Entscheidungsstichwort (Thema)

Schwerbehinderteneigenschaft. Schwerbehindertenbescheid des Versorgungsamts. deklaratorischer Verwaltungsakt

 

Leitsatz (amtlich)

Ein Schwerbehinderter kann auch schon vor der förmlichen Feststellung der Schwerbehinderung durch das Versorgungsamt der Krankenversicherung gemäß § 176c RVO nF freiwillig beitreten, jedoch frühestens mit dem Zeitpunkt, für den das Vorliegen von Schwerbehinderung nachträglich festgestellt wird.

 

Orientierungssatz

Der Feststellung der Schwerbehinderung durch Verwaltungsakt des Versorgungsamts nach § 3 Abs 1 SchwbG kommt keine konstitutive, sondern nur deklaratorische Bedeutung zu (vgl BSG vom 30.4.1979 - 8b RK 1/78 = BSGE 48, 167).

 

Normenkette

RVO § 176c Fassung: 1981-12-22; SchwbG § 3 Abs 1

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 25.06.1987; Aktenzeichen L 4 Kr 10/86)

SG Würzburg (Entscheidung vom 12.11.1985; Aktenzeichen S 3 Kr 56/84)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über den Beginn der Mitgliedschaft des Klägers bei der Beklagten aufgrund eines freiwilligen Beitritts zur Krankenversicherung nach § 176c der Reichsversicherungsordnung (RVO) idF des Kostendämpfungs-Ergänzungsgesetzes (KVEG) vom 22. Dezember 1981 (BGBl I 1578).

Mit einem bei der Allgemeinen Ortskrankenkasse W.       am 1. Februar 1984 eingegangenen Schreiben vom 26. Januar 1984 stellte der Kläger, der sich damals in stationärer Krankenhausbehandlung in W.       befand, "Antrag auf freiwilligen Beitritt zur Krankenversicherung nach § 176c RVO ab Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft durch das Versorgungsamt bzw ab Eingangstag bei der Krankenkasse". Gleichzeitig beantragte er beim Versorgungsamt W. die Ausstellung einer Bescheinigung über die Eigenschaft als Schwerbehinderter iS des § 1 des Schwerbehindertengesetzes (SchwbG). Das Versorgungsamt W.       erteilte am 17. April 1984 einen Feststellungsbescheid nach § 3 Abs 1 SchwbG und stellte beim Kläger eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 vH ab Februar 1984 fest.

Die Beklagte setzte daraufhin den Beginn der freiwilligen Mitgliedschaft des Klägers auf den 17. April 1984 fest (Bescheid vom 22. Juni 1984). Dem Widerspruch des Klägers vom 24. August 1984 half die Beklagte - innerhalb des auf die Klage vom 27. September 1984 anhängig gewordenen Klageverfahrens - mit Widerspruchsbescheid vom 13. August 1985 nicht ab. Klage und Berufung des Klägers sind erfolglos geblieben (Urteil des Sozialgerichts -SG- Würzburg vom 12. November 1985; Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts -LSG- vom 25. Juni 1987). Zur Begründung hat das LSG im wesentlichen ausgeführt: Nach Wortlaut und Sinn des § 310 Abs 1 RVO könne die Mitgliedschaft Versicherungsberechtigter nur dann mit dem Tag des Beitritts zur Kasse beginnen, wenn zu diesem Zeitpunkt alle Beitrittsvoraussetzungen bereits vorlagen. Die Versicherungsberechtigung des Klägers habe jedoch frühestens mit der Feststellung der Schwerbehinderung durch das Versorgungsamt am 17. April 1984 entstehen können. Aus dem Wortlaut des § 176c RVO in der ab 1. Januar 1982 geltenden Fassung ergebe sich nicht nur, daß die Beitrittserklärung innerhalb einer Frist von drei Monaten nach Feststellung der Schwerbehinderung erfolgen müsse. Der Vorschrift sei auch eindeutig zu entnehmen, daß die Versicherungsberechtigung des Schwerbehinderten erst mit der Feststellung der Schwerbehinderung entstehe. Sie enthalte nicht lediglich eine auf die Beitrittserklärung bezogene Ausschlußfrist. Andernfalls müßte man folgerichtig darin auch den frühesten Termin für die Beitrittserklärung gesetzt sehen. Für die Auslegung, daß mit der Neufassung des § 176 c RVO auch eine materiell-rechtliche Wirkung gewollt worden sei und die Versicherungsberechtigung erst mit der Feststellung der Schwerbehinderung beginnen sollte, spreche auch der Sinn und Zweck des Gesetzes. Die Gesetzesbegründung (BT-Drucks 9/845 S 12) lasse erkennen, daß eine unsachgemäße Steuerung des Versicherungsrisikos auf Kosten der Krankenkassen habe verhindert werden sollen.

Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision vertritt der Kläger die Auffassung, daß die Befristung des Beitritts auf drei Monate nach Feststellung der Schwerbehinderung lediglich eine Ausschlußfrist für die Antragstellung sei. Wenn die Berechtigung zur freiwilligen Versicherung mit der Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft entstehe, dann sei er ab Februar 1984 beitrittsberechtigt, denn das Versorgungsamt habe die Schwerbehinderteneigenschaft auf den Beginn des Monats Februar 1984 festgestellt.

Der Kläger und der Beigeladene zu 1) beantragen,

das Urteil des LSG aufzuheben und unter Abänderung des Bescheides der Beklagten vom 22. Juni 1984 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. August 1985 festzustellen, daß er seit dem 1. Februar 1984 Mitglied der Beklagten ist.

Die Beklagte und die Beigeladene zu 2) beantragen,

die Revision zurückzuweisen.

Alle Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist begründet.

Der Kläger ist entgegen der Auffassung der Vorinstanzen und der Beklagten bereits vom 1. Februar 1984 ab freiwilliges Mitglied der Beklagten nach § 176c RVO geworden. Daß seine Schwerbehinderung erst durch Bescheid des Versorgungsamts W.       vom 17. April 1984 förmlich festgestellt wurde, steht der Wirksamkeit der Beitrittserklärung vor diesem Zeitpunkt nicht entgegen.

Nach § 310 Abs 1 Satz 1 RVO beginnt die Mitgliedschaft Versicherungsberechtigter mit dem Tage ihres Beitritts zur Kasse. Der Kläger hat den Beitritt mit einem am 1. Februar 1984 bei der Beigeladenen zu 2) eingegangenen Schreiben und damit an diesem Tag erklärt. Am 1. Februar 1984 lagen beim Kläger nach dem - auch von der Beklagten nicht angezweifelten - Inhalt des Bescheides des Versorgungsamts W.       die tatsächlichen Voraussetzungen der Schwerbehinderung vor, so daß er schon damals, worauf allerdings auch nach der Neufassung des § 176c RVO nicht verzichtet werden kann, zum Personenkreis der Schwerbehinderten gehörte. Die Schwerbehinderteneigenschaft bedarf darüber hinaus keines statusbegründenden Rechtsaktes. Der Feststellung der Schwerbehinderung durch Verwaltungsakt des Versorgungsamts nach § 3 Abs 1 SchwbG kommt demgemäß keine konstitutive, sondern nur deklaratorische Bedeutung zu. Das hat der 8. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) bereits in seiner Entscheidung vom 30. April 1979 (BSGE 48, 167 = SozR 2200 § 176c Nr 1) klargestellt. Daran hat die Neufassung des § 176c RVO ab 1. Januar 1982 nichts geändert.

Der Senat vermag dem Wortlaut der neugefaßten Vorschrift eine Absicht des Gesetzgebers, die Entstehung der aus der Schwerbehinderteneigenschaft abgeleiteten Versicherungs- und Beitrittsberechtigung auf den Tag der bescheidmäßigen Feststellung der Schwerbehinderung zu verschieben, nicht zu entnehmen. Mit der Neufassung des § 176c RVO wollte der Gesetzgeber Mißbräuche des bisher uneingeschränkten Beitrittsrechts verhindern, insbesondere ausschließen, daß der Beitritt erst dann erklärt wurde, wenn größere Krankheitskosten (Krankenhausbehandlung) zu erwarten oder entstanden waren (BT-Drucks 9/845 S 12 re Sp unten). Dieser Absicht entspricht die an der zitierten Stelle ausdrücklich erwähnte Einführung einer Vorversicherungszeit sowie - dort zwar nicht eigens erwähnt, aber aus dem Zusammenhang offenkundig und (vgl Urteil des Senats vom 19. Februar 1987 - BSGE 61, 169 = SozR 2200 § 176c Nr 7) wohl im Ergebnis sogar wirksamer - die Normierung einer Dreimonats-Frist, innerhalb deren der Beitritt erfolgen muß. Fristen erfordern aber einen Anknüpfungspunkt für ihren Beginn. Daß der Gesetzgeber hierfür die bescheidmäßige Feststellung der Schwerbehinderung wählte, lag nahe. Hätte er etwa den Fristbeginn auf den Eintritt der Schwerbehinderung abgestellt, dann wären den Kassen umfangreiche Vorermittlungen aufgebürdet worden; andererseits wäre dann in vielen Fällen die Frist im Zeitpunkt des Beitritts längst abgelaufen, möglicherweise sogar, bevor der Betreffende von der Schwere seiner Behinderung überhaupt erfahren hatte (etwa bei verborgenen Krankheiten). Hat der Schwerbehinderte hingegen einen Anerkennungsbescheid in Händen, dann ist er sich im klaren über seine Schwerbehinderung. Wenn ihm das Gesetz jetzt nur noch eine Überlegungsfrist von drei Monaten einräumt, dann ist das sachgerecht; es verhindert, daß der Beitrittsberechtigte seinen Beitritt bis zu einem für ihn günstigen Zeitpunkt der Inanspruchnahme von Kassenleistungen hinausschiebt und bis dahin zum Nachteil der Versichertengemeinschaft Beiträge spart.

Mit der beabsichtigten Verhinderung von Mißbräuchen läßt sich jedoch eine zeitliche Begrenzung des Beitrittsrechts auf die Zeit nach Feststellung der Schwerbehinderung nicht rechtfertigen. In einer Beitrittserklärung bereits vor der formellen Anerkennung der Schwerbehinderung kann - und konnte schon unter der Geltung des früheren Rechts - kein Mißbrauch im Sinne einer Risikoverschiebung zu Lasten der Versichertengemeinschaft liegen; denn der Schwerbehinderte handelt mit einem so frühzeitigen Beitritt gerade im Sinne des mit der Einführung einer Erklärungsfrist verfolgten Zwecks, nämlich sich möglichst frühzeitig für den gesetzlich für ihn vorgesehenen Krankenversicherungsschutz zu entscheiden und sich nicht die Möglichkeit der Manipulation offenzuhalten.

Fehlt es sonach an einem gesetzgeberischen Motiv für eine Änderung der Rechtslage, wie sie nach § 176c RVO aF und dem oa Urteil des BSG vom 30. April 1979 hinsichtlich der Wirksamkeit der Beitrittserklärung eines Schwerbehinderten bestand, so läßt sich auch durch Auslegung des Wortlauts des § 176c RVO nF eine den besonders schutzbedürftigen Personenkreis der Schwerbehinderten benachteiligende Verkürzung des Beitrittsrechts nicht begründen. Eine Auslegung der Vorschrift, wie sie der Senat für erforderlich hält, nämlich dahin, daß die im Gesetz genannte "Feststellung der Schwerbehinderung" zwar die dreimonatige Ausschlußfrist in Lauf setzt, nicht aber erst eine Beitrittsberechtigung begründet, steht, wie dargelegt, mit dem Gesetzeszweck und mit den Motiven für die Neufassung der Vorschrift im Einklang. Sie vermeidet auch, daß der Feststellungsbescheid des Versorgungsamtes für den Bereich des § 176c RVO eine ihm nach § 3 SchwbG sonst nicht zukommende konstitutive Wirkung erhält.

Mit der vom LSG vorgenommenen Auslegung des § 176c RVO wären zudem unvertretbare Folgen in den Fällen verbunden, in denen sich die Feststellung der Schwerbehinderung nach § 3 SchwbG - etwa wegen umfangreicher ärztlicher Begutachtung oder großer Arbeitsbelastung des Versorgungsamts - verzögert und möglicherweise sogar erst im Gerichtsverfahren getroffen werden kann. Dann könnte der Beitritt unter Umständen erst nach Jahren wirksam erklärt werden, was offenbar nicht der Absicht des Gesetzgebers entspräche. Ist hiernach mit der "Feststellung der Schwerbehinderung" in § 176c RVO nF keine materielle Voraussetzung für die Beitrittsberechtigung geschaffen worden, so kann aus diesem Tatbestandsmerkmal neben seiner Bedeutung für den Beginn der Beitrittsfrist allenfalls gefolgert werden, daß die Krankenkasse über den Beitritt eines Schwerbehinderten als Mitglied in der Regel erst dann zu entscheiden braucht, wenn ihr der Feststellungsbescheid des Versorgungsamts vorliegt, daß sie also die Vorlage dieses Bescheides in der Regel abwarten darf und nicht selbst Ermittlungen über die Schwerbehinderung des Antragstellers vornehmen muß. Das bestätigt aber lediglich, was der 8. Senat des BSG mit dem vorgenannten Urteil schon entschieden hat. Eine rückwirkende Begründung der Mitgliedschaft in dem vom LSG für grundsätzlich ausgeschlossen gehaltenen Sinne stellt dies nicht dar, und zwar auch dann nicht, wenn, wie im Falle des Klägers, der Eintritt der Schwerbehinderung für einen in der Vergangenheit, aber nicht vor der Erklärung des Beitritts liegenden Zeitpunkt festgestellt wird.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1663980

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