Entscheidungsstichwort (Thema)

Übernahme der Kosten für eine sensorgesteuerte Kommunikationsanlage

 

Beteiligte

24. Januar 1990Az: 3/8 RK 16/87 Landschaftsverband Westfalen-Lippe, Abteilung Sozialhilfe,Münster, Warendorfer Straße 26-28, Kläger und Revisionsbeklagter

Allgemeine Ortskrankenkasse Essen

 

Tatbestand

G r ü n d e :

I

Streitig ist die Verpflichtung der Beklagten zur Übernahme der Kosten für eine sensorgesteuerte Kommunikationsanlage, bestehend aus einer CARBA-Linguaduc-Schreibanlage (Computer, Monitor, pneumatischer Sensor und elektrische Schreibmaschine), einer Rehaphon-Freisprechanlage mit Nummernspeichercomputer und Kopfhörmitanlage sowie einem Umweltkontrollsystem mit mehreren Funktionen zur Bedienung dieser Apparaturen sowie weiterer Geräte im Haushalt des Beigeladenen.

Der im Jahre 1959 geborene Beigeladene, der sich nach Erlangung der Fachoberschulreife im vierten Jahr der Ausbildung zum Elektroniker befand, erlitt im Mai 1978 durch einen Sportunfall einen Verrenkungsbruch zwischen dem vierten und fünften Halswirbel. Dieser führte zu einer kompletten Querschnittslähmung mit der Folge eines vollständigen Ausfalls der motorischen Funktion aller vier Gliedmaßen des Rumpfes, der Hautsensibilität in den gelähmten Körperpartien, der willkürlichen Steuerung der Blasenund Mastdarmtätigkeit sowie aller Muskelgruppen unterhalb des Halsbereiches mit Ausnahme des Zwerchfelles; die Atmung ist auf die Hälfte der Norm reduziert, eine Schulterhebung nur in geringem Umfang möglich, ebenso ist die Beweglichkeit der Halswirbelsäule und des Kopfes verletzungsbedingt eingeschränkt.

Der Beigeladene lebt mit seinen Eltern in einem behindertengerecht eingerichteten Eigenheim, in dem die Mutter den Haushalt versorgt. Zur Verfügung stehen weiter an vier Tagen in der Woche eine stundenweise anwesende Gemeindeschwester und an zwei weiteren Tagen eine bezahlte Kraft. An 40 Stunden in der Woche wird er von einem Wehrersatzdienstleistenden betreut. Ausgestattet ist der Beigeladene mit einem einfachen und einem elektrisch betriebenen Rollstuhl, einem Pflegebett, einem transportablen Lifter und einem von der Beklagten bezahlten Blattwendegerät, das jedoch für dickere Bücher und für Zeitungen nicht geeignet ist.

Die hier in Streit stehenden Geräte werden wie folgt genutzt:

Durch Schulterdruck auf einen pneumatischen Sensor und durch ein Kinnsteuergerät kann der Beigeladene die Schreibanlage bedienen und sein Schreiben über die angeschlossene elektrische Schreibmaschine ausdrucken lassen. Für das Einlegen des Schreibpapiers ist er auf die Hilfe anderer angewiesen.

Mit Hilfe der Rehaphon-Fernsprechanlage kann der Beigeladene über Computer zehn Telefonnummern speichern, mit den genannten Steuergeräten abrufen, Anrufe entgegennehmen und die Gespräche über die Freisprechanlage führen.

Das Umweltkontrollgerät dient der Bedienung eines Fernsehgeräts, einer Musikanlage, der Betätigung mehrerer Lichtschalter, einer Tür zum Garten und einer Alarmanlage, mit der die in der Nähe befindlichen Personen verständigt werden können.

Der Kläger hat den Beigeladenen in den Jahren 1979/80 mit den in Streit stehenden Geräten ausgestattet und jeweils sofort seinen Ersatzanspruch bei der Beklagten geltend gemacht. Da die Beklagte die Übernahme der Kosten verweigerte, erhob der Kläger im Dezember 1983 Klage auf Erstattung seiner Aufwendungen in Höhe von 34.851,22 DM. Die Klage blieb ohne Erfolg (Urteil des Sozialgerichts -SG- Münster vom 2. April 1985). Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) am 29. April 1987 die Beklagte zur Zahlung des mit der Klage geltend gemachten Betrages verurteilt und zur Begründung ausgeführt: Bei den Geräten handele es sich um Hilfsmittel iS des § 182b der Reichsversicherungsordnung (RVO), auf die der Beigeladene wegen seiner extremer kaum vorstellbaren Behinderung einen Anspruch habe. Die Geräte seien zur Befriedigung elementarer Grund- und Lebensbedürfnisse des Beigeladenen notwendig. Aus einem eingeholten Sachverständigengutachten ergebe sich auch, daß andere Verfahren nicht billiger seien.

Hiergegen richtet sich die vom LSG zugelassene Revision der Beklagten. Sie hält die Ausstattung des Beigeladenen mit den in Streit stehenden Geräten für unwirtschaftlich iS des § 182 Abs 2 RVO und trägt dazu vor, es könne nicht Aufgabe einer Krankenkasse sein, durch Kostenübernahme unstreitig bestehende elementare Grundbedürfnisse auf allen Gebieten und mit allen technisch zur Verfügung stehenden Mitteln zu ermöglichen. Der Beigeladene sei ohnehin auf die Betreuung durch Pflege- oder Aufsichtspersonen angewiesen. Diese könnten seine Beziehungen zur Außenwelt ausreichend sicherstellen, zumal ihre Hilfe auch durch die Geräte nicht entbehrlich würde.

Die Beklagte beantragt (sinngemäß),das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 29. April 1987 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 2. April 1985 zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Der Beigeladene ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.

II

Die Revision der Beklagten ist unbegründet.

Das angefochtene Urteil des LSG ist nicht zu beanstanden. Die Beklagte ist verpflichtet, die in Streit stehenden Geräte dem Beigeladenen als Hilfsmittel zur Verfügung zu stellen (§ 182b RVO, jetzt § 33 Abs 1 des Sozialgesetzbuches - Gesetzliche Krankenversicherung - (SGB V). Wegen dieser Verpflichtung der Beklagten hat der Kläger einen Erstattungsanspruch aus § 104 des Sozialgesetzbuchs - Verwaltungsverfahren - (SGB X), den er rechtzeitig geltend gemacht hat.

Nach § 182b RVO hat ein Versicherter Anspruch auf Ausstattung mit Hilfsmitteln, die erforderlich sind, eine körperliche Behinderung auszugleichen, soweit sie nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen sind. Ein Hilfsmittel muß zum Ausgleich eines körperlichen Funktionsdefizits geeignet und notwendig sein, wobei es genügt, wenn es die beeinträchtigten Körperfunktionen ermöglicht, ersetzt, erleichtert oder ergänzt (Krauskopf/Schroeder-Printzen, Soziale Krankenversicherung 2. Aufl, Stand: 15. Mai 1988 § 182b Anm 2 mit Nachweisen aus der Rechtsprechung). Weiter muß es zur Befriedigung von Grundbedürfnissen - gesunde Lebensführung, allgemeine Verrichtungen des täglichen Lebens, geistige Betätigung und Erweiterung des durch die Behinderung eingeschränkten Freiraumes - dienen (BSG vom 12. Oktober 1988 - 3/8 RK 36/87 = SozR 2200 § 182b Nr 37). Zu den elementaren Grundbedürfnissen des täglichen Lebens gehört auch ein persönlicher Freiraum, eine Intimsphäre, in der sich ein Mensch betätigen kann, ohne dabei von anderen beobachtet zu werden.

Diesen Freiraum nimmt auch jeder Gesunde für sich in Anspruch. Der Anspruch eines Versicherten auf Ausstattung mit einem Hilfsmittel ist allerdings nach dem Wirtschaftlichkeitsgebot des § 182 Abs 2 RVO dann ausgeschlossen, wenn der mit dem Hilfsmittel verfolgte Zweck auch auf andere Weise mit geringerem finanziellen Aufwand ebenso wirksam erreicht werden kann.

Diesen Grundsätzen entspricht das Urteil des LSG. Es hat entscheidend auf die Besonderheit des Einzelfalles des Beigeladenen mit seiner "extremer kaum vorstellbaren Behinderung" abgestellt. Diese Betrachtungsweise ist nicht zu beanstanden, zumal das neue Recht (§ 33 Abs 1 SGB V) ausdrücklich von der Erforderlichkeit "im Einzelfall" spricht und im übrigen nach § 33 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - (SGB I) bei der Leistungsgewährung die persönlichen Verhältnisse des Berechtigten zu berücksichtigen sind. Dies bedeutet, daß nicht jede Querschnittslähmung schlechthin einen Anspruch auf die hier in Streit stehenden Geräte auslöst. Die Beklagte hat dem Beigeladenen bereits Hilfsmittel und Dienstleistungen zur Verfügung gestellt. Dies schließt jedoch nicht aus, daß darüber hinaus wegen der Besonderheiten des Einzelfalles, insbesondere der Art und Schwere der Erkrankung, weitere Hilfsmittel zur Verfügung gestellt werden müssen. Diese Voraussetzung ist hier erfüllt.

Das LSG hat die Art und Schwere der Erkrankung des Beigeladenen sowie ihre Auswirkungen auf die Lebensführung im einzelnen beschrieben. Hierbei handelt es sich um tatsächliche Feststellungen, an die der Senat nach § 163 SGG gebunden ist. Das LSG hebt hervor, daß der Beigeladene erst durch die Kommunikationsanlage "CARBA-Linguaduc" in die Lage versetzt wird, seine ihm verbliebene geistige Beweglichkeit wie früher zu nutzen und die dabei hinderlichen körperlichen Funktionsausfälle zu überwinden. Die Benutzung eines sogenannten Mundstabes zur Bedienung einer Spezialschreibmaschine kommt nach den Feststellungen des LSG deswegen nicht in Betracht, weil bei dem Beigeladenen die Gefahr besteht, daß er infolge der dafür erforderlichen Bewegungen aus dem Rollstuhl stürzt. Hierdurch unterscheiden sich die Besonderheiten dieses Falles von der Notwendigkeit der Benutzung einer elektrischen Schreibmaschine sowie einer Blindenschreibmaschine, die von der Rechtsprechung verneint wurden (BSG Urteile vom 22. Februar 1974 - 3 RK 27/73 - sowie vom 15. Februar 1978 - 3 RK 36/76 = SozR 2200 § 182b Nr 5). In diesen Fällen wurde auf die Eingliederung eines Versicherten in das Berufsleben abgestellt.

Dem LSG ist auch darin zu folgen, daß durch das elektronische Schreibgerät die Abhängigkeit des Beigeladenen von dritten Personen verringert und sein persönlicher Freiraum erweitert wird. Aufgrund der Feststellungen des LSG ist davon auszugehen, daß der Beigeladene auf diese Anlage angewiesen ist, um ohne Einschaltung einer Hilfsperson Gespräche führen zu können. Hinzu kommt, daß er allein auf diese Weise in Notfällen von außen Hilfe herbeirufen kann. Das Umweltkontrollgerät schließlich ist erforderlich, damit der Beigeladene wegen des Ausfalls seiner Hände und gleichzeitig aller anderen für einen Ausgleich in Betracht kommenden Gliedmaßen zur Betätigung seiner lebensnotwendigen Grundbedürfnisse weitere Apparate wie Fernsehen, Rundfunk, Plattenspieler bedienen kann. Die Benutzung dieser Geräte ist im Hinblick auf die schwere Behinderung des Beigeladenen zur Lebensführung erforderlich.

Schließlich ist nicht zu beanstanden, daß das LSG die Wirtschaftlichkeit der hier in Streit stehenden Geräte bejaht hat. Das LSG stützt sich auf ein ärztliches Sachverständigengutachten, wonach andere Verfahren zur Unterstützung des Beigeladenen bei seinen Umweltbeziehungen nicht billiger sind. Hierbei handelt es sich um tatsächliche Feststellungen, an die der Senat gebunden ist. Wenn demgegenüber die Beklagte vorträgt, daß die mit den in Streit stehenden Geräten verfolgten Zwecke auch kostengünstiger zu erreichen wären, handelt es sich um tatsächliches Vorbringen, dem der Senat im Hinblick auf die entgegenstehenden Feststellungen des LSG nicht nähertreten kann. Aus dem Vorbringen der Beklagten ergibt sich nicht, daß die Feststellungen des LSG unter Verletzung von Verfahrensvorschriften getroffen worden sind.

Nach allem war die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.BUNDESSOZIALGERICHT

 

Fundstellen

NJW 1991, 1564

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