Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Beschluss vom 26.11.1993)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird der Beschluß des Bayerischen Landessozialgerichts vom 26. November 1993 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Beklagte dem Kläger auch für die Zeit vom 22. August 1991 bis zum 1. November 1991 Arbeitslosengeld (Alg) zu leisten hat.

Der Kläger war seit dem 15. März 1989 als Schleifer beschäftigt. Mit Schreiben vom 25. Juli 1991 kündigte der Arbeitgeber das Beschäftigungsverhältnis fristgemäß zum 9. August 1991, weil der Kläger während einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit am 25. Juli 1991 eine dem Genesungsverlauf entgegenstehende Tätigkeit ausgeübt, nämlich einem Wirt bei der Bedienung ausgeholfen und dabei Lasten getragen habe, obwohl die Arbeitsunfähigkeit auf Kreuzschmerzen zurückzuführen gewesen sei.

Am 22. August 1991 meldete sich der Kläger beim Arbeitsamt (ArbA) arbeitslos und beantragte Alg. Dieses bewilligte ihm das ArbA mit Bescheid vom 29. November 1991 ab 2. November 1991. Für die Zeit davor hatte das ArbA mit weiterem Bescheid vom 27. November 1991 wegen einer Sperrzeit von zwölf Wochen Alg abgelehnt, weil der Kläger aufgrund arbeitsvertragswidrigen Verhaltens seinen Arbeitsplatz verloren habe. Inzwischen hatte der Kläger am 11. September 1991 mit seinem früheren Arbeitgeber vor dem Arbeitsgericht Augsburg im Rahmen eines Kündigungsschutzprozesses einen Vergleich mit dem Inhalt geschlossen, daß das Arbeitsverhältnis durch ordentliche Kündigung des Arbeitgebers zum 9. August 1991 beendet worden ist und der Kläger als Abfindung für den Verlust des Arbeitsplatzes 3.000,00 DM erhält. Den Widerspruch des Klägers gegen den Sperrzeitbescheid wies das ArbA mit Widerspruchsbescheid vom 21. Januar 1992 zurück. Die vor dem Sozialgericht (SG) hiergegen erhobene Klage, mit der der Kläger geltend machte, er habe zu keiner Zeit vertragswidrig gehandelt, weil er keine Bier- oder Getränkekisten geschleppt, sondern lediglich ein kleines Paket im Gewicht eines Palandt-Kommentars getragen habe und dies die Zeugin S … bestätigen könne, die er zu vernehmen bitte, blieb erfolglos. Das SG meinte, das ArbA habe die Sperrzeit gegen den Kläger zu Recht festgesetzt, denn er habe sein ursprüngliches Klagziel im Kündigungsschutzprozeß aufgegeben und sein Arbeitsverhältnis durch Abschluß des arbeitsgerichtlichen Vergleichs gelöst, ohne dafür einen wichtigen Grund zu haben. Ob er sich vorher arbeitsvertragswidrig verhalten habe oder nicht, sei deshalb unerheblich (Urteil vom 4. Februar 1993).

Mit seiner gegen dieses Urteil eingelegten Berufung hat der Kläger geltend gemacht, es komme dafür, ob die Beklagte ihm im streitigen Zeitraum Alg zu leisten habe, darauf an, ob die festgestellte Sperrzeit rechtens sei. Das hänge davon ab, ob er sich arbeitsvertragswidrig verhalten habe oder ob das nicht der Fall sei. Das SG hätte von seinem – des SG – Rechtsstandpunkt aus deshalb seinem Beweisantrag entsprechen und den beantragten Beweis erheben müssen. Denn durch die ungerechtfertigte verhaltensbedingte Kündigung sei das Vertrauensverhältnis zwischen den Arbeitsvertragsparteien derart beeinträchtigt gewesen, daß er einen wichtigen Grund für die Lösung des Arbeitsverhältnisses durch Vergleich gehabt habe. Dadurch, daß das SG den beantragten Beweis nicht erhoben habe, habe es §§ 62, 103 Sozialgerichtsgesetz (SGG) verletzt.

Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung gemäß § 144 Abs 1 Nr 2 SGG in der bis zum 28. Februar 1993 geltenden Fassung iVm § 158 Sätze 1 und 2 SGG durch Beschluß vom 26. November 1993 als unzulässig verworfen, weil der Streit nur wiederkehrende Leistungen für einen Zeitraum bis zu 13 Wochen betreffe und die Berufung hier auch nicht ausnahmsweise gemäß § 150 Nr 2 SGG aF eröffnet sei. Das SG habe unter Zugrundelegung seiner Rechtsansicht keinen Verfahrensfehler begangen. Insbesondere habe es sich nicht gedrängt fühlen müssen, zur Frage eines wichtigen Grundes iS des § 119 Abs 1 Satz 1 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) Beweis zu erheben. Denn der Abschluß eines Vergleichs in einem arbeitsgerichtlichen Kündigungsschutzverfahren sei ein derart häufiger Vorgang, daß ohne besondere Hinweise nicht vermutet werden müsse, die Motive hierzu stellten einen wichtigen Grund iS dieser Vorschrift dar. Aus dem Inhalt des Verfahrens hätten sich derartige Hinweise für das SG nicht ergeben. Die Revision hat das LSG nicht zugelassen.

Auf die hiergegen vom Kläger eingelegte Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision hat der Senat mit Beschluß vom 30. März 1994 die Revision gegen den Beschluß des LSG vom 26. November 1993 zugelassen.

Mit der daraufhin eingelegten Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 150 Nr 2 SGG aF iVm § 119 Abs 1 Satz 1 AFG. Das LSG hätte keine Prozeßentscheidung erlassen dürfen, sondern wegen des bereits im Berufungsverfahren schlüssig gerügten und tatsächlich vorliegenden Verfahrensfehlers des SG der mangelnden Sachaufklärung die Berufung als zulässig ansehen und sich mit der Sache inhaltlich auseinandersetzen müssen. Im Hinblick hierauf sei es nicht auszuschließen, daß der Rechtsstreit einen für ihn günstigeren Verlauf genommen hätte.

Der Kläger beantragt,

den Beschluß des LSG vom 26. November 1993 sowie das Urteil des SG vom 4. Februar 1993 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 27. November 1991 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Januar 1992 zu verurteilen, dem Kläger auch für die Zeit vom 22. August 1991 bis zum 1. November 1991 Arbeitslosengeld zu gewähren, hilfsweise den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Beklagte schließt sich dem Hilfsantrag des Klägers an.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision ist im Sinne der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

1. Die Revision ist zulässig. Der Kläger hat sie nach Zulassung durch den Senat (§§ 158 Satz 3, 160 Abs 1 SGG) form- und fristgerecht eingelegt (§ 164 Abs 1 SGG) und damit begründet, daß das LSG § 150 Nr 2 SGG aF verletzt habe, daher die Berufung nicht verwerfen durfte, sondern in der Sache zu entscheiden hatte. Der Kläger hat die Tatsachen entsprechend § 164 Abs 2 Satz 3 SGG bezeichnet, die den behaupteten Verfahrensmangel des LSG ergeben.

2. Die Revision ist auch iS der Aufhebung und Zurückverweisung begründet, denn der gerügte Verfahrensverstoß des LSG liegt vor.

Zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, daß nach Art 14 Abs 1 des Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege vom 11. Januar 1993 (BGBl I 50) die §§ 144 ff SGG aF anzuwenden waren, weil die mündliche Verhandlung, auf die das Urteil des SG erging, vor dem 1. März 1993, nämlich am 4. Februar 1993 geschlossen worden war. Richtig ist ferner, daß die Berufung des Klägers § 144 Abs 1 Nr 2 SGG aF unterfiel. Nach dieser Vorschrift ist die Berufung bei Ansprüchen auf wiederkehrende Leistungen für einen Zeitraum bis zu 13 Wochen (drei Monaten) ausgeschlossen. Das trifft für Ansprüche auf Alg auch dann zu, wenn eine Sperrzeit streitig ist (vgl BSGE 66, 94 ff = SozR 4100 § 119 Nr 36; BSGE GrS 18, 266).

Ungeachtet dessen ist die Berufung in einem derartigen Fall nach § 150 Nr 2 SGG aF zulässig, wenn ein wesentlicher Mangel des Verfahrens gerügt wird. So liegt es hier. Das SG hat, wie der Kläger zutreffend vorgetragen hat, § 103 SGG verletzt. Das SG hat die Sperrzeit damit begründet, daß der Kläger seine Arbeitslosigkeit allein durch den arbeitsgerichtlichen Vergleich herbeigeführt habe. Bei der Prüfung, ob der Kläger für den Vergleichsabschluß einen wichtigen Grund iS des § 119 Abs 1 Satz 1 AFG hatte, mußte sich ihm angesichts des Umstandes, daß der Kläger die Vorwürfe des Arbeitgebers, die zur Kündigung geführt hatten, bestritt, die Frage aufdrängen, ob darin ein wichtiger Grund gesehen werden konnte, daß wegen einer nicht gerechtfertigten verhaltensbedingten Kündigung das Verhältnis zwischen Kläger und Arbeitgeber so zerrüttet war, daß keine gemeinsame Basis für eine weitere Zusammenarbeit mehr vorlag. Das gilt um so mehr, als das SG auf Waltermann in NJW 1992, 1136 hingewiesen hatte, der einen derartigen wichtigen Grund ausdrücklich erwähnt (aaO, 1138). Das SG hätte nach seiner Rechtsauffassung daher aufklären müssen, ob der Kläger während seiner mit Arbeitsunfähigkeit einhergehenden Erkrankung an einem bestimmten Tage Bier- und Getränkekästen geschleppt hat, zB durch Vernehmung der Zeugin S …. Auch die weiteren Erfordernisse dafür, daß das SG den beantragten Beweis hätte erheben müssen, liegen vor, denn der Kläger hat eine Zeugin benannt, den Beweisgegenstand umschrieben und nach dem Sitzungsprotokoll den Beweisantrag in der mündlichen Verhandlung des Rechtsstreits gestellt. Da der Kläger den Mangel des sozialgerichtlichen Verfahrens schon vor dem LSG gerügt hat, durfte das LSG die Berufung nicht als unzulässig verwerfen, sondern hätte in der Sache entscheiden müssen.

3. Ob die Revision auch in der Sache begründet und dem Kläger für die hier streitige Zeit Alg zu leisten ist, vermag der Senat wegen Fehlens der dafür erforderlichen tatsächlichen Feststellungen im Beschluß des LSG (§ 163 SGG) nicht zu entscheiden.

Das LSG wird zunächst die für den Eintritt einer Sperrzeit gemäß § 119 Abs 1 AFG maßgebenden Voraussetzungen zu prüfen haben. Für die dabei nachzuholenden Feststellungen wird das LSG allerdings nicht die Rechtsauffassung des SG zugrunde legen und darauf abstellen können, daß der Kläger sein Arbeitsverhältnis vergleichsweise gelöst und dafür möglicherweise einen wichtigen Grund gehabt hat. Denn die Arbeitslosigkeit des Klägers ab 10. August 1991 ist tatsächlich durch die vorhergehende Kündigung verursacht worden, nicht durch den späteren Vergleich. Für das Vorliegen des Kausalzusammenhangs ist nämlich entscheidend, ob der Arbeitslose nach dem tatsächlichen Geschehensablauf die zur Arbeitslosigkeit führende Kündigung verursacht und zu verantworten hat (vgl hierzu BSG SozR 3-4100 § 119 Nrn 3 und 6 sowie Senatsurteil vom 25. April 1991 – SozR 3-4100 § 119a Nr 1). Mithin kommt es allein darauf an, ob der Kläger durch ein arbeitsvertragswidriges Verhalten Anlaß für die Lösung des Beschäftigungsverhältnisses gegeben und dadurch seine Arbeitslosigkeit wenigstens grob fahrlässig herbeigeführt hat. Auch unter diesen Voraussetzungen bedarf es hier der Aufklärung, ob sich der Kläger vertragswidrig verhalten oder jedenfalls sein Verhalten die Kündigung nicht gerechtfertigt hat.

Im übrigen wird das LSG ggf feststellen müssen, ob die für den Anspruch auf Alg gemäß § 100 AFG erforderlichen Voraussetzungen hier sämtlich im streitbefangenen Zeitraum vorliegen.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1172834

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