Beteiligte

Landesversicherungsanstalt Hannover

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 25. Januar 1995 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Gründe

I

Die Klägerin begehrt von der Beklagten Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.

Die 1965 geborene Klägerin leidet aufgrund eines frühkindlichen Hirnschadens an einer Erkrankung des epileptischen Formenkreises mit Krampfanfällen. Seit 1980 besitzt sie einen Schwerbehindertenausweis, der den Grad der Behinderung mit 100 vH angibt. Sie besuchte ab 1973 für ein Jahr eine Sprachheilklasse der Grundschule, sodann 1 1/2 Jahre die Sonderschule für Lernbehinderte und anschließend fünf Jahre die Sonderschule für geistig Behinderte der Lebenshilfe. Von August 1983 bis September 1985 nahm sie an einer berufsfördernden Maßnahme im Arbeitstrainingsbereich einer Werkstatt für Behinderte unter Kostenträgerschaft des Arbeitsamtes teil. Sie erhielt in dieser Zeit lediglich ein monatliches Ausbildungsgeld von seiten des Arbeitsamtes in Höhe von 70,– DM brutto gleich netto. Von Oktober 1985 bis April 1992 war sie im Produktionsbereich der Werkstatt für Behinderte eingesetzt, und zwar zunächst bis 1989 in der Tischlerei und danach bis April 1992 in der Näherei. Das von ihr erzielte Arbeitsentgelt erreichte in keinem Monat ihrer beruflichen Tätigkeit 1/7 der monatlichen Bezugsgröße.

Am 20. August 1992 beantragte die Klägerin, ihr Erwerbsunfähigkeitsrente zu gewähren. Diesen Antrag lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 24. September 1992; Widerspruchsbescheid vom 28. Dezember 1992). Die Klägerin sei bereits bei Eintritt in die Versicherung erwerbsunfähig gewesen und benötige daher zur Gewährung einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit eine Versicherungszeit von 240 Monaten. Sie habe dagegen nur 76 Monate Beitragszeit.

Das Sozialgericht hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 11. November 1993). In der Berufungsinstanz hat die Klägerin unter Beweis gestellt, daß sie Arbeitsleistungen erbracht habe, die auch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt Bestand gehabt hätten. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 25. Januar 1995) und im wesentlichen ausgeführt: Die Klägerin sei schon seit Beginn der berufsfördernden Maßnahmen Anfang August 1983 durchgehend erwerbsunfähig. Sie beherrsche die vier Grundrechenarten im Zahlenraum bis 100 nur unter Zuhilfenahme von Hilfsmitteln. Die Schreib- und Lesensfähigkeit sei nur ansatzweise vorhanden. Bei den gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens sei sie in erheblichem Umfang auf fremde Hilfe angewiesen. Ihrem Vorbringen, sie habe qualifiziert gearbeitet und sei imstande gewesen, mit Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt mehr als 1/7 der monatlichen Bezugsgröße zu verdienen, könne unter diesen Umständen nicht gefolgt werden. Die somit für die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit erforderliche Wartezeit von 240 Monaten habe sie nicht erreicht. Die Einfügung des § 44 Abs 2 Satz 1 2. Halbsatz des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Rentenversicherung – (SGB VI) ändere an dieser Beurteilung nichts. Auch ein Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit bestehe nicht. Er erfordere, daß die Erwerbsfähigkeit auf weniger als die Hälfte derjenigen von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten gesunken sei. Die Legaldefinition setze also voraus, daß Erwerbsfähigkeit während des Arbeitslebens zunächst einmal bestanden haben müsse und sich erst im Laufe der Zeit vermindert habe.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Das LSG hätte ihren Beweisangeboten dazu, daß sie in der Näherei und Tischlerei qualifizierte Arbeiten ausgeführt habe, nachgehen und im Rahmen der Amtsermittlungspflicht weitere Erkundigungen einholen müssen. Aufgrund der konkreten Verhältnisse in ihrer Werkstatt für Behinderte und des dortigen Lohnabrechnungssystems sei sie nicht imstande gewesen, mehr als 1/7 der monatlichen Bezugsgröße zu verdienen. Der Beurteilung ihres Falles dürfe § 44 SGB VI auch nicht in seiner neuesten Fassung durch das Zweite Gesetz zur Bereinigung von SED-Unrecht (Zweites SED-Unrechtsbereinigungsgesetz – 2. SED-UnBerG) vom 23. Juni 1994 (BGBl I S 1311), sondern nur in der davor geltenden Fassung zugrunde gelegt werden. Die Entscheidung des LSG verstoße zudem gegen Art 3 Abs 3 Satz 2 des Grundgesetzes (GG). Denn daß in Werkstätten für Behinderte tätige Behinderte erst nach 20 Jahren eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit erlangen könnten, benachteilige Behinderte in eklatanter Weise.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 25. Januar 1995, das Urteil des Sozialgerichts Lüneburg vom 11. November 1993 sowie den Bescheid der Beklagten vom 24. September 1992 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Dezember 1992 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr ab 1. September 1992 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision der Klägerin zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

II

Die Revision der Klägerin ist iS der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet. Die Feststellungen des Berufungsgerichts reichen zu einer abschließenden Entscheidung des Rechtsstreits noch nicht aus.

Entgegen der Auffassung der Klägerin sind der Beurteilung ihres Anspruchs die Vorschriften des SGB VI in der am 26. April 1996 geltenden Fassung zugrunde zu legen. Die von ihr erhobene Klage ist eine kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage. Bei derartigen Prozeßbegehren ist nach allgemeiner Meinung für die Frage, welches Recht anzuwenden ist, auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung, und zwar auch in der Revisionsinstanz, abzustellen (Meyer-Ladewig, SGG-Komm, 5. Aufl 1993, § 54 RdNr 34 mwN). Demgemäß ist insbesondere § 44 SGB VI in der Fassung anzuwenden, die er durch Art 3 des 2. SED-UnBerG erfahren hat.

Nach § 44 SGB VI ist Rente zu gewähren, wenn der Versicherte erwerbsunfähig ist, die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen vorliegen und die Wartezeit erfüllt ist. Daß die Klägerin erwerbsunfähig iS von § 44 Abs 2 Satz 1 Halbsatz 1 SGB VI ist, seit sie Rente begehrt, ist weder zweifelhaft noch von den Beteiligten bestritten. Auch die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen gemäß § 44 Abs 1 Nr 2 SGB VI sind nicht im Zweifel. Aufgrund der bisherigen Tatsachenfeststellungen läßt sich aber noch nicht entscheiden, ob die Klägerin die für sie maßgebende Wartezeit erfüllt hat, da mangels ausreichender Ermittlungen zur Tätigkeit der Klägerin in der Werkstatt für Behinderte nicht geklärt ist, welche Wartezeitregelung – § 44 Abs 1 Nr 3 SGB VI oder § 44 Abs 3 SGB VI – für ihren Anspruch gilt.

Nach § 44 Abs 1 Nr 3 SGB VI iVm § 50 Abs 1 Satz 1 Nr 2 SGB VI genügt die allgemeine Wartezeit von fünf Jahren für Versicherte, die erst nach Erfüllung dieser Zeit erwerbsunfähig werden. Versicherte, die bereits vor Erfüllung der allgemeinen Wartezeit erwerbsunfähig waren und seitdem ununterbrochen erwerbsunfähig sind, müssen dagegen gemäß § 44 Abs 3 SGB VI iVm § 50 Abs 3 SGB VI eine Wartezeit von 20 Jahren erfüllen, um eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit beanspruchen zu können. Die Klägerin war aufgrund ihrer Tätigkeit in einer nach dem Schwerbehindertengesetz anerkannten Werkstatt für Behinderte gemäß § 1 Satz 1 Nr 2 Buchst a SGB VI versicherungspflichtig. In dieser Beschäftigung hat sie Beitragszeiten für 76 Monate erworben. Je nachdem, ab wann sie erwerbsunfähig gewesen – und ggf geblieben – ist, hat sie demzufolge entweder den Tatbestand der allgemeinen Wartezeit und damit auch alle Anspruchsvoraussetzungen für die Gewährung der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit erfüllt oder (mangels weiterer gemäß § 51 SGB VI anrechenbarer Zeiten) die 20jährige Wartezeit nicht erreicht und daher auch keinen Rentenanspruch erlangt. Zum Eintritt und ggf zur Fortdauer ihrer Erwerbsunfähigkeit wird das LSG noch weitere Ermittlungen anzustellen haben. Die Notwendigkeit einer solchen ergänzenden Sachaufklärung ergibt sich sowohl aus der bisherigen Rechtsprechung des Senats zur Problematik der Tätigkeit Behinderter in Werkstätten für Behinderte als auch aus der Einfügung des Halbsatzes 2 in § 44 Abs 2 Satz 1 SGB VI durch Art 3 des 2. SED-UnBerG.

In seinen Urteilen vom 23. und 25. April 1990 sowie 22. April 1992 (5 RJ 50/88, 68/88 und 40/91, BSGE 66, 295 = SozR 3-2200 § 1247 Nr 1, SozR 3-2200 § 1247 Nr 3 und BSGE 70, 270 = SozR 3-2200 § 1247 Nr 12) ist der Senat davon ausgegangen, daß die in einer Werkstatt für Behinderte verrichtete Arbeit eine tatsächlich ausgeübte „Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit” iS von § 1247 Abs 2 Alternative 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) sein kann. Wegen der insoweit wortgleichen Formulierung des Gesetzes gilt dies für § 44 Abs 2 Satz 1 Halbsatz 1 SGB VI als Nachfolgevorschrift der RVO-Regelung weiter. Erkennbare gedankliche Grundlage seiner Entscheidungen ist also bereits seinerzeit für den Senat die Alternative gewesen, daß gemäß § 1 Abs 1 Satz 1 des Gesetzes über die Sozialversicherung Behinderter (SVBG) Pflichtversicherte – entsprechend dem Grundsatz der Einheitlichkeit des Begriffs der Erwerbsunfähigkeit in § 1247 Abs 2 RVO, s Senatsurteile vom 9. September 1983 (5b RJ 90/82; SozR 2200 § 1247 Nr 41) und vom 22. April 1992 (5 RJ 40/91; BSGE 70, 270 = SozR 3-2200 § 1247 Nr 12) – nach den allgemeinen für nichtbehinderte Versicherte geltenden Maßstäben entweder erwerbsfähig oder erwerbsunfähig waren und sich dies wesentlich nach Eigenart und Umfang der Tätigkeit in der Werkstatt für Behinderte richtete.

Nach § 44 Abs 2 Satz 1 Halbsatz 2 SGB VI sind erwerbsunfähig „auch Versicherte nach § 1 (ergänze: Satz 1) Nr 2, die wegen der Art oder Schwere der Behinderung nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein können”. Allein schon nach ihrem Wortlaut kann diese neue Regelung nur dahin verstanden werden, daß bei den nach § 1 Satz 1 Nr 2 SGB VI pflichtversicherten Behinderten unter dem Blickwinkel der Erwerbsfähigkeit zwei Gruppen zu unterscheiden sind: die trotz ihrer Behinderung zu einer Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt fähigen Versicherten und die infolge ihrer Behinderung zu gleicher Arbeit nicht fähigen Versicherten.

Daß eine solche Differenzierung auch dem Willen des Gesetzgebers entspricht, ergibt sich aus den Gesetzesmaterialien. In der BT-Drucks 12/7048 vom 10. März 1994 „Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses (6. Ausschuß)” S 42 heißt es – in stellenweiser Anlehnung der Formulierung an das Urteil des Senats vom 23. April 1990 aaO – zum Sinn und Zweck der Einfügung: „Die Ergänzung stellt klar, daß Versicherte, die in einer Werkstatt für Behinderte oder in einer anderen beschützenden Einrichtung beschäftigt sind und die wegen der Art oder der Schwere ihrer Behinderung nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein können, erwerbsunfähig sind. Damit ist sichergestellt, daß entsprechend der ursprünglichen Zielsetzung der Vorschrift ein Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit nach Erfüllung der Wartezeit von 240 Kalendermonaten (§ 44 Abs 3) vom Behinderten auch dann erworben werden kann, wenn er Einkünfte oberhalb der Geringfügigkeitsgrenze erzielt, seine Arbeitsleistung aber für eine Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht ausreicht. Gleichzeitig ist klargestellt, daß der in einer Werkstatt beschäftigte Versicherte, der trotz seiner Behinderung (wieder) auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein kann, erwerbsfähig ist. Für die Beurteilung, ob der Behinderte auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein kann, ist entscheidend darauf abzustellen, ob die vom Behinderten in der Werkstatt verrichtete Tätigkeit gemessen an den durchschnittlichen Arbeitsergebnissen einer Tätigkeit gleichen Typs auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt wirtschaftlich vertretbar (gemeint ist offenbar: verwertbar) wäre.”

Für die Gewährung einer Rente aus § 44 SGB VI an Versicherte iS von § 1 Satz 1 Nr 2 Buchst a SGB VI ergeben sich hiernach zwei wesentliche Gesichtspunkte: Zum einen bedeutet die Tatsache, daß ein Behinderter in einer Werkstatt für Behinderte tätig ist, für sich allein noch nicht, daß er erwerbsunfähig ist. Wie es um seine Erwerbsfähigkeit im rentenversicherungsrechtlichen Sinn bestellt ist, bedarf vielmehr entsprechender gesonderter Feststellung. Für diese Ermittlung ist zum zweiten als Bezugspunkt nicht die Wertigkeit der verrichteten Tätigkeit für die Werkstatt, sondern die wirtschaftliche Verwertbarkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu nehmen. Die vom Behinderten in der Werkstatt verrichtete Tätigkeit ist dafür nach Art, beruflichen Voraussetzungen und regelmäßig erreichtem Sachertrag mit den durchschnittlichen Arbeitsergebnissen einer typgleichen Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu vergleichen und daraufhin abzuschätzen, ob die Fähigkeiten des Behinderten ausreichen würden, einen Arbeitsplatz der typgleichen Tätigkeit im Umfang des § 44 Abs 1 Satz 1 Halbsatz 1 SGB VI – „gewisse Regelmäßigkeit” oder „Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen, das ein Siebtel der monatlichen Bezugsgröße übersteigt” – auszufüllen.

In negativer Abgrenzung folgt aus dieser durch die Neufassung des § 44 Abs 2 Satz 1 SGB VI begründeten Beurteilungsweise einmal, daß es nicht darauf ankommt, was die Werkstatt dem Behinderten für seine Tätigkeit als „Arbeitsentgelt” real auszahlt, insbesondere, ob der gezahlte Geldbetrag ober- oder unterhalb der Geringfügigkeitsgrenze liegt. Der Gesetzgeber hat sich mit der Einfügung des Halbsatzes 2 in § 44 Abs 2 Satz 1 SGB VI erkennbar gegen die anderslautende Gesetzesauslegung des Senats in seinem Urteil vom 22. April 1992 (5 RJ 40/91 – BSGE 70, 270 = SozR 3-2200 § 1247 Nr 12) gewandt. Der Senat gibt seine damalige Rechtsauffassung, auf die auch das Berufungsgericht sein Urteil gestützt hat, daher wieder auf. Darüber hinaus schließt die Gesetzesergänzung eine Beurteilung der Erwerbsfähigkeit des Behinderten, die nicht die in der Werkstatt verrichtete Tätigkeit mitberücksichtigt, als unzulässig aus. Die Erwerbsfähigkeit ist kein medizinischer, sondern ein rechtlicher Begriff. Er erfordert zum einen die Feststellung, was der Versicherte arbeitsmäßig (noch) leisten kann aufgrund der bei ihm naturwissenschaftlich, insbesondere medizinisch ermittelten körperlichen, geistigen und seelischen Fähigkeiten, zum anderen die Bewertung, ob und wie diese Fähigkeiten unter den auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt jeweils aktuellen Arbeits- und Produktionsverhältnissen wirtschaftlich verwertbar sind. Dabei versteht es sich von selbst, daß nicht maßgebend ist, ob für den Behinderten Aussicht besteht oder bestehen würde, einen entsprechenden freien Arbeitsplatz zu erhalten.

Entgegen der Auffassung der Klägerin verstößt § 44 SGB VI in dem dargelegten neuen, durch § 44 Abs 2 Satz 1 Halbsatz 2 SGB VI begründeten Verständnis nicht gegen Art 3 Abs 3 Satz 2 GG, wonach „niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden” darf. Eine Benachteiligung wegen Behinderung liegt nicht vor, wenn Behinderte zwar auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt wegen der Art oder der Schwere ihrer Behinderung keinen über der Geringfügigkeitsgrenze liegenden Lohn erreichen können und infolgedessen als erwerbsunfähig angesehen werden müssen, aber in einer Werkstatt für Behinderte tätig sind und hierdurch einen Rentenanspruch nach § 44 Abs 1 bis 3 SGB VI erwerben können, sofern sie 240 Monate – statt wie allgemein erforderlich 60 Monate – versichert sind. Der Schutzbereich des Art 3 Abs 1 GG ist lediglich betroffen, wenn wesentlich Gleiches ungleich behandelt wird (BVerfGE 1, 14, 52; 76, 256, 329; 78, 249, 287) oder wesentlich Ungleiches gleich (BVerfGE 72, 141, 150; 84, 133, 158). Der Gesetzgeber geht damit von dem aus, was von außerhalb seines Einflußbereiches ihm als gleich oder ungleich vorgegeben wird. Gleiche Begabungen, Fähigkeiten und Leistungen darf er nicht als ungleich, ungleiche Begabungen, Fähigkeiten und Leistungen nicht als gleich behandeln. Die Rentenversicherung gewährt Leistungen nach Maßgabe der von den und für die Versicherten eingezahlten Beiträge, dh im Grundsatz nach den von den Versicherten erzielten Arbeitsergebnissen. Da die an die Versicherten gezahlten Löhne im allgemeinen mit den von der Natur den einzelnen verliehenen Begabungen und Fähigkeiten und der darauf beruhenden Leistungsfähigkeit zu tun haben, spiegelt die Rentenversicherung eine vom Gesetzgeber nicht herbeigeführte, sondern vorgefundene Ungleichheit wieder, die er als solche akzeptieren muß, will er nicht gerade damit gegen den Gleichheitsgrundsatz verstoßen, daß er Ungleiches gleich behandelt. Eine andere Frage ist es, ob aufgrund des Grundsatzes der Solidarität schwächere Mitglieder der Gesellschaft auf Kosten stärkerer Mitglieder Leistungen erhalten, die über dem liegen, was ihrem Anteil an den für die Gemeinschaft erbrachten Leistungen liegt. Das folgt dann allerdings nicht aus dem Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz, sondern dem Gedanken der Verantwortlichkeit für sozial Bedürftige.

Die Regelung des § 1247 Abs 3 Satz 1 Buchst b RVO, die einem Behinderten ermöglichte, nach einer Versicherungszeit von 240 Monaten Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu erhalten, mußte bereits im Zusammenhang gesehen werden mit den §§ 1 und 2 SVBG. Ebenso steht § 44 Abs 3 SGB VI in Zusammenhang mit § 1 Satz 1 Nr 2 SGB VI. Selbst Behinderten, die schon erwerbsunfähig sind, wird der Zugang zu einem Schutzsystem eröffnet, das gegen Erwerbsunfähigkeit versichert und eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit gewährt. Das widerspricht im Prinzip dem Wesen einer Versicherung, denn niemand kann gegen ein Risiko versichert werden, das bereits eingetreten ist. Wenn den Behinderten dennoch diese Möglichkeit eröffnet wird, so sind sie dadurch gegenüber anderen Versicherten nicht benachteiligt, sondern gerade im Gegenteil begünstigt. Daß ihnen im Ausgleich dafür eine längere Versicherungszeit abverlangt wird, trägt lediglich dem Gedanken Rechnung, daß zwischen Einzahlung in die Versicherung und Leistungen aus der Versicherung eine gewisse Gleichwertigkeit gewahrt sein muß. Art 3 Abs 3 GG will verhindern, daß das Individuum durch die Einordnung in eine durch Diskriminierung gefährdete Gruppe stigmatisiert und benachteiligt wird (BAG in DB 1996, 580, 581). Durch die Regelungen in § 1247 Abs 3 Buchst b RVO und § 44 Abs 3 SGB VI wird indessen eine solche Diskriminierung nicht herbeigeführt oder gefördert.

Bei der durch die Gesetzesergänzung geforderten Auslegung des § 44 SGB VI reichen die tatsächlichen Feststellungen des LSG zu einer abschließenden Entscheidung noch nicht aus. Zwar ist das LSG unter Berücksichtigung des gesundheitlichen Zustandes und der intellektuellen Fähigkeiten der Klägerin zu dem Ergebnis gelangt, sie sei bereits bei Eintritt in die Rentenversicherung erwerbsunfähig gewesen. Es hat dabei aber nicht, wie nach dem oben Dargelegten notwendig, zugleich mitgeprüft und in seine Beurteilung einbezogen, welche Arbeit die Klägerin in welchem Umfang in der Werkstatt geleistet hat und ob sie damit auch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt hätte bestehen können. Insoweit wird es seine Tatsachenfeststellungen – ggf unter Zuhilfenahme des Beweisangebots der Klägerin -noch zu ergänzen haben. Dabei wird auch zu beachten sein, daß die Tatsache der Ausübung einer Tätigkeit in der Regel einen stärkeren Beweiswert hat als die scheinbar dies ausschließenden medizinischen Befunde (BSG, Urteile vom 28. Februar 1963 – 12 RJ 24/58 – SozR Nr 24 zu § 1246 RVO und vom 26. September 1975 – 12 RJ 208/74 – SozR 2200 § 1247 Nr 12).

Das angefochtene Urteil war somit gemäß § 170 Abs 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes mit den ihm zugrundeliegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Das LSG wird auch über die Kosten der Revisionsinstanz zu befinden haben.

 

Fundstellen

BSGE, 163

SozSi 1997, 316

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