Entscheidungsstichwort (Thema)

Krankheitsbegriff bei Krankheiten nach BKVO Anl 1 Nr 5101

 

Leitsatz (amtlich)

Eine Argyrie, die zur Verfärbung der Gesichts- und Halshaut und der Nagelmonde aller Finger ohne organische Schäden der Haut sowie zu Silberstaubeinlagerungen an inneren Organen ohne Funktionsstörungen geführt hat und nicht behandlungsfähig ist, ist auch im Anfangsstadium eine Berufskrankheit nach Nr 5101 der Anlage 1 zur BKVO, wenn der Versicherte wegen der Argyrie seine gefährdende Beschäftigung als Silberpolierer aufgegeben hat.

 

Orientierungssatz

Bei der in Nr 5101 der Anlage 1 zur BKVO bezeichneten Krankheit liegt ein anderer erweiterter Krankheitsbegriff als der regelmäßige der Krankenversicherung zugrunde.

 

Normenkette

RVO § 551 Abs 1 S 1 Fassung: 1963-04-30; BKVO Anl 1 Nr 5101 Fassung: 1976-12-08

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 14.11.1979; Aktenzeichen L 2 Ua 829/79)

SG Ulm (Entscheidung vom 13.02.1979; Aktenzeichen S 4 U 602/78)

SG Ulm (Entscheidung vom 13.02.1979; Aktenzeichen S 4 U 1499/77)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob die beklagte Berufsgenossenschaft (BG) dem an einer Argyrie leidenden Kläger Rente wegen einer Berufskrankheit zu gewähren hat.

Der Kläger war in einer Metallwarenfabrik von 1961 bis 1971 und von 1972 bis Juli 1977 als Silberpolierer, danach bis 1. November 1978 als Bierkrugdeckelfräser und schließlich als Montagearbeiter mit einer Nettolohneinbuße von rd 300,-- DM monatlich beschäftigt. Der Arbeitgeber des Klägers zeigte der BG am 1. Juli 1974 an, daß dieser an einer auf die Beschäftigung als Silberpolierer zurückzuführenden Argyrie leide.

In mehreren fachärztlichen Gutachten (1975/1976) wurde beim Kläger eine Argyrie (Argyrose) der Haut und an inneren Organen mit sehr deutlicher, schiefergraubläulicher Verfärbung der Gesichts- und Halshaut sowie der Nagelmonde an allen Fingern, jedoch ohne organische Schäden der Haut und ohne Funktionsbehinderung an den Innenorganen von Krankheitswert festgestellt; eine schwere Argyrie der Haut an sichtbaren Körperstellen sei mit einer erheblichen kosmetischen Entstellung von Krankheitswert verbunden; das durch die irreversible Argyrie beeinträchtigte körperliche, seelische und soziale Wohlbefinden des Klägers erfordere einen Arbeitsplatzwechsel; die Erwerbsfähigkeit sei um 20 vH gemindert. Ein Ergänzungsgutachten (1976) sprach von neuen Erkenntnissen beim Krankheitsbild der Argyrie auf dem psycho-sozialen Sektor, so daß dieser Krankheit ein erwerbsmindernder Krankheitswert zukomme. In einem weiteren Gutachten (1976) wurde die Meinung vertreten, zwar könne die Argyrie nicht als Berufskrankheit nach der Siebenten Berufskrankheitenverordnung (7. BKVO) anerkannt werden, obwohl seit Jahrzehnten auf die entstellenden Hautveränderungen mit psychischen Auswirkungen hingewiesen worden sei; dennoch werde eine Entschädigung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 20 vH vorgeschlagen. Nach einer Auskunft des Hauptverbandes der gewerblichen Berufsgenossenschaften (1976) ist die Aufnahme der Argyrie in die Liste der Berufskrankheiten zwar vorrangig dahin erörtert worden, ob entstellende Hautveränderungen ohne erwerbsmindernde Organbefunde eine Unfallrente rechtfertigten, jedoch sollen versicherungsrechtliche Bedenken dem entgegengestanden haben. Ergänzend hat der Hauptverband (1977) mitgeteilt, ihm seien keine neuen Erkenntnisse hinsichtlich einer Beeinträchtigung des seelischen Wohlbefindens bekannt geworden.

Die BG lehnte es ab, die Argyrie als Berufskrankheit gemäß § 551 Abs 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) anzuerkennen und zu entschädigen (Bescheid vom 26. Oktober 1977). Mit einem weiteren Bescheid vom selben Tage verneinte die BG auch eine Entschädigung nach § 551 Abs 2 RVO, weil hinsichtlich Art und Auswirkung der Argyrie keine neuen Erkenntnisse vorlägen. Der hiergegen eingelegte Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 13. April 1978).

Das Sozialgericht (SG) Ulm hat die gegen beide Bescheide erhobenen Anfechtungs- und Leistungsklagen miteinander verbunden und die Beklagte verurteilt, die Argyrie nach Nr 46 der 7. BKVO als Berufskrankheit anzuerkennen und ab 1. November 1978 Rente nach einer MdE von 20 vH zu gewähren; im übrigen hat es die Klage abgewiesen (Urteil vom 13. Februar 1979).

Das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg hat das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 14. November 1979). Es hat die Rentenansprüche des Klägers sowohl nach § 551 Abs 1 als auch nach Abs 2 RVO verneint.

Mit der zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 551 Abs 1 und 2 RVO.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des LSG aufzuheben und die

Berufung der Beklagten gegen das Urteil

des SG zurückzuweisen,

hilfsweise:

den Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und

Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist begründet. Die vorinstanzlichen Urteile sind teilweise aufzuheben. Der Rechtsstreit ist zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Der Anspruch des Klägers, ihm wegen einer Berufskrankheit nach § 551 Abs 1 RVO iVm der BKVO vom 20. Juni 1968 (BGBl I S 721), geändert durch Verordnung vom 8. Dezember 1976 (BGBl I S 3329) und Nr 5101 der Anlage 1 zur BKVO Rente wegen MdE (Verletztenrente) nach § 22 Abs 1 Nr 3 des Sozialgesetzbuches - Allgemeiner Teil - (SGB 1), §§ 580 ff RVO zu gewähren, ist dem Grunde nach berechtigt. Damit erübrigt es sich, auf den von ihm ebenfalls verfolgten, jedoch der Sache nach davon zu unterscheidenden Anspruch auf Entschädigung nach § 551 Abs 2 RVO einzugehen. Nach § 551 Abs 2 RVO sollen die Träger der Unfallversicherung im Einzelfalle eine Krankheit, auch wenn sie nicht in der Rechtsverordnung bezeichnet ist oder die dort bestimmten Voraussetzungen nicht vorliegen, wie eine Berufskrankheit entschädigen, sofern nach neuen Erkenntnissen die übrigen Voraussetzungen des Abs 1 des § 551 RVO erfüllt sind. Die Argyrie, an der der Kläger leidet, ist nämlich entgegen der Auffassung der Beklagten in der Anlage 1 zur BKVO "bezeichnet"; die dort bestimmten Voraussetzungen liegen vor, auch wenn die Argyrie als Hauterkrankung in der Anlage 1 zur BKVO nicht besonders aufgeführt ist.

Die BKVO iVm Nr 5101 der Anlage 1 ist deshalb auf den Fall des Klägers anzuwenden, weil der Kläger eine Entschädigung nach einer MdE von 20 vH ab 1. November 1978 begehrt und dieser Zeitpunkt jedenfalls nach dem Inkrafttreten dieser Vorschrift (1. Januar 1977) und der Aufgabe der Beschäftigung des Klägers als Silberpolierer liegt. Nr 5101 der Anlage 1 zur BKVO setzt - abgesehen von den Besonderheiten der in Nr 5101 der Anlage 1 zur BKVO bezeichneten Krankheiten - nach dem freilich unscharfen Wortlaut des § 1 BKVO eine Krankheit voraus, "die ein Versicherter bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 der Reichsversicherungsordnung genannten Tätigkeiten erleidet", womit jedoch eine Krankheit gemeint ist, die ein gem §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO Versicherter infolge einer versicherten Beschäftigung oder Tätigkeit (§ 7 SGB 4) erleidet (vgl zur unscharfen Gesetzesfassung: BSGE 48, 224, 225 f; Urteil des erkennenden Senats vom 27. November 1980 - 8a RU 84/79 -, zur Veröffentlichung bestimmt).

Der Kläger war gem § 539 Abs 1 Nr 1 RVO als Silberpolierer und damit als Arbeiter aufgrund eines Arbeitsvertrages in dem Unternehmen seines Arbeitgebers beschäftigt (§ 7 Abs 1 SGB 4). Infolge seiner Beschäftigung als Silberpolierer zog er sich eine Argyrie der Haut und an den inneren Organen zu; die Gesichts- und Halshaut und die Nagelmonde aller Finger verfärbten sich sehr deutlich schiefergraubläulich, wenngleich organische Schäden der Haut und Funktionsbehinderungen an den Innenorganen von Krankheitswert nicht festgestellt wurden. Wenn auch organische Schäden der Haut und eine Funktionsbehinderung an den inneren Organen von Krankheitswert nicht festgestellt werden konnten, ist es dennoch nicht zweifelhaft, daß diese Befunde bereits aus medizinischer Sicht als Krankheit zu gelten haben, weichen sie doch von den Regelbefunden eines gesunden Menschen ab. Die aus medizinischer Sicht vorhandene Krankheit ist jedoch, wie dies sonst als Voraussetzung für eine Berufskrankheit nach § 1 BKVO zu fordern ist, keine Krankheit iS der gesetzlichen Krankenversicherung. Die gesetzliche Krankenversicherung versteht als Krankheit einen regelwidrigen Körper- und/oder Geisteszustand, der eine ärztliche Heilbehandlung oder zugleich oder allein Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat (vgl zB BSGE 33, 202, 203; Krauskopf/Schroeder-Printzen, Soziale Krankenversicherung, 2. Aufl Stand: Januar 1981, § 182 Anm 2.1 mwN). Die Argyrie als regelwidriger Körperzustand ist nicht behandlungsfähig. Die Silberstaubeinlagerungen in der Haut und an den inneren Organen haben die Eigenart, daß sie auch nach der Aufgabe der schädigenden Beschäftigung des Klägers als Silberpolierer unverändert geblieben, jedoch einer ärztlichen Heilbehandlung nicht zugänglich sind. Erst recht hat die Argyrie des Klägers in ihrem jetzigen Stadium keine Arbeitsunfähigkeit zur Folge. Wenn auch aus diesen Gründen eine Krankheit iS der Krankenversicherung, wie dies regelmäßig Voraussetzung für die Annahme einer Berufskrankheit iS des § 1 BKVO ist, nicht besteht, darf nicht außer acht gelassen werden, daß bei der in Nr 5101 der Anlage 1 zur BKVO bezeichneten Krankheit ein anderer erweiterter Krankheitsbegriff als der regelmäßige der Krankenversicherung, wie er oben dargestellt worden ist, zugrunde liegt. Das folgt bereits aus dem Wortlaut der in Nr 5101 der Anlage 1 zur BKVO bezeichneten Hautkrankheit: "Schwere oder wiederholt rückfällige Hauterkrankungen, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können". Die Argyrie ist eine solche Hauterkrankung. Der Kläger hat sich diese Hauterkrankung deshalb zugezogen, weil er als Silberpolierer beschäftigt war; die Beschäftigung des Klägers war also ursächlich für die Entstehung der Argyrie. Der Kläger mußte seine Beschäftigung als Silberpolierer aufgeben, um ein Fortschreiten der Hautkrankheit mit durchaus denkbarer erheblicher körperlicher Schädigung und dauernder Arbeitsunfähigkeit zu vermeiden. Eine solche Hautkrankheit, die nach aller Voraussicht bei fortdauernder schädigender Beschäftigung als Silberpolierer zu erheblichen Körperschäden führen wird, ist ihrer Art nach zugleich eine schwere Hautkrankheit. Es würde der von dem Grundgedanken der Prävention und Rehabilitation geprägten Definition der Hautkrankheit der Nr 5101 der Anlage 1 zur BKVO widersprechen, wenn eine solche Krankheit, die eindeutig zur Aufgabe der bisherigen schädigenden Beschäftigung gezwungen hat, nur deshalb der Charakter einer schweren Hauterkrankung abgesprochen würde, weil die Hauterkrankung alsbald nach ihrer Entstehung erkannt worden ist und der Betroffene seine schädigende Beschäftigung aufgegeben hat, um - was durchaus sinnvoll ist - schwerwiegendere körperliche Schäden für die Zukunft zu vermeiden.

Ob allerdings dem Kläger eine Rente aufgrund der Berufskrankheit nach Nr 5101 der Anlage 1 zur BKVO zuzuerkennen ist, hängt davon ab, ob eine rentenberechtigende MdE festgestellt werden kann. Das LSG hat hierzu von seinem Rechtsstandpunkt aus nichts festgestellt. Es wird die fehlenden Feststellungen nachzuholen haben. Dafür ist es erforderlich, das gesamte Gebiet des Erwerbslebens zugrunde zu legen (BSGE 39, 49), wobei denkbare Auswirkungen einer kosmetischen Entstellung auf dem gesamten Arbeitsmarkt mit zu beachten sind. Hierfür wird neben der Vernehmung medizinischer Sachverständiger auch diejenige eines berufskundlichen Sachverständigen notwendig sein.

Die Entscheidung über die Kosten mit Einschluß der Kosten des Revisionsverfahrens bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

BSGE, 251

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