Leitsatz (amtlich)

Zeitliche Geltung des RVO § 1252 Abs 2 idF des RRG - Erwerbsunfähigkeit "auf nicht absehbare Zeit" - rückschauende Betrachtungsweise:

Die Worte "auf nicht absehbare Zeit" in RVO § 1247 Abs 2 S 1 bedeuten im Hinblick auf RVO § 1276 Abs 1, daß die im Gesetz umschriebene Leistungsfähigkeit mindestens 26 Wochen ununterbrochen bestanden haben muß; dies ist rückschauend zu beurteilen (Fortführung von BSG 1974-08-22 8 RU 222/73 = SozR 2200 § 580 Nr 1).

 

Leitsatz (redaktionell)

Von RVO § 1252 Abs 2 idF RRG werden Versicherungsfälle nicht erfaßt, die vor dem 1.1.1973 eingetreten sind.

 

Normenkette

RVO § 1247 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1957-02-23, § 1252 Abs. 2 Fassung: 1972-10-16, § 1276 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23; RRG Art. 6 § 8 Abs. 1 Fassung: 1972-10-16

 

Tenor

Die Urteile des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 12. März 1976 und des Sozialgerichts Duisburg vom 24. Juni 1975 werden aufgehoben.

Die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 3. April 1974 wird abgewiesen.

Kosten des Verfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Der Rechtsstreit betrifft die Frage, ob die Wartezeit nach § 1252 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) idF des Rentenreformgesetzes (RRG) vom 16. Oktober 1972 (BGBl I S. 1965) als erfüllt gilt und der Kläger deshalb Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit hat (§ 1247 Abs. 2 RVO).

Der 1954 geborene Kläger war vom 1. August 1971 bis 22. August 1972 (einschließlich Lohnfortzahlung) als Lehrling versicherungspflichtig beschäftigt. Er verunglückte am 12. Juli 1972 während eines Urlaubs durch den Absturz einer Gondel der Schweizer Seilbahn in B. Dabei erlitt er verschiedene Knochenbrüche und einen Verrenkungsbruch des 12. Brustwirbelkörpers mit der Folge einer vollständigen spastischen Lähmung beider unterer Gliedmaßen mit Störung der Blasen-, Mastdarm- und Genitalfunktionen. Er befand sich seit dem Unfall in stationärer Behandlung; über die Weihnachtstage 1972 war er vorübergehend nach Hause entlassen. Im Januar 1973 bildete sich eine Harnröhrenfistel und führte zu einer steten Verschlimmerung des Allgemeinzustandes. Nach einer Nierensteinentfernung 1974 wurde der Kläger im Mai 1975 aus der stationären Behandlung entlassen.

Im Februar 1974 beantragte der Kläger die Gewährung einer Versichertenrente. In dem von der Beklagten eingeholten Gutachten des behandelnden Arztes Dr. med. T. ist u. a. ausgeführt, aufgrund der vollständigen spastischen Lähmung beider unteren Gliedmaßen und des hochgradig reduzierten Allgemeinzustandes könnten dem Versicherten zur Zeit überhaupt keine regelmäßigen Tätigkeiten mehr zugemutet werden; inwieweit er nach Beendigung des Krankenhausaufenthalts in der Lage sein werde, ein Studium zu absolvieren, sei noch nicht abzusehen. Mit Bescheid vom 3. April 1974 lehnte die Beklagte den Rentenantrag mit der Begründung ab, der Kläger sei zwar seit dem 12. Juli 1972 bis zum 31. August 1975 vorübergehend erwerbsunfähig, erfülle jedoch die Wartezeit nicht; § 1252 Abs. 2 RVO gelte nur für Versicherungsfälle ab 1. Januar 1973.

Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte zur Gewährung von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit verpflichtet (Urteil vom 24. Juni 1975). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen; die Revision wurde zugelassen (Urteil vom 12. März 1976). Es hat im wesentlichen sinngemäß ausgeführt, § 1252 Abs. 2 RVO, der nur für Versicherungsfälle nach seinem Inkrafttreten am 1. Januar 1973 gelte, sei anzuwenden, da der Kläger erst 1973 erwerbsunfähig geworden sei. Bis Ende 1972 hätten die Voraussetzungen der Gewährung einer Erwerbsunfähigkeitsrente auf Zeit nicht vorgelegen. Aus § 1276 Abs. 1 RVO, wonach die Zeitrente erst vom Beginn der 27. Woche an zu gewähren sei, ergebe sich, daß der Gesetzgeber Zustände bis zu einem halben Jahr als Bagatellfälle ansehe, die nicht berentet werden sollten, sondern dem Risikobereich der Krankenversicherung zuzuordnen seien. Bis Ende 1972 habe lediglich ein derartiger, nicht zu berentender Zustand vorgelegen; denn ein Wirbelbruch, wie ihn der Kläger erlitten habe, führe im allgemeinen lediglich zu einem Krankenhausaufenthalt von etwa vier bis sechs Monaten. Danach sei der Querschnittsgelähmte wieder in der Lage, an einem angepaßten Arbeitsplatz eine Beschäftigung im Sitzen auszuüben. Erst durch die 1973 aufgetretenen, dem normalen Krankheitsverlauf widersprechenden Komplikationen sei der Kläger erwerbsunfähig geworden. Zwar habe bei ihm fortlaufend vom Unfalltage an eine Einsatzunfähigkeit vorgelegen; seine Gesundheitsstörung sei in ihrem Ausmaß jedoch nicht gleichgeblieben. Daher müsse zwischen zwei Komplexen, nämlich vor und nach dem Auftreten von Komplikationen, unterschieden werden. Erst der zweite Komplex habe zu einer Erwerbsunfähigkeit des Klägers geführt. Die Komplikationen seien auf ein plötzlich einsetzendes Infektionsgeschehen zurückzuführen, das nicht zu ungünstigen Rückschlüssen auf den vorher bestehenden Zustand des Klägers zwinge.

Die Beklagte hat Revision eingelegt und beantragt,

die Urteile des LSG für das Land Nordrhein-Westfalen vom 12. März 1976 sowie des SG Duisburg vom 24. Juni 1975 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Sie führt aus, die Beurteilung im Einzelfall, ob Erwerbsunfähigkeit auf Dauer oder auf absehbare Zeit oder ob nur Arbeitsunfähigkeit i. S. der Krankenversicherung bestehe, könne nur nach dem tatsächlichen Heilungsverlauf vorgenommen werden. Dieser beweise, daß die Querschnittslähmung des Klägers nicht nur eine vorübergehende Erwerbsunfähigkeit von etwa vier bis sechs Monaten bewirkt habe. Der Kläger sei auch ohne die Verschlechterung zu keiner Zeit zu irgendwie gearteter Arbeit imstande gewesen. Zu Unrecht gehe das LSG von zwei unterschiedlichen Komplexen vor und nach Auftreten der Komplikationen aus. Da sowohl die Querschnittslähmung als auch die Komplikationen ausschließlich auf das Unfallgeschehen zurückzuführen seien, bestehe der Zustand des Klägers, der zur Erwerbsunfähigkeit geführt habe, bereits seit dem Unfall. Es komme nicht darauf an, daß Komplikationen selten seien; maßgebend sei allein der tatsächliche Heilungsverlauf im konkreten Fall. Danach sei der Kläger seit dem Unfall erwerbsunfähig i. S. des § 1247 RVO. Da die Wartezeit nach dem vor dem 1. Januar 1973 geltenden Recht nicht erfüllt sei, stehe Rente nicht zu.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er meint, die Erwerbsunfähigkeit sei nicht rückschauend zu beurteilen, vielmehr komme es auf die "ex-nunc-Prognose" eines Sachverständigen an. Der Versicherungsfall könne nicht dadurch vorverlegt werden, daß sich die aufgrund des zunächst erkennbaren Krankheitsbildes richtig gestellte Prognose hinsichtlich der Erwerbsfähigkeit nachträglich als unrichtig erweise.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist zulässig und begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, weil die Wartezeit weder erfüllt ist noch als erfüllt gilt.

Nach § 1252 Abs. 2 RVO gilt die Wartezeit als erfüllt, wenn der Versicherte vor Ablauf von sechs Jahren nach Beendigung einer Ausbildung infolge eines Unfalles erwerbsunfähig geworden ist und in den dem Versicherungsfall vorausgegangenen vierundzwanzig Kalendermonaten mindestens für sechs Kalendermonate Beiträge aufgrund einer versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit entrichtet hat. Diese Vorschrift ist durch Art. 1 § 1 Nr. 9 RRG eingefügt worden und am 1. Januar 1973 in Kraft getreten (Art. 6 § 8 Abs. 1 RRG). Beim Fehlen weiterer Übergangsbestimmungen ist damit zugleich gesagt, daß § 1252 Abs. 2 RVO auf frühere Versicherungsfälle keine Anwendung finden kann. Nach herrschender Rechtsauffassung und Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) regelt neues Recht diejenigen Ansprüche, die auf Tatbeständen beruhen, die nach seinem Inkrafttreten eingetreten sind, wenn nicht das neue Recht selbst ausdrücklich oder dem Sinn nach seinen zeitlichen Geltungsbereich auf bereits abgeschlossene Sachverhalte erstreckt (BSG 7, 282, 284; 13, 251, 252; 16, 177, 178; 23, 139, 140; 25, 249, 250). In der Rentenversicherung ist der Eintritt des Versicherungsfalles maßgebend für die Anwendung neuen Rechts (vgl. SozR Nr. 46 zu § 1267 RVO und Nr. 68 zu § 1251 RVO; zuletzt Urteil vom 25. November 1976 - 11 RA 152/75).

Der Versicherungsfall der Erwerbsunfähigkeit (§ 1247 Abs. 2 RVO) ist hier entgegen der Auffassung des LSG bereits mit dem Unfall am 12. Juli 1972 eingetreten; die Erwerbsunfähigkeit hat auch ununterbrochen über den 1. Januar 1973 hinaus fortbestanden. Die Auffassung des LSG, für den Zeitpunkt des Eintritts der Erwerbsunfähigkeit sei nicht der Beginn der tatsächlich vorhandenen Leistungsunfähigkeit maßgebend, sondern die in die Zeit zwischen Unfall und Ende des Jahres 1972 zu verlegende Vorausschau über den Heilungsverlauf, wird durch die Worte "auf nicht absehbare Zeit" in § 1247 Abs. 2 RVO nicht gestützt. Mit diesen Worten wird kein Tatbestandsmerkmal aufgestellt, das den Eintritt der Erwerbsunfähigkeit vom Vorliegen tatsächlicher Leistungsunfähigkeit loslöst. Die gesundheitsbedingte Unfähigkeit, eine Erwerbstätigkeit auf nicht absehbare Zeit auszuüben, ist ein objektives Merkmal der Erwerbsunfähigkeit als Voraussetzung eines Rentenanspruchs; das Vorliegen von Erwerbsunfähigkeit ist nach dem objektiv gegebenen Sachverhalt zu beurteilen. Die Worte in § 1247 Abs. 2 RVO "auf nicht absehbare Zeit" können nicht ohne Berücksichtigung des § 1276 Abs. 1 RVO mit dem Wortlaut "Erwerbsunfähigkeit in absehbarer Zeit behoben sein wird" ausgelegt werden. Die Verwendung der Worte "nicht absehbare Zeit" und "absehbare Zeit" in § 1247 Abs. 2 RVO und § 1276 Abs. 1 RVO wird als eine Ungereimtheit des Gesetzes angesehen (vgl. Bogs in Die Sozialgerichtsbarkeit 1957, 65, Fußnote 5 auf S. 66; Zweng/Scheerer, Das neue Recht der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten, 2. Aufl., Anm. B 4 a zu § 1247 RVO, S. 14, 15). Sie ist dadurch zu beseitigen, daß der Fassung und dem Sinn und Zweck des § 1276 Abs. 1 RVO vorrangige Bedeutung für die Auslegung der umstrittenen Worte in § 1247 Abs. 2 RVO beigelegt wird.

§ 1276 Abs. 1 RVO ist ausdrücklich für jene Fälle der Leistungsunfähigkeit geschaffen, bei denen Aussicht auf deren Behebung besteht. Er enthält dafür die Regelung, daß während der ersten sechsundzwanzig Wochen der Leistungsunfähigkeit keine Rente gewährt wird. In diese Regelung des § 1276 Abs. 1 RVO ist auch Rente wegen Erwerbsunfähigkeit trotz der Worte "auf nicht absehbare Zeit" in § 1247 Abs. 2 RVO mit einbezogen. In § 1276 Abs. 1 RVO ist nur eine Vorausschau aus der Sicht des Versicherungsträgers zur Zeit seiner Entscheidung über den Rentenantrag für die Zukunft, aber nicht eine in die Vergangenheit zurückverlegte Vorausschau geregelt ("behoben sein wird"). Erst bei der Nachprüfung der Entscheidung des Versicherungsträgers im Streitverfahren ist die Vorausschau auf den Zeitpunkt der Bescheiderteilung zurückzuverlegen. Im Hinblick auf diese ausdrückliche Sonderregelung des § 1276 Abs. 1 RVO besagen die Worte "auf nicht absehbare Zeit" in § 1247 Abs. 2 RVO im Zusammenhang mit der allgemeinen Begriffsbestimmung der Erwerbsunfähigkeit nur, daß ein Zustand der Leistungsunfähigkeit von kürzerer Dauer keine Erwerbsunfähigkeit begründet. Eine solche kürzere Dauer liegt vor, wenn die Leistungsunfähigkeit sich nicht über mehr als sechsundzwanzig Wochen erstreckt hat. Das ist § 1276 Abs. 1 RVO zu entnehmen, wonach während der ersten sechsundzwanzig Wochen einer Leistungsunfähigkeit keine Rente zusteht. Diese ununterbrochene (Mindest-) Dauer der Leistungsunfähigkeit ist danach ein objektives Merkmal in § 1247 Abs. 2 RVO.

Ob dieses Merkmal vorliegt, muß rückschauend für die Zeit seit Beginn der Leistungsunfähigkeit geprüft werden, wenn der Versicherungsträger über den Rentenantrag entscheidet und die Voraussetzungen eines Rentenanspruchs festzustellen hat. Dem steht nicht entgegen, daß vor Ablauf von sechsundzwanzig Wochen möglicherweise nicht feststeht, ob eine Leistungsunfähigkeit nur vorübergehend oder von Dauer ist. Insofern kann die Sache während der ersten sechsundzwanzig Wochen nach Eintritt der Leistungsunfähigkeit für den Versicherungsträger u. U. noch nicht entscheidungsreif sein (vgl. § 88 Abs. 1 SGG). Wird aber festgestellt, daß die Leistungsunfähigkeit tatsächlich länger als sechsundzwanzig Wochen angedauert hat, so ist der Versicherungsfall der Erwerbsunfähigkeit sofort bei Beginn der Leistungsunfähigkeit eingetreten, gleichgültig, ob Aussicht auf Behebung der Leistungsunfähigkeit bestanden hat oder noch besteht (§ 1276 Abs. 1: "... behoben sein wird"); eine solche Aussicht auf Behebung hat dann nur Bedeutung für die Dauer der Rente, nicht jedoch für den Zeitpunkt des Eintritts des Versicherungsfalles der Erwerbsunfähigkeit (vgl. SozR Nr. 2, 3, 6 und 7 zu § 1276 RVO). Auch der 8. Senat ist in seinem Urteil vom 22. August 1974 - 8 RU 222/73 (SozR 2200 § 580 Nr. 1) davon ausgegangen, daß der Rentenversicherungsträger bei der Entscheidung über die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erwerbsunfähigkeitsrente rückschauend feststellt, ob die Fähigkeit zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit nur für eine kurze absehbare Zeit - als solche sieht der 8. Senat in Übereinstimmung mit dem erkennenden Senat einen Zeitraum von sechs Monaten an - verlorengegangen ist (in dem entschiedenen Fall vier Monate).

Im vorliegenden Fall befand sich der Kläger nach den Feststellungen des LSG seit dem Unfall ununterbrochen über den 1. Januar 1973 hinaus in stationärer Krankenhausbehandlung. Die Entlassung nach Hause über die Weihnachtstage 1972 war nur vorübergehend. Diese Feststellungen sind von den Beteiligten nicht angegriffen worden. Sie bedeuten rechtlich, daß während der stationären Behandlung dem Kläger der Zugang zu einer Erwerbstätigkeit verschlossen war, d. h. daß er erwerbsunfähig war.

Da der Versicherungsfall nach alledem vor dem 1. Januar 1973 eingetreten ist und Erwerbsunfähigkeit über den 1. Januar 1973 hinaus bestanden hat, ist § 1252 Abs. 2 RVO idF des RRG nicht anwendbar.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI518738

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