Entscheidungsstichwort (Thema)

KVdR - Beitragspflicht - Versorgungsbezüge - Zahlstelle - Einbehalt - rückständige Beiträge - Verwirkung

 

Orientierungssatz

1. Der Einbehalt von rückständigen Beiträgen ist davon abhängig, daß die der Beitragspflicht zugrundeliegenden Versorgungsbezüge weiterhin gezahlt werden und daß dem Versorgungsempfänger mindestens ein Betrag in Höhe seines Sozialhilfebedarfs bzw die Hälfte der Versorgungsbezüge verbleibt.

2. Nach den §§ 256 Abs 2, 255 Abs 2 SGB 5 kommt es zur Aufrechterhaltung des Beitragsanspruchs weder auf das fehlende Verschulden der Zahlstelle noch auf das Fehlverhalten der Krankenkasse an. Daraus ist zu schließen, daß die "Verfallklausel" des alten Rechts für Beitragsforderungen ab 1.1.1989 nicht mehr anzuwenden ist.

3. Eine Verwirkung des Beitragsanspruchs kommt nicht deshalb in Betracht, weil unter der Geltung des neuen Rechts der Beitragseinzug über längere Zeit unterblieben ist und sich aus den Umständen des Unterlassens ein Vertrauenstatbestand ergibt.

 

Normenkette

BGB § 242; SGB I § 51 Abs. 2 Fassung 1980-08-18; RVO § 393a Abs. 2 Fassung 1981-12-01; SGB V § 256 Abs. 2 Fassung 1988-12-20, § 237 S. 1 Nr. 2 Fassung 1988-12-20, § 255 Abs. 2 S. 1 Fassung 1988-12-20, S. 2 Fassung 1988-12-20

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 29.04.1992; Aktenzeichen L 16 Kr 129/91)

SG Dortmund (Entscheidung vom 24.05.1991; Aktenzeichen S 8 Kr 76/90)

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt die Erstattung von Krankenversicherungsbeiträgen, die für Versorgungsbezüge von der beigeladenen Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder (VBL) einbehalten wurden.

Der Kläger ist als Rentner pflichtversichert und Mitglied der beklagten Ersatzkasse. Neben der Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung bezieht er Versorgung von der Beigeladenen. Wegen der Versorgungsbezüge forderte die Beklagte vom Kläger zunächst Beiträge für die Zeit vom 1. Januar 1985 bis 30. September 1989 (Bescheid vom 28. September 1989), verzichtete aber dann auf die Nachforderung für die Zeit von Januar 1985 bis Dezember 1988, so daß nur noch die Zeit vom 1. Januar bis 30. September 1989 in Streit war (Abhilfebescheid vom 7. Dezember 1989, Widerspruchsbescheid vom 10. Mai 1990). Auf die Anfechtungsklage teilte die Beklagte dann mit Schreiben vom 28. August 1990 mit, "daß die Beitragsforderung in dieser Form nicht weiter aufrechterhalten bleibt". Insoweit würden die angefochtenen Bescheide aufgehoben; die rückständigen Beiträge in Höhe von 349,56 DM müßten durch die VBL einbehalten werden. Diese sei bereits eingeschaltet. Der Kläger nahm die Klage entgegen der entsprechenden Anregung der Beklagten nicht zurück, weil die Beklagte trotz der Rücknahme der angefochtenen Bescheide an der Beitragspflicht festhalte und verlangte nunmehr Erstattung des inzwischen von der Beigeladenen in zwei Monatsraten von den laufenden Versorgungsbezügen einbehaltenen Betrags.

Mit Urteil vom 24. Mai 1991 hat das Sozialgericht (SG) die Klage abgewiesen; die Berufung hatte ebenfalls keinen Erfolg (Urteil vom 29. April 1992). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Klage als zulässig angesehen und offengelassen, ob es sich um eine Klageänderung oder um einen Fall von § 99 Abs 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) handele. Die Beiträge seien jedoch zu Recht entrichtet worden. Durch § 256 Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Krankenversicherung - (SGB V) sei gegenüber dem früheren Rechtszustand insofern eine Änderung eingetreten, als der Einbehalt von Beiträgen nicht nur bis zur nächsten Zahlung, sondern so lange nachgeholt werden könne, wie Versorgungsbezüge überhaupt gezahlt würden. Der Einwand der Verwirkung greife nicht ein, denn die Zeit vom 1. Januar 1989 bis zur tatsächlichen Einbehaltung sei zu kurz, um das Vertrauen des Klägers darauf zu begründen, von der neugeschaffenen Möglichkeit des (nachgeholten) Einbehalts werde kein Gebrauch gemacht.

Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung des Instituts der Verwirkung. Der Beitragsanspruch entstehe einheitlich mit dem Bezug der beitragspflichtigen Zusatzrente, so daß auch die Frage der Verwirkung für die Zeit vor dem 1. Januar 1989 und für die Zeit danach nicht unterschiedlich beantwortet werden könne. Am Vertrauensschutz habe sich durch die Schaffung anderer Durchsetzungsmöglichkeiten für Beitragsforderungen nichts geändert.

Der Kläger beantragt,

die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 29. April

1992 und des Sozialgerichts Dortmund vom 24. Mai 1991 aufzuheben und

die Beklagte zu verurteilen, 349,56 DM zu erstatten.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beigeladene stellt keinen Antrag. Sie teilt die Rechtsauffassung des LSG und der Beklagten.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist zulässig, aber nicht begründet.

Ob der zuletzt vor dem SG formulierte Antrag einer reinen Leistungsklage zur Durchsetzung eines Beitragserstattungsanspruchs nicht zulässig ist, weil darüber in der Regel zunächst durch Verwaltungsakt zu entscheiden ist (BSG SozR 3-2400 § 26 Nr 4; SozR 1500 § 54 Nr 45) und ob im konkreten Fall eine Ausnahme gilt, weil die Beklagte erklärt hat, sie hebe den ursprünglich angefochtenen Beitragsbescheid auf, läßt der Senat unentschieden. Denn jedenfalls hat das LSG unangegriffen festgestellt, daß die Beklagte mit der Klageerwiderung vom 28. August 1990 (nur) die "persönliche Inanspruchnahme des Klägers" aufgegeben (die grundsätzliche Feststellung der Beitragsschuld also aufrechterhalten) habe. Auch der Kläger hat die fragliche Äußerung in diesem Sinne verstanden. Daraus ergibt sich, daß er jedenfalls insoweit seine ursprüngliche Anfechtungsklage gegen die Feststellung der Beitragsschuld trotz des umformulierten Antrags nicht aufgegeben hat. Deshalb faßt der Senat das klägerische Begehren gemäß § 123 SGG als kombinierte Anfechtungs- und Erstattungsklage auf, die nach § 54 Abs 1 und Abs 4 SGG zulässig ist. Im übrigen setzt § 256 Abs 2 S 4 SGB V die Zulässigkeit einer derartigen Klage voraus.

Die Vorinstanzen haben die Klage zu Recht abgewiesen. Die Beitragspflicht des Klägers ergibt sich ab 1. Januar 1989 aus § 237 SGB V, die Art und Weise der Beitragszahlung aus §§ 256 Abs 2 Satz 1, 255 Abs 2 Satz 1 SGB V. Das hat der Senat bereits beiläufig im Urteil vom 19. März 1992 (SozR 3-2200 § 393a Nr 2) entschieden. Mangels Übergangsregelung sind die alten Vorschriften mit dem 31. Dezember 1988 außer Kraft getreten; deshalb können sich die Beitragsforderungen für die Zeit danach nur nach den neuen Vorschriften richten.

Der Einbehalt durch die Beigeladene ist nicht zu beanstanden. Die zitierten Vorschriften machen den Einbehalt von rückständigen Beiträgen davon abhängig, daß die der Beitragspflicht zugrundeliegenden Versorgungsbezüge weiterhin gezahlt werden und daß dem Versorgungsempfänger mindestens ein Betrag in Höhe seines Sozialhilfebedarfs bzw die Hälfte der Versorgungsbezüge verbleibt (§ 51 Abs 2 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - ≪SGB I≫). Mangels entsprechender Anhaltspunkte sind Verletzungen von § 51 SGB I zu Lasten des Klägers nicht ersichtlich, so daß es auch nicht darauf ankommt, welche Bedeutung die Nichtbeachtung von § 51 SGB I für die Beurteilung der Erstattung bereits entrichteter Beiträge hätte.

Der klägerischen Auffassung von der Verwirkung der Beitragsforderung ist aus mehreren Gründen nicht zu folgen. Sie verkennt, daß die Beitragsansprüche aus der Zeit vor 1989 nicht wegen Verwirkung (analog § 242 Bürgerliches Gesetzbuch ≪BGB≫), sondern deshalb nicht mehr realisiert werden konnten, weil das Verschulden der Zahlstelle nach § 393a Abs 2 S 6 Reichsversicherungsordnung (RVO) den Anspruch ausschloß oder weil es der Beklagten nach Treu und Glauben versagt war, sich auf ihr eigenes rechtswidriges Verhalten zu berufen, um das für den Beitragsanspruch erforderliche fehlende Verschulden der Zahlstelle zu begründen (SozR aaO). Seit der Gesetzesänderung kommt es nach §§ 256 Abs 2, 255 Abs 2 SGB V zur Aufrechterhaltung des Beitragsanspruchs weder auf das fehlende Verschulden der Zahlstelle noch auf das Fehlverhalten der Krankenkasse an. Bereits daraus ist zu schließen, daß die "Verfallklausel" des alten Rechts für Beitragsforderungen ab 1. Januar 1989 nicht mehr anzuwenden ist. Gleichzeitig wurden durch § 202 SGB V eine Meldepflicht der Zahlstelle (die früher gemäß § 317 Abs 8 S 1 RVO ausschließlich für den Versicherten gegolten hatte) und eine korrespondierende Auskunftspflicht des Versicherten geschaffen, welche nach § 202 S 2 SGB V ausdrücklich alle bereits laufenden Versorgungsbezüge erfaßt. Diese völlige Umgestaltung bestätigt die Abkehr vom bisherigen Rechtszustand und macht gleichzeitig deutlich, daß die am 1. Januar 1989 laufenden Versorgungsbezüge ohne Rücksicht auf ein eventuelles früheres Fehlverhalten der Beteiligten zur Beitragserhebung herangezogen werden sollten. Die sechsmonatige Meldefrist weist im übrigen darauf hin, daß der nachträgliche Beitragseinzug vom Gesetzgeber gebilligt wird; sonst hätte § 255 Abs 2 S 1 SGB V erst im Laufe des Jahres 1989 in Kraft gesetzt werden dürfen. Unter diesen Umständen kann das (mögliche) frühere Fehlverhalten der Beklagten beim Beitragseinzug über den 31. Dezember 1988 hinaus keine Wirkungen entfalten.

Eine Verwirkung kommt auch nicht deshalb in Betracht, weil unter der Geltung des neuen Rechts der Beitragseinzug über längere Zeit unterblieben ist und sich aus den Umständen des Unterlassens ein Vertrauenstatbestand ergibt. Daß dabei auf den Zeitpunkt des Inkrafttretens von §§ 255, 256 SGB V abgestellt wird, bedeutet keine Neubewertung eines bereits abgeschlossenen Vorgangs im Sinne eines "Wiederauflebens" bereits verfallener Ansprüche. Denn entgegen der Konzeption des Klägers entstehen Beitragsansprüche erst, wenn die der Beitragspflicht zugrundeliegenden Versorgungsbezüge gezahlt werden, wie sich aus der Verwendung des Begriffs "Zahlbetrag" in § 237 Satz 1 Nr 2 SGB V iVm § 22 Abs 1 Sozialgesetzbuch - Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung - (SGB IV) ergibt. Auch die Fälligkeit des Beitragsanspruchs wird durch § 256 Abs 1 Satz 2 SGB V ausdrücklich auf den Zeitpunkt der Auszahlung der Versorgungsbezüge fixiert. Folgte man der Auffassung des Klägers, könnten Beitragsansprüche also bereits verwirkt sein, bevor sie entstanden und fällig geworden sind. Ist aber der Beginn des Jahres 1989 der maßgebliche Zeitpunkt für die (allenfalls denkbare) Verwirkung, kann dieser Gesichtspunkt schon wegen des nur kurzen zeitlichen Abstands bis zum Beitragsbescheid vom 28. September 1989 dem Kläger nicht zum Erfolg verhelfen.

Da die streitigen Beiträge zu Recht einbehalten wurden, ist die Revision zurückzuweisen. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 60294

RegNr, 20831 (BSG-Intern)

BR/Meuer SGB V § 256, 23-03-93, 12 RK 62/92 (OT1-3)

BetrAV 1993, 248 (L)

USK, 9314 (T)

Die Beiträge 1993, 503-506 (OT1-3)

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