Verfahrensgang

Hessisches LSG (Urteil vom 08.11.1995; Aktenzeichen L 3 U 143/95)

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 8. November 1995 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Die Klägerin ist die Tochter des am 14. Dezember 1985 an den Folgen eines im Juli 1985 diagnostizierten Bronchialkarzinoms verstorbenen A. … G. (Versicherter). Die Beteiligten streiten darüber, ob die Erkrankung des Versicherten gemäß § 551 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) wie eine Berufskrankheit (BK) zu entschädigen ist und ob der Klägerin als Rechtsnachfolgerin ihrer während des erstinstanzlichen Verfahrens verstorbenen Mutter, Ehefrau und Rechtsnachfolgerin des Versicherten, von ihm noch zu Lebzeiten im Oktober 1985 beantragte Verletztenrente und die von ihrer Mutter begehrte Hinterbliebenenenrente zusteht.

Der im Jahre 1907 geborene Versicherte war ab dem Jahre 1948 Inhaber eines Tiefbauunternehmens, das er Anfang des Jahres 1973 seinem Schwiegersohn übergab. Danach arbeitete er noch etwa zwei Jahre auf verschiedenen Baustellen, indem er diese beaufsichtigte und notfalls auch selbst Hand anlegte. Nach den Ermittlungen des Technischen Aufsichtsbeamten war er zumindest in den Jahren von 1954 bis 1970 bei Straßenbauarbeiten schätzungsweise insgesamt 3.730 bis 3.840 Stunden den Dämpfen von auf 100 bis 120 Grad C erhitztem Steinkohlenteer ausgesetzt. Bis zum Jahre 1954 wurde bei Straßenbauarbeiten Steinkohlenteer und Bitumenemulsion im Kaltverfahren aufgetragen; etwa im Jahre 1970 wurde Steinkohlenteer durch Bitumen ersetzt.

Der Versicherte, der bis etwa September 1985 täglich ca 10 Zigaretten geraucht hatte, litt seit vielen Jahren an einer chronisch-obstruktiven Bronchitis mit erheblichen Ventilationsstörungen. Sein im Unternehmen schon seit dem Jahre 1961 mitarbeitender Schwiegersohn (Ehemann der Klägerin) war im September 1982 im Alter von 43 Jahren an den Folgen eines Bronchialkarzinoms verstorben. Eine wegen dieses Erkrankungsfalls ua unter dem Gesichtspunkt des § 551 Abs 2 RVO begehrte Entschädigung blieb erfolglos (Bescheide der Beklagten vom 5. September 1983 und 28. März 1984; Urteile des Sozialgerichts ≪SG≫ vom 4. November 1986 – S 8 U 109/84 – und des Hessischen Landessozialgerichts ≪LSG≫ vom 28. Oktober 1992 – L 3 U 47/87 –; Beschluß des Bundessozialgerichts ≪BSG≫ vom 30. Juni 1993 – 2 BU 212/92 –).

Die Beklagte holte ein schriftliches Gutachten vom 9. Juli 1987 der Arbeitsmediziner Prof. Dr. V. … und Priv. Doz. Dr. H. … ein. Diese verneinten einen ursächlichen Zusammenhang zwischen der beruflichen Tätigkeit des Versicherten und dem diagnostizierten Bronchialkarzinom mit der Begründung, es lägen keine epidemiologisch gesicherten Hinweise dafür vor, daß Beschäftigte im Straßenbau einem erhöhten Risiko für Atemwegskarzinome unterlägen. Daß auch Steinkohlenteerprodukte in der MAK-Liste als gesichert krebsgefährdend in der Gruppe A I ausgewiesen seien und schon seit Jahrzehnten teerinduzierte Hautkrebse Bestandteil der BK-Liste seien, besage nichts über ein signifikant häufigeres Auftreten von Bronchialkarzinomen bei Straßenbauarbeitern im Vergleich zur übrigen Bevölkerung.

Demgegenüber vertraten der Landesgewerbearzt Dr. B. … – … in Stellungnahmen vom 24. September 1987 und 26. September 1989 sowie Prof. Dr. W. … im Gutachten vom 6. April 1989 die Auffassung, daß die arbeitsmedizinisch-epidemiologischen Ergebnisse über ein erhöhtes Bronchialkarzinomrisiko von Kokereiarbeitern auch auf die Verhältnisse im Bereich des Straßenbaus bei Verwendung von Steinkohlenteer und Teerbitumen als Bindemittel übertragbar seien. Denn die inhalative Exposition der Teerarbeiter im Straßenbau in den 50er und 60er Jahren mit den im Steinkohlenteer enthaltenen und als stark krebserzeugend angesehenen polyaromatischen Kohlenwasserstoffen (PAH) bzw die Exposition mit Benzo (a) pyren als einer Leitsubstanz für die Gefährdung durch PAH's sei nach neueren Erkenntnissen der Schadstoffanalytik im Wege retrospektiver Risikoabschätzung zumindest mit der Exposition vergleichbar, der Kokereiarbeiter mit Arbeitsplatz an der Ofenseite ausgesetzt seien.

Mit Bescheid vom 28. Mai 1990 idF des Widerspruchsbescheids vom 28. August 1990 lehnte die Beklagte gegenüber der Witwe des Versicherten eine Entschädigung aus Anlaß der Erkrankung ihres Ehemanns an einem Bronchialkarzinom und des darauf zurückzuführenden Todes ab. Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft darüber, daß die Berufsgruppe der im Straßenbau Beschäftigten infolge der in den Teerdämpfen enthaltenen krebserzeugenden Stoffe in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung an einem Bronchialkarzinom erkrankten, hätten weder zu Beginn der Erkrankung des Versicherten vorgelegen noch seien sie heute vorhanden.

Das SG hat die Klage im wesentlichen aus den Gründen der angefochtenen Bescheide abgewiesen (Urteil vom 18. Oktober 1994). Das LSG hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 8. November 1995). Zur Begründung heißt es im wesentlichen: Das Bronchialkarzinom des Versicherten, das die Klägerin ursächlich auf die berufliche Einwirkung von Teerdämpfen bzw von polyaromatischen Kohlenwasserstoffen (PAH) zurückführe, sei weder als BK nach § 551 Abs 1 RVO noch wie eine BK nach § 551 Abs 2 RVO zu entschädigen. Für eine Entschädigung nach § 551 Abs 2 iVm Abs 1 Satz 2 RVO müßten langfristige epidemiologische Untersuchungen mit statistisch relevanten Zahlen für eine Vielzahl von typischen Geschehensabläufen, und zwar speziell und gezielt für die Gruppe der Straßenbauarbeiter vorliegen, aus denen sich mit ausreichender Sicherheit ergebe, daß die besonderen Bedingungen, denen Straßenbauarbeiter ausgesetzt seien, die regelmäßig mit Steinkohlenteer und damit verschnittenem Bitumen arbeiteten, dazu führten, daß diese erheblich häufiger an bösartigen Tumoren der Atemwege bzw an Bronchialkarzinomen erkrankten als der Durchschnitt der Bevölkerung. Außerdem müßten diese Erkenntnisse im maßgeblichen Zeitpunkt der Erkrankung oder des Todes vorgelegen haben. Das sei hier nicht der Fall. Ergebnisse aus statistischen bzw epidemiologischen Untersuchungen, die eine erhöhte Anzahl von bösartigen Tumoren der Atemwege und/oder der Lungen bei Straßenbauarbeitern belegten, habe es im maßgeblichen Zeitpunkt der Erkrankung und des Todes des Versicherten im Jahre 1985 nicht gegeben. Das stehe aufgrund der im vorliegenden Verfahren eingeholten bzw eingereichten Gutachten von Prof. Dr. V. …, Prof. Dr. W. … sowie von Prof. Dr. M. … und der Stellungnahmen des Landesgewerbearztes und des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung (BMA) fest, die den Ermittlungsergebnissen in dem den verstorbenen Ehemann der Klägerin betreffenden Verfahren sowie in weiteren ähnlich gelagerten Verfahren entsprächen. Zwar habe das LSG Niedersachsen mit rechtskräftigem Urteil vom 17. März 1994 (L 3 U 131/92) die Voraussetzungen des § 551 Abs 2 RVO für die Anerkennung des Bronchialkarzinoms eines als Teer- und Bitumenwerker beschäftigten und im Jahre 1986 verstorbenen Versicherten bejaht. Dieser Entscheidung sei jedoch nicht zu entnehmen, daß inzwischen statistische Untersuchungen/epidemiologische Studien speziell für die Personengruppe der Straßenbauarbeiter existierten bzw zwischen den Jahren 1989 und 1991 veröffentlicht worden seien, die anerkanntermaßen ein erheblich gehäuftes Auftreten von Bronchialkarzinomen bei Exposition gegenüber Steinkohlenteer oder damit verschnittenem Bitumen ausreichend sicher belegten.

Mit der – vom LSG zugelassenen – Revision rügt die Klägerin die Verletzung materiellen Rechts. Das Vordergericht stelle unter Verletzung des § 551 Abs 2 RVO und § 2 des Ersten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB I) die zusätzliche Anforderung auf, also über den Nachweis der gemeinsamen höheren Gefährdung einer bestimmten Personengruppe durch die Exposition hinaus, daß der zahlenmäßige Nachweis eines überhäufigen Auftretens von Erkrankungsfällen in der bestimmten Personengruppe der Straßenbauarbeiter unverzichtbar wäre ebenso wie der Nachweis epidemiologischer, langfristiger Untersuchungen für die Gruppe der Straßenbauarbeiter. Die gegenteilige Auffassung verhindere unter Verletzung des § 551 Abs 2 RVO die dort vorgesehene zeitnahe Einzelfallentschädigung sogar in dem Sinne, daß in den ersten Jahren des Auftretens neuer Berufskrankheitsfälle iS des § 551 Abs 2 RVO diese Fälle überhaupt nicht entschädigt würden. Die Entschädigung der ersten Fälle dieser Art werde dann gänzlich unmöglich, wenn man dem Vordergericht folge, die neuen Erkenntnisse müßten sodann noch im Zeitpunkt der Erkrankung vorgelegen haben. Im übrigen habe das LSG in verschiedener – von der Revisionsklägerin näher begründeten – Hinsicht gegen die Amtsermittlungspflicht, ihren Anspruch auf rechtliches Gehör und gegen die Regeln eines fairen Prozesses verstoßen.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Hessischen LSG L 3 U 143/95 vom 8. November 1995, das Urteil des SG Frankfurt/Main vom 18. Oktober 1994, der Bescheid der Beklagten vom 28. Mai 1990 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28. August 1990 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin aus Anlaß der beruflichen Erkrankung des Versicherten A. G. … (Bronchialkarzinom) nach § 551 Abs 2 RVO die seiner verstorbenen Witwe B. … G. … zustehenden Witwenrente und die dem Versicherten zu Lebzeiten zustehende Verletztenrente zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Selbst wenn für eine Anerkennung nach § 551 Abs 2 RVO es genüge, daß zu einem späteren Zeitpunkt neue medizinische Erkenntnisse gewonnen werden könnten, wäre die Revision der Klägerin zurückzuweisen, weil bis heute nicht entsprechende Erkenntnisse vorlägen.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision ist in dem Sinne begründet, daß das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist. Für eine abschließende Entscheidung fehlen noch vom LSG durchzuführende tatsächliche Feststellungen.

Der von der Klägerin als Rechtsnachfolgerin ihrer Mutter und des Versicherten geltend gemachte Entschädigungsanspruch richtet sich auch nach Inkrafttreten des Siebenten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB VII) am 1. Januar 1997 nach den bis dahin geltenden Vorschriften der RVO; denn nach § 212 SGB VII gilt das neue Recht grundsätzlich für Versicherungsfälle, die nach dem 31. Dezember 1996 eingetreten sind, und einer der Ausnahmetatbestände nach §§ 213 ff SGB VII ist nicht gegeben.

Das Bronchialkarzinom, das – wie die Klägerin meint – auf berufliche Einwirkungen von Teerdämpfen bzw polyaromatischen Kohlenwasserstoffen (PAH) zurückzuführen sei, ist in der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung (BKVO) – Liste der Berufskrankheiten – idF der Zweiten Verordnung zur Änderung der BKVO (2. ÄndVO) vom 18. Dezember 1992 (BGBl I 2343) nicht aufgeführt; insbesondere kommt eine Entschädigung als BK aufgrund der durch die vorangegangene ÄndVO vom 22. März 1988 (BGBl I 400) rückwirkend für Versicherungsfälle nach dem 31. Dezember 1976 in die Anlage 1 zur BKVO aufgenommene Nr 4110 („Bösartige Neubildungen der Atemwege und der Lungen durch Kokereirohgase”) nicht in Betracht, da nach den Feststellungen des LSG eine Exposition des Versicherten gegenüber Kokereirohgasen nicht gegeben war. Darüber besteht zwischen den Beteiligten auch kein Streit.

Eine Entschädigung der beim Versicherten festgestellten Bronchialkarzinomerkrankung „wie” eine BK wäre daher nur möglich, wenn die Voraussetzungen des § 551 Abs 2 RVO vorliegen. Nach dieser Vorschrift sollen die Träger der Unfallversicherung im Einzelfall eine Krankheit, auch wenn sie nicht in der BKVO bezeichnet ist oder die dort bestimmten Voraussetzungen nicht vorliegen, wie eine BK entschädigen, sofern nach neuen Erkenntnissen die übrigen Voraussetzungen des § 551 Abs 1 RVO erfüllt sind. Neben einer bestimmten Personengruppe, die in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung durch die berufliche Tätigkeit besonderen Einwirkungen ausgesetzt ist, setzt die Entschädigungspflicht nach § 551 Abs 2 iVm Abs 1 Satz 2 RVO voraus, daß es sich um neue Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft handelt. Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft sind im allgemeinen neu (s Koch in Schulin, Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Band 2, Unfallversicherungsrecht, 1996, § 37 RdNr 13), wenn sie in der letzten Änderung der BKVO noch nicht berücksichtigt sind. Das ist der Fall, wenn die Erkenntnisse erst nach dem Erlaß der letzten Änderung der BKVO gewonnen wurden oder zu diesem Zeitpunkt zwar im Ansatz vorhanden waren, sich aber erst danach zur „BK-Reife” verdichtet haben (BSGE 21, 296, 298; 35, 267, 268; 44, 90, 93 sowie BSG-Urteil vom 14. November 1996 (- 2 RU 9/96 – zur Veröffentlichung vorgesehen). Sind dem Verordnungsgeber medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse iS des § 551 Abs 1 Satz 2 RVO entgangen, und hat er deshalb eine Neufassung der entsprechenden Nummer der Liste überhaupt nicht erwogen, ist § 551 Abs 2 RVO anwendbar (BSG SozR 2200 § 551 Nr 18). Neu sind die Erkenntnisse aber dann nicht mehr, wenn sie den Verordnungsgeber bereits veranlaßt haben, eine BK in die Liste aufzunehmen, oder auch die Bezeichnung der Erkrankung richtigstellend oder erweiternd zu ändern (BSG BG 1967, 75, 76). Entsprechendes gilt, wenn der Verordnungsgeber aufgrund der vorliegenden Ermittlungsergebnisse es bereits abgelehnt hat, den Versicherungsschutz listenmäßig zu erweitern (BSGE 44, 90, 93; BSG SozR 2200 § 551 Nr 18 mwN). Entscheidend ist die BKVO in der jeweils neuesten Fassung (BSGE 44, 90, 94; BSG SozR 2200 § 551 Nr 18). Einer Ablehnung steht nicht gleich das Untätigbleiben des Verordnungsgebers nach Vorliegen neuer Erkenntnisse.

Diese für eine Entschädigung nach § 551 Abs 2 iVm Abs 1 Satz 2 RVO zunächst erforderliche Voraussetzung hat das LSG als nicht erfüllt angesehen. Den hierzu notwendigen tatsächlichen Feststellungen hat es dabei die Rechtsauffassung zugrunde gelegt, daß die neuen Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft im Zeitpunkt der Erkrankung oder zumindest des Todes des Versicherten vorhanden sein müßten. Dieser Rechtsauffassung ist der Senat in seiner bereits erwähnten Entscheidung vom 14. November 1996 (aaO), die nach dem mit der Revision angegriffenen Urteil des LSG ergangen ist, nicht gefolgt. Darin hat er im einzelnen näher begründet, daß der Entschädigungsanspruch nach § 551 Abs 2 RVO nicht voraussetzt, daß die neuen Erkenntnisse bereits im Zeitpunkt der Erkrankung vorliegen müssen; es reicht vielmehr aus, wenn die neuen medizinischen Erkenntnisse im Zeitpunkt der Entscheidung über den Entschädigungsanspruch bestehen. Würde man auf den Erkenntnisstand der Erkrankung des Versicherten – im vorliegenden Fall auf das Jahr 1985 – abstellen, so bedeutete dies in vielen Fällen, daß eine Entschädigung gerade der Erkrankungen, die Anlaß zur Entwicklung des neuen Erkenntnisstands gegeben haben, nicht möglich wäre (Koch in Schulin aaO § 37 RdNr 24). Dieser Rechtsauffassung ist der Gesetzgeber insofern auch gefolgt, als in dem seit dem 1. Januar 1997 geltenden § 9 Abs 2 SGB VII nunmehr ausdrücklich klargestellt ist, daß die neuen Erkenntnisse im Zeitpunkt der Entscheidung vorliegen müssen.

Den besonders auf Seite 17 des angefochtenen Urteils hilfsweise getroffenen Erörterungen des LSG ist nicht mit der für eine abschließende Entscheidung des Revisionsgerichts gebotenen Sicherheit zu entnehmen, ob nach seinen Ermittlungen auch im Zeitpunkt seiner Entscheidung seit Erlaß der letzten ÄndVO zur BKVO weitere neue, wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse über den ursächlichen Zusammenhang zwischen der beruflichen Tätigkeit des Versicherten und des Bronchialkarzinoms gewonnen worden sind. Dies wird das LSG somit festzustellen haben. Maßgebend sind die Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft. Es muß also mit wissenschaftlichen Methoden und Überlegungen zu begründen sein, daß bestimmte Einwirkungen die generelle Eignung besitzen, eine bestimmte Krankheit zu verursachen (s Mehrtens/Perlebach, Die Berufskrankheitenverordnung, Stand Februar 1996, E § 551 RdNr 3.2 S 6c; Giesen ZblArbeitsmed 1993, 39, 48). Derartige Erkenntnisse liegen in der Regel vor, wenn die Mehrheit der medizinischen Sachverständigen, die auf den jeweils in Betracht kommenden Gebieten über besondere Erfahrungen und Kenntnisse verfügen, zu derselben wissenschaftlich fundierten Meinung gelangt ist. Es muß sich um gesicherte Erkenntnisse handeln, dh sie müssen durch Forschung und praktische Erfahrungen gewonnen worden sein. Nicht erforderlich ist, daß diese Erkennisse die einhellige Meinung aller Mediziner sind. Andererseits reichen vereinzelte Meinungen einiger Sachverständiger grundsätzlich nicht aus (BSG-Urteil vom 31. Januar 1984 – 2 RU 67/82 – HVBGB RdSchr VB 53/84; Giesen aaO 48/49). Um die vorliegenden Erkenntnisse zu beurteilen, bedient sich der Verordnungsgeber des Rates von Medizinern, die in der Arbeitsmedizin besonders erfahren sind. Seit dem Jahre 1991 obliegt diese Aufgabe der Sektion „Berufskrankheiten” des Ärztlichen Sachverständigenbeirats beim BMA, deren Aufgabe die medizinisch-wissenschaftliche Beratung des Verordnungsgebers ist (Giesen aaO 45; s BSG SozR 2200 § 551 Nr 27). Förderlich kann daher die Einholung einer sachverständigen Auskunft des BMA und die Beiziehung der Protokolle der letzten Sitzungen des Sachverständigenbeirats für den entscheidenden Zeitraum sein (s Koch aaO RdNr 14), um feststellen zu können, ob wissenschaftliche Erkenntnisse vorliegen und – wenn ja – ob und ggf wann sich die Erkenntnisse zur „BK-Reife” verdichtet haben (s auch BSG-Urteil vom 5. Februar 1980 – 2 RU 63/78 – USK 8032).

Sind den Ermittlungen des LSG zufolge neue medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse iS des § 551 Abs 2 RVO vorhanden, wird es – die von seinem Rechtsstandpunkt zutreffend offengelassenen – weiteren Voraussetzungen für eine Entschädigung nach § 551 Abs 2 iVm Abs 1 RVO festzustellen haben, insbesondere ob im konkreten Fall ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der berufsbedingten Einwirkung von Teerdämpfen und dem Bronchialkarzinom hinreichend wahrscheinlich ist. Sollte sich danach die Frage einer Begrenzung der Rückwirkung stellen, ist insoweit auf die Entscheidung des Senats vom 14. November 1996 – 2 RU 9/96 – zu verweisen.

Die Sache ist deshalb unter Aufhebung des angefochtenen Urteils des LSG zurückzuverweisen. Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1173605

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