaten (§ 24 Abs 1 und 3 Satz 1 Buchst a, § 23 Abs 1 und 3 AVG) erfüllt hat. Ob er auch vor dem Eintritt von EU/BU eine versicherungspflichtige Beschäftigung ausgeübt hat (iS von § 23 Abs 1 und 2a, § 24 Abs 1 und 2a AVG), kann der Senat nicht entscheiden, weil die tatsächlichen Feststellungen des LSG nicht ausreichen zu beurteilen, ob und ggf wann ein Versicherungsfall eingetreten ist (dazu unten).

Nach § 24 Abs 2 Satz 1 AVG ist der Versicherte eu, der gesundheitlich nicht in der Lage ist, auf nicht absehbare Zeit eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben oder mehr als nur geringfügige Einkünfte durch Erwerbstätigkeit zu erzielen.

Nach den insoweit unangegriffenen und somit den Senat bindenden (§ 163 SGG) Feststellungen des Berufungsgerichts kann der Kläger leichte Arbeiten noch vollschichtig verrichten. In solchen Fällen ist EU grundsätzlich nicht gegeben. Nach der Entscheidung des Senats vom 21. Juli 1992 (4 RA 13/91; vgl auch BSG, Urteil vom 31. März 1993 - 13 RJ 65/91 -, zur Veröffentlichung vorgesehen) ist ein Versicherter, der vollschichtig einsetzbar ist, jedoch immer eu, wenn er in dem dort ausgeführten Sinn nicht mehr regelmäßig tätig sein oder nur noch geringfügige Einkünfte erzielen kann. Das gleiche gilt ausnahmsweise, soweit er zwar auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch regelmäßig vollschichtig einsetzbar ist, aber nur noch Vollzeitarbeitsplätze ausfüllen kann, bei denen wegen ihrer Seltenheit zumindest die erhebliche Gefahr einer Verschlossenheit des Arbeitsmarktes besteht. Dies hat der Senat in seiner Entscheidung vom 25. Juni 1986 (= SozR 2200 § 1246 Nr 137; bestätigt durch die Entscheidung des 5b Senats des BSG vom 9. September 1986 = SozR aaO Nr 139) durch eine abschließende, dh nicht ausdehnbare Auflistung solcher seltenen Tätigkeiten (Katalogfälle) umgrenzt. Die tatsächlichen Feststellungen des LSG sind - worauf zurückzukommen sein wird - jedoch nicht ausreichend, um beurteilen zu können, ob eine dieser Fallgestaltungen hier vorliegt.

Eine abschließende Entscheidung des Senats ist auch nicht etwa aus Rechtsgründen deshalb möglich, weil der Kläger bei Erlaß des Berufungsurteils bereits das 50. Lebensjahr vollendet hatte und im Hinblick auf seine mehrjährige Arbeitsunfähigkeit und Arbeitslosigkeit EU zu bejahen wäre: Zwar wird in der Rechtsprechung der Tatsacheninstanzen und in der Literatur die Auffassung vertreten, daß Rente wegen EU wegen Verschlossenheit des Arbeitsmarkts auch Langzeitarbeitslosen (mindestens ein Jahr Arbeitslosigkeit) zu gewähren ist, die älter sind als 50 Jahre und vollschichtig nur noch körperlich leichte Arbeiten verrichten können (SG Münster, Urteil vom 6. Dezember 1990 - S 10 J 103/89 - sowie Urteile vom 4. Juli 1991 - S 10 J 97/90 und S 10 J 180/89 -; SG Wiesbaden, Urteil vom 17. September 1987 - S 10 J 214/86 - NZA 1988, 670 ≪ab Vollendung des 55. Lebensjahres, soweit der Versicherte seine zuletzt ausgeübte Tätigkeit für mehr als ein Jahr aufgrund gesundheitlicher Einschränkungen nicht mehr ausüben kann≫; LSG Celle, Urteil vom 25. November 1992 - L 2 J 138/91 -; Erlenkämper, ZfS 1992, 4 ff und DRV 1992, 39 ff). Erlenkämper und dem folgend das LSG Celle nehmen eine Verschlossenheit des Arbeitsmarktes in diesen Fällen allerdings nur dann an, wenn der Versicherte infolge von Krankheit oder Behinderung seine zuletzt verrichtete Berufstätigkeit nicht mehr ausüben kann, darüber hinaus die Erwerbsfähigkeit tatsächlich erheblich gemindert ist und der Versicherte auch innerhalb eines durch die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes (§ 106 Abs 1 Arbeitsförderungsgesetz ≪AFG≫) gekennzeichneten verlängerten Zeitraums trotz intensiver Bemühungen des Arbeitsamtes und des zuständigen Rentenversicherungsträgers in eine behinderungsgerechte (Dauer-)Beschäftigung nicht vermittelt werden kann.

Der Senat hat jedoch bereits geklärt, daß jede der vorgenannten Rechtsauffassungen (sowie alle Kombinationen hiervon) und damit die Gewährung einer "Arbeitsmarktrente" die Grenzen einer zulässigen richterlichen Rechtsfortbildung bei weitem überschritten. Den gesetzlichen Vorschriften über Renten wegen EU oder BU ist diesbezüglich nicht der geringste Hinweis zu entnehmen, so daß in solchen Fällen eine gesetzliche Grundlage für die Gewährung von Rente wegen EU (oder BU) fehlen würde (Beschluß vom 23. März 1993 - 4 BA 121/92 - NZS 1993, 403; ebenso Ottmüller, DRV 1991, 509 ff; Kamprad, SGb 1993, 413 ff, 462 ff, 464 f; Langenheim, DRV 1993, 637 ff). Dem Kläger kann sonach ein Rentenanspruch aus solchen Gründen nicht zustehen.

Aber auch für die Beantwortung der Frage, ob dem Kläger Versichertenrente wegen BU zu gewähren ist, reichen die tatsächlichen Feststellungen des LSG nicht aus.

BU ist ein Versicherter gemäß § 23 Abs 2 Satz 1 AVG, dessen Erwerbsfähigkeit aus gesundheitlichen Gründen auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist. Nach Satz 2 aaO beurteilt sich die Erwerbsfähigkeit des Versicherten nach allen seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechenden Tätigkeiten, die ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Mithin kommt bei der Prüfung der BU der Ermittlung des "bisherigen Berufs" entscheidende Bedeutung zu. Es ist zu prüfen, ob der Versicherte seinen bisherigen Beruf ohne wesentliche Einschränkungen weiterhin ausüben kann. Ist er hierzu im wesentlichen aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage, ist der qualitative Wert des bisherigen Berufs von entscheidender Bedeutung für die Frage, auf welche Tätigkeiten der Versicherte verwiesen werden kann (stellv BSG, Urteile vom 12. Oktober 1993 - 13 RJ 53/92 - und vom 17. Juni 1993 - 13 RJ 23/92 -; BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr 2).

Zutreffend ist das LSG zunächst davon ausgegangen, daß "bisheriger Beruf" des Klägers dessen zuletzt in der Baufirma seines Bruders ausgeübte versicherungspflichtige Beschäftigung ist. Hingegen kommt seine früher ausgeübte Beschäftigung als Galvaniseur nicht als "bisheriger Beruf" in Betracht, weil er sich von dieser Tätigkeit "freiwillig", dh im wesentlichen nicht krankheits- oder behinderungsbedingt gelöst hat (vgl BSG, Urteil vom 17. Juni 1993 - 13 RJ 23/92 - mwN).

Die bisherigen Feststellungen des Berufungsgerichts zum "bisherigen Beruf" des Klägers sind jedoch nicht ausreichend. So fehlen Feststellungen dazu, welche der von ihm der Art nach aufgezählten Verrichtungen der Berufstätigkeit des Klägers das Gepräge gegeben, dh mindestens etwa 50 vH der Gesamttätigkeit ausgemacht haben. Insoweit wird das LSG auch zu überprüfen haben, inwieweit die von ihm bisher ermittelten Tätigkeitsfelder, die der Kläger verrichten mußte, abschließend sind. Im Hinblick hierauf bietet sich beispielsweise eine Einvernahme des früheren Arbeitgebers des Klägers an.

Ferner hat es das LSG unterlassen, das gesundheitliche Anforderungsprofil, dh die körperlichen, geistigen und seelischen Anforderungen dieses "bisherigen Berufs" genau festzustellen und sie zu dem Restleistungsvermögen des Klägers in Beziehung zu setzen. Infolgedessen kann auch nicht beurteilt werden, ob der Kläger seinen bisherigen Beruf angesichts seiner gesundheitlichen Einschränkungen noch ausüben kann (vgl hierzu BSG, Urteil vom 17. Juni 1993 - 13 RJ 23/92 -; BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr 29).

Sollte das Berufungsgericht aufgrund der nachzuholenden Feststellungen zu dem Ergebnis kommen, daß der Kläger den gesundheitlichen Anforderungen seines "bisherigen Berufs" nicht mehr genügen kann, ist er noch nicht bu. Das Gesetz mutet ihm vielmehr zu, eine Verweisungstätigkeit aufzunehmen, die ihn qualitativ weder über- noch unterfordert und seinem gesundheitlichen Restleistungsvermögen entspricht. Die berufliche Zumutbarkeit einer Verweisungstätigkeit ist nach dem qualitativen Wert des bisherigen Berufes zu beurteilen. Es besteht also eine Abhängigkeit des Verweisungsfeldes vom qualitativen Wert des bisherigen Berufes (BSGE 66, 226 = SozR 3-2200 § 1246 Nr 1; BSG SozR aaO Nr 2).

Da die Feststellungen des Berufungsgerichts zum bisherigen Beruf des Klägers schon nicht ausreichen, kann erst recht dessen qualitativer Wert und derjenige eines gesetzlich zumutbaren Verweisungsberufes nicht beurteilt werden.

Das LSG wird bei der weiteren Sachbehandlung folgendes zu beachten haben:

Zur Bewertung des qualitativen Wertes des bisherigen Berufs hat die Rechtsprechung des BSG auch für den Bereich der Angestelltenberufe - jedenfalls soweit es sich um Angestelltentätigkeiten mit einem Bruttoarbeitsentgelt bis zur Beitragsbemessungsgrenze handelt - ein Mehrstufenschema entwickelt, welches eine Untergliederung in verschiedene "Leitberufe" vorsieht. Es handelt sich dabei um die Gruppen mit dem Leitberuf des "unausgebildeten Angestellten", des Angestellten mit einer Ausbildung von bis zu zwei Jahren und des Angestellten mit einer längeren Ausbildung (BSGE 55, 45 = SozR 2200 § 1246 Nr 107; BSGE 57, 291 = SozR aaO Nr 126; BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr 2; zur obersten Gruppe der Angestelltenberufe mit dem Leitberuf des Angestellten mit akademischer Ausbildung vgl BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr 1). Dabei ist eine Eingruppierung in eine der höheren Gruppen auch dann möglich, wenn der Versicherte zwar nicht die für seine ausgeübte Tätigkeit herkömmlicherweise vorgeschriebene Ausbildung durchlaufen, dennoch diese Tätigkeit - etwa aufgrund längerer beruflicher Praxis - vollwertig verrichtet hat (BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 129 und 168; BSG, Urteil vom 18. Dezember 1986 - 4a RJ 79/85 - RV 1988, 53 ff, 54; BSG, Urteil vom 26. Februar 1987 - 4a RJ 81/85 -; BSG, Urteil vom 17. Juni 1993 - 13 RJ 23/92 -; jeweils mwN). Grundsätzlich darf der Versicherte allenfalls auf die jeweils niedrigere Gruppe verwiesen werden. Die vom LSG vorgenommene Qualifizierung, der Kläger habe einen "Fachberuf" ausgeübt, ist dem sog Mehrstufenschema fremd.

Für den qualitativen Wert des bisherigen Berufs ist nach ständiger Rechtsprechung des Senats (stellv BSGE 66, 226 = SozR 3-2200 § 1246 Nr 1 mwN) - was für den Bereich der Angestelltenversicherung nicht näher zu entfalten ist - das Maß der beruflichen Kenntnisse und Fähigkeiten entscheidend. Dieses bestimmt sich grundsätzlich und in aller Regel nach Intensität und Dauer der erforderlichen Ausbildung. Mithin kann die - vom Gesetz nicht erwähnte - tarifliche Einstufung keines der in § 23 Abs 2 Satz 2 AVG genannten Tatbestandsmerkmale ersetzen; noch weniger kann sie als wichtiger eingeschätzt werden (BSG SozR 2200 § 1246 Nr 149). Gleichwohl können Tarifverträge im Einzelfall ein wichtiges Hilfsmittel ("Hilfstatsache" - "Indiz") sein, wenn der bisherige Beruf kein staatlich geregelter Ausbildungsberuf ist und andere Erkenntnismittel (zB geeignete berufskundliche Sachverständige) nicht zur Verfügung stehen.

Für den vorliegenden Fall ergibt sich mithin folgendes: Das LSG wird zunächst zu ermitteln haben, welche fachlichen und beruflichen Anforderungen die Tätigkeiten, die dem Beruf des Klägers das Gepräge gegeben haben, an den Kläger gestellt haben, sowie ob und ggf welche ausbildungsmäßigen Voraussetzungen hierfür herkömmlicherweise zu erfüllen sind. Sollte sich herausstellen, daß es im Hinblick auf die hauptsächlich ausgeübten Tätigkeiten keine staatlich geregelte Ausbildung gibt, kommt ua hilfsweise eine Heranziehung der - nach Qualitätsstufen geordneten (vgl BSG SozR 2200 § 1246 Nr 102 und SozR 3-2200 § 1246 Nr 14) - Tarifverträge, die im Wohnbereich des Klägers zur Zeit seines Ausscheidens aus der Berufstätigkeit angewandt wurden (vgl BSG, Urteile vom 3. Dezember 1992 - 13 RJ 61/91 - und vom 25. August 1993 - 13 RJ 71/91 -), in Betracht.

Nach Ermittlung des qualitativen Wertes des "bisherigen Berufs" und der dementsprechenden Eingruppierung in das Mehrstufenschema wird das LSG nach einer qualitativ und gesundheitlich "zumutbaren" Verweisungstätigkeit zu suchen haben. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, daß auch in bezug auf die in Betracht kommenden Verweisungstätigkeiten deren gesundheitliches Anforderungsprofil, dh deren arbeitsmarkttypischen körperlichen, geistigen und seelischen Anforderungen genau festgestellt und zu dem Restleistungsvermögen in Beziehung gesetzt werden müssen (BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr 29). Ferner kommt es darauf an, ob der Kläger aufgrund seiner beruflichen und fachlichen Kenntnisse auch noch in der Lage ist, dem beruflichen Anforderungsprofil der Verweisungstätigkeit zu genügen (vgl BSG, Urteil vom 8. September 1993 - 5 RJ 70/92 -, zur Veröffentlichung vorgesehen).

Sollte sich herausstellen, daß der Kläger (nur noch) leichte Arbeiten regelmäßig vollschichtig verrichten und - ausgehend von dem qualitativen Wert seines bisherigen Berufs - auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verwiesen werden kann, wird das LSG zu beachten haben, daß auch in diesen Fällen eine konkrete Verweisung jedenfalls dann stattfinden muß, wenn - wie hier - weitere gesundheitliche Einschränkungen vorliegen, welche die Einsetzbarkeit in körperlich leichten Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zusätzlich begrenzen (vgl BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 104, 117, 136; SozR 3-2200 § 1247 Nr 8). Ggf könnte sogar der Versicherungsfall der EU eingetreten sein. Vom Zeitpunkt des Eintritts eines Versicherungsfalles hängt letztlich auch ab, ob die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt sind.

Nach alledem war das angefochtene Urteil auf die Revision des Klägers aufzuheben. Der Rechtsstreit mußte an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden, das auch über die Kosten des Rechtsstreits zu entscheiden haben wird.

 

Fundstellen

Breith. 1994, 826

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