Beteiligte

Klägerin und Revisionsklägerin

Beklagte und Revisionsbeklagte, Beigeladene: 1)… 2)… 3)… 5)… 6)… 7)…

 

Tatbestand

I.

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Klägerin Sozialversicherungsbeiträge für sog. Auslösungen nachzuentrichten hat, die sie im Jahre 1972 auswärts beschäftigten ledigen Arbeitnehmern wegen "doppelter Haushaltsführung" gezahlt hat; der Rechtsstreit beschränkt sich im Revisionsverfahren auf die den Beigeladenen zu 6) und 7) gezahlten Auslösungen, nachdem das Landessozialgericht (LSG) ein entsprechend beschränktes Teilurteil erlassen hat.

Die Klägerin zahlte den von ihr auswärts ein gesetzten ledigen Arbeitnehmern neben dem Stundenlohn Auslösungen zum Ausgleich des zusätzlichen Übernachtungs- und Verpflegungsaufwandes (nach Ablauf von 3 Monaten 5 bzs. 11 DM je Kalendertag), soweit sie der Klägerin schriftlich bestätigt hatten, daß sie während der Dauer ihrer auswärtigen Beschäftigung eine weitere, mit eigenen Möbeln ausgestattete Wohnung beibehielten. Zu diesen Arbeitnehmern gehörten auch die Beigeladenen zu 6) und 7). Der Beigeladene zu 6) hatte während der fraglichen Zeit seinen ersten Wohnsitz bei seiner Mutter in B …, arbeitete aber in der Nähe von H … und hatte dort auch ein möbliertes Zimmer. Der Beigeladene zu 7) war mit dem ersten Wohnsitz im Hause seiner Mutter im Landkreis T … (Oberbayern) gemeldet, seine regelmäßige Arbeitsstätte lag 1972 jedoch im Großraum H …, wo er auch ein Zimmer bewohnte.

Nach einer im Januar 1974 durchgeführten Betriebsprüfung forderte die Beklagte mit Bescheiden vom 28. Januar und 12. Februar 1974 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Mai 1974 von der Klägerin für die im Jahre 1972 an alle ihre ledigen Arbeitnehmer gezahlten Auslösungen Sozialversicherungsbeiträge in Höhe von 81.738,76 DM nach. Zur Begründung verwies sie darauf, daß der Bundesfinanzhof (BFH) im November 1971 seine Rechtsprechung geändert habe und seitdem eine doppelte Haushaltsführung nur noch annehme, wenn der auswärts Beschäftigte in der elterlichen Wohnung nicht nur ein Zimmer beibehalte, sondern einen eigenen Hausstand unterhalte, in dem auch während seiner Abwesenheit hauswirtschaftliches Leben herrsche. Diese Grundsätze seien auch für die beitragsrechtliche Beurteilung der Auslösungen maßgebend. Da die Beigeladenen zu 6) und 7) nicht gleichzeitig zwei Wohnungen hauswirtschaftlich unterhalten hätten, seien auch die an sie gezahlten Auslösungen nicht als Aufwendungsersatz steuer- und beitragsfrei gewesen. Daß das zuständige Finanzamt für die Auslösungen erst seit 1974 Steuern erhoben habe, binde die Sozialversicherungsträger nicht.

Das Sozialgericht Hamburg (SG) hat die Klage mit Urteil vom 26. Mai 1978 abgewiesen; die Berufung ist ohne Erfolg geblieben (Urteil des LSG Hamburg vom 6. Juni 1979). Das LSG hat ausgeführt: Bei Berücksichtigung der Rechtsprechung des BFH und der Lohnsteuer-Richtlinien vom 18. November 1971 (BStBl. I 1971, 445) seien die Beigeladenen zu 6) und 7) nicht als Inhaber zweier Haushalte anzusehen. Die Klägerin habe auch die Änderung der rechtlichen Beurteilung in der Rechtsprechung und in den Verwaltungsvorschriften erkennen können. Die Beklagte sei nicht verpflichtet gewesen, die Klägerin darüber hinaus besonders über die geänderte Rechtsprechung des BFH zu unterrichten. Schließlich habe auch die bisherige Verwaltungspraxis der Beklagten und des für die Klägerin zuständigen Finanzamtes keinen Vertrauenstatbestand zugunsten der Klägerin geschaffen.

Gegen dieses Urteil richtet sich die - vom LSG zugelassene - Revision der Klägerin. Sie meint, die Beklagte verstoße gegen Treu und Glauben, wenn sie rückwirkend von einer über lange Zeit geübten Verwaltungspraxis abweiche. Überdies sei sie - wie andere kleine und mittlere Unternehmen - außerstande gewesen, alle Änderungen der Rechtsprechung zu verfolgen und sofort zu beachten.

Die Klägerin beantragt,

das Teilurteil des LSG Hamburg vom 6. Juni 1979 und die Bescheide der Beklagten vom 28. Januar und 12. Februar 1974 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Mai 197 aufzuheben.

Die Beklagte und die Beigeladenen zu 1) und 2) beantragen,

die Revision zurückzuweisen.

Sie halten das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beigeladenen zu 6) und 7) sind im Revisionsverfahren nicht vertreten.

Alle Beteiligten, auf die sich das angefochtene Teilurteil des LSG bezieht (Klägerin, Beklagte, Beigeladene zu 1, 2, 6 und 7), haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-) einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision der Klägerin ist begründet. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben und der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen. Der Senat kann noch nicht abschließend darüber entscheiden, ob und inwieweit die von der Klägerin den Beigeladenen zu 6) und 7) im Jahre 1972 gezahlten Auslösungen zum beitragspflichtigen Arbeitsentgelt gehören.

Bemessungsgrundlage für die Beiträge zur Krankenversicherung, zur Rentenversicherung und zur B … für A … (BA) ist das von dem versicherungspflichtigen Arbeitnehmer im Erhebungszeitraum bezogene "Arbeitsentgelt" (§§ 180 Abs. 1 Satz 2, 385 Abs. 1 Satz 1, 1385 Abs. 3 Buchst a Reichsversicherungsordnung -RVO-; § 175 Abs. 1 Nr. 1 Arbeitsförderungsgesetz -AFG-) Was dabei zum beitragspflichtigen Arbeitsentgelt gehört, richtete sich während der hier fraglichen Zeit noch danach, welche Bezüge nach dem jeweils gültigen Einkommen (Lohn) steuerrecht steuerpflichtig waren (Gemeinsamer Erlaß des Reichsministers der Finanzen und des Reichsarbeitsministers betr. weitere Vereinfachung des Lohnabzugs vom 10. September 1944, RABl II, 281, inzwischen aufgehoben durch Art 2 § 21 Abs. 1 Nr. 4 Sozialgesetzbuch 4 -SGB 4- vom 23. Dezember 1976, BGBl I 3845, und ersetzt durch eine eigenständige Regelung des Sozialversicherungsrechts, vgl. §§ 14ff. SGB 4). Auch für die Beitragspflicht der hier streitigen Auslösungen waren deshalb die seinerzeit gültigen steuerrechtlichen Vorschriften maßgebend.

In das Einkommensteuergesetz (EStG) wurde erstmals im Jahre 1966 bei der Regelung der Werbungskosten (§ 9) eine Vorschrift eingefügt, nach der notwendige Mehraufwendungen, die einem Arbeitnehmer aus Anlaß einer doppelten Haushaltsführung entstehen, als Werbungskosten abzugsfähig sind. Dabei liegt eine doppelte Haushaltsführung dann vor, "wenn der Arbeitnehmer außerhalb des Ortes, in dem er einen eigenen Hausstand unterhält, beschäftigt ist und auch am Beschäftigungsort wohnt" (§ 9 Abs. 1 Nr. 5 Satz 2 EStG in der bis heute nicht geänderten Fassung des Gesetzes vom 23. Dezember 1966, BGBl I 702). Eine ähnliche Regelung hatten schon früher die Lohnsteuer-Richtlinien (LStR) enthalten. Für diese hatte der BFH in einem Urteil vom 11. August 1961 entschieden, daß ein auswärts beschäftigter alleinstehender (lediger) Arbeitnehmer einen "eigenen Hausstand" am bisherigen Wohnort auch dann unterhalte, wenn er dort eine Wohnung mit eigener Möbelausstattung besitze; einen Haushalt im eigentlichen Sinne brauche er dort nicht zu führen (BStBl III 1961, 509 = BFHE 73, 669). In einem späteren Urteil vom 4. August 1967 zu § 9 Nr. 4 EStG 1961 (Aufwendungen des Arbeitnehmers für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte) hatte der BFH allerdings entschieden, daß ein Lediger, der am Beschäftigungsort ein möbliertes Zimmer bewohnte, in der Regel nur dort seine Wohnung habe, also für Wochenendbesuchsfahrten zu seiner Mutter keine Werbungskosten geltend machen könne (BStBl III 1967, 727). Auf diese Entscheidung war auch schon in den LStR in der Fassung vom 11. April 1968 (BStBl I 1968, 587) im Zusammenhang mit Bestimmungen über die Steuerfreiheit von Auslösungen bei privaten Arbeitnehmern hingewiesen worden (Abschnitt 22 Abs. 4 letzter Satz). Dennoch war die frühere Entscheidung des BFH vom Jahre 1961 zunächst unberührt beblieben (und wurde auch im Verhältnis der Klägerin zur Finanzverwaltung weiter angewendet). Eine Änderung brachten erst zwei Urteile des BFH vom November 1971. So entschied der BFH am 9. November 1971, daß ein Arbeitnehmer einen eigenen Hausstand i.S. des § 9 Abs. 1 Nr. 5 EStG nur dann unterhalte, wenn er eine Wohnung besitze, deren Einrichtung seinen Lebensbedürfnissen entspreche und in der hauswirtschaftliches Leben herrsche, an dem sich der Arbeitnehmer sowohl finanziell als auch durch seine persönliche Mitwirkung maßgeblich beteilige (BStBl II 1972, 148). In einem weiteren Urteil vom 19. November 1971 gab der BFH auch ausdrücklich die im Urteil vom 11. August 1961 vertretene Rechtsauffassung auf; bei der früheren Entscheidung sei verkannt worden, daß eine doppelte Haushaltsführung nicht nur den Besitz, sondern das "Unterhalten" eines eigenen Hausstandes voraussetze (BStBl II 1972, 155, 156f.= BFHE 103, 533; ebenso später Urteile vom 3. Dezember I974 BStBl II 1975, 356, 357, und vom 23. Juli 1976, BStBl II 1976, 795, 796).

Seit diesen Urteilen des BFH vom November 1971 war die Frage der Lohnsteuerpflicht von Auslösungen, die an auswärts beschäftigte ledige Arbeitnehmer gezahlt werden, rechtlich geklärt, und zwar in dem Sinne, daß solche Auslösungen dann nicht wegen doppelter Haushaltsführung lohnsteuerfrei sind, wenn die (am Beschäftigungsort in einem möblierten Zimmer wohnenden) Arbeitnehmer an ihrem bisherigen Wohnort keinen mit hauswirtschaftlichen Leben erfüllten Haushalt führen, wie dies bei Ledigen die Regel ist und auch für die Beigeladenen zu 6). und 7) zutraf (vgl. auch die LStR 1975 vom 25. Juli 1975, BStBl I 1975, 795, Abschnitt 27 Abs. 4 und 5). Gleichwohl hat das für die Klägerin örtlich zuständige Finanzamt die neue Rechtsprechung des BFH erst vom Jahre 1974 an angewendet und daher auch erst von diesem Jahre an für die streitigen Auslösungen Lohnsteuer erhoben. Welche Gründe dafür maßgebend gewesen sind, hat das LSG nicht festgestellt und auch für unerheblich gehalten, weil es den Entscheidungen der Steuerbehörden über die Versteuerung bestimmter Bezüge "keine präjudizielle, allenfalls eine indizielle Bedeutung" für die Erhebung von Sozialversicherungsbeiträgen beigemessen hat. Von den Sozialversicherungsträgern sei die Frage der Steuer- und damit der Beitragspflicht der jeweiligen Bezüge selbständig zu prüfen; diese Prüfung habe in dem angefochtenen Bescheid der Beklagten zutreffend zu dem Ergebnis geführt, daß von den streitigen Auslösungen schon für das Jahr 1972 Beiträge zu entrichten seien. Dieser Auffassung kann der Senat nur zum Teil folgen.

Richtig ist allerdings, daß die Entscheidungen der Steuerbehörden darüber, ob und welche einem Arbeitnehmer zugeflossenen Bezüge der Lohnsteuerpflicht unterliegen, für die Träger der Sozialversicherung (und im Streitfall auch für die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit) bei Prüfung der Beitragspflicht der Bezüge nicht verbindlich sind. Das galt auch unter der Herrschaft des schon genannten Gemeinsamen Erlasses vom 10. September 1944 (vgl. BSGE 3, 30, 41; 20, 6, 10; 45,244, 245). Eine Verbindlichkeit von Entscheidungen der Steuerbehörden für die Träger der Sozialversicherung hätte zwar, entsprechend den Absichten des Gemeinsamen Erlasses, den Beitragseinzug weiter vereinfacht; andererseits wären dadurch jedoch Belange der Sozialversicherung gefährdet worden, weil sich hier - anders als im Steuerrecht der Fiskus und die Steuerpflichtigen - nicht nur die Versichertengemeinschaft und die einzelnen Beitragspflichtigen gegenüberstehen, sondern auch Interessen derjenigen zu berücksichtigen sind, die durch eine Entrichtung von Beiträgen unmittelbar begünstigt werden. Das gilt besonders für die Rentenversicherung, soweit dort erstmit der Entrichtung von Beiträgen bestimmte individuelle Anwartschaften auf spätere Leistungen begründet werden (vgl. BSGE 17, 173, 176; 21, 52, 55ff.). Eben wegen dieser besonderen Drittinteressen hat das Bundessozialgericht (BSG) eine Nachforderung von rückständigen Beiträgen, solange sie noch nicht verjährt sind, jedenfalls in der Rentenversicherung grundsätzlich für zulässig erklärt (BSGE 25, 34, 37). Das bedeutet indessen nicht, daß nicht auch hier eine nachträgliche Forderung von noch nicht verjährten Beiträgen nach Treu und Glauben ausgeschlossen sein kann. Die Vorschrift in § 242 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB), wonach ein Schuldner die Leistung nur so zu erbringen braucht, wie Treu und Glauben es erfordern, enthält einen allgemeinen Rechtsgrundsatz, der auch im öffentlichen Recht und damit auch im Beitragsrecht der Sozialversicherung gilt (vgl. BSGE 17 173, 175f.; 21, 52, 55; 47, 194, 196).

Rechtsprechung und Schrifttum zum Steuerrecht haben aus dem genannten Grundsatz - unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes für die Steuerpflichtigen - bestimmte Einschränkungen bei der Nachforderung von noch nicht verjährten Steuern abgeleitet (vgl. Komm zur Reichsabgabenordnung, 1. bis 6. Aufl., Stand Oktober 1974, § 223 AO Erl III Buchst d = RdZiff. 9; Kühn-Kutter, AO 1977. 13. Aufl., Anhang zu § 4 und 5). So hat insbesondere der BFH in ständiger Rechtsprechung eine gegen Treu und Glauben verstoßende Steuernachforderung "de jure" für unzulässig gehalten und einen Vertrauensschutz für den Steuerpflichtigen "dann anerkannt, wenn die Verwaltung über einen längeren Zeitraum hin ein Verhalten gezeigt hat, durch das beim Steuerpflichtigen der Glaube erweckt worden ist, die Behandlung des Steuerfalles entspreche dem Recht, die Verwaltung jedoch nachträglich ihr Verhalten bei gleichgebliebenem Sachverhalt geändert hat"; das gelte auch im Falle einer Änderung der Rechtsauffassung (Urteil vom 15. Dezember 1964, BStBl III 1965, 127 = BFHE 81, 353 m.w.N.; vgl. ferner Urteil vom 2. Februar 1966, BStBl III 1966, 175 = BFHE 84, 483 und Hübschmann-Hepp-Spitaler a.a.O.). In dem angeführten Urteil vom 15. Dezember 1964 hat der BFHE weiter entschieden, daß der Vertrauensschutz bei gleichgebliebener Sach- und Rechtslage bis zu dem Zeitpunkt bestehe, zu dem dem Steuerpflichtigen von zuständiger Seite eine Änderung des Verhaltens der Verwaltung bekanntgegeben werde. Ein Vertrauensschutz sei erst dann nicht mehr erforderlich und gerechtfertigt, wenn der Steuerpflichtige sich auf das bisherige Verhalten oder die bisherige Auffassung der Verwaltung nicht mehr verlassen könne. Dies sei hoch nicht der Fall, wenn er lediglich (z.B. über einen Betriebsprüfer) von Zweifeln der Verwaltung an der bisherigen Praxis Kenntnis erhalte. Erst wenn die Verwaltung infolge der bestehenden Zweifel ihre Auffassung geändert und dies dem Steuerpflichtigen mitgeteilt habe, entfalle dessen Vertrauensschutz (zu der weiteren Frage, ob der Steuerpflichtige selbst zur Klärung von Zweifeln, z.B. durch Rückfragen, beizutragen habe, vgl. das Urteil des BFH vom 1. Februar 1972, BFHE 105, 202, 208 und Hübschmann-Hepp-Spitaler a.a.O.).

Ob diese im Steuerrecht entwickelten Rechtsgrundsätze für die Träger der Sozialversicherung, solange sich die Beitragserhebung noch nach dem Gemeinsamen Erlaß vom 10. September 1944 richtete, schon deshalb maßgebend waren, weil nach diesem Erlaß die Beiträge grundsätzlich von demselben Betrag wie die Lohnsteuer zu berechnen waren, die Lohnsteuer aber nur in Anwendung der im Steuerrecht anerkannten Rechtsgrundsätze berechnet werden konnte, läßt der Senat unentschieden. Selbst wenn die Versicherungsträger auch unter der Geltung des Gemeinsamen Erlasses das Recht gehabt haben sollten, die besonderen Belange der Sozialversicherung nicht nur, wie ausgeführt, gegenüber den ergangenen Entscheidungen der Steuerbehörden, sondern auch gegenüber den im Steuerrecht entwickelten Rechtsgrundsätzen zu wahren und deshalb von diesen Grundsätzen bei der Nachforderung von Beiträgen abzuweichen, besteht nach Ansicht des Senats im vorliegenden Zusammenhang kein Anlaß zu einer solchen Abweichung.

Auch im Beitragsrecht der Sozialversicherung erfordern Treu und Glauben, daß die Beitragspflichtigen - hier in der Regel die für die Beitragsberechnung und -abführung "in Dienst genommenen" Arbeitgeber (BSGE 41, 297) - nicht für eine zurückliegende Zeit mit einer Beitragsnachforderung überrascht werden, die in Widerspruch steht zu dem vorangegangenen Verhalten der Verwaltung, auf dessen Rechtmäßigkeit sie vertraut hatten und vertrauen durften. Das gleiche gilt bei Änderungen einer höchstrichterlichen Rechtsprechung, von deren Maßgeblichkeit bisher nicht nur die Einzugsstellen der Beiträge, sondern auch die Beitragspflichtigen, insbesondere die selbst abrechnenden Arbeitgeber, ausgegangen waren und die sie deshalb ihrer Beitragsentrichtung zugrunde gelegt hatten. Hatte sich vor einer solchen Änderung (bei der im übrigen im Interesse der Rechtssicherheit, der Gleichbehandlung und des Vertrauensschutzes Zurückhaltung geboten ist, BSGE 40, 292, aufgrund der bisherigen Rechtsprechung schon ein festes Gewohnheitsrecht gebildet, so wirkt die neue

Rechtsprechung nur in die Zukunft (BGHZ 18, 81, 82). Aber auch wenn ein Gewohnheitsrecht noch nicht entstanden war, kann die geänderte Rechtsprechung nicht ohne weiteres auch auf Sachverhalte und Rechtsverhältnisse angewendet werden, die abgeschlossen in der Vergangenheit liegen und daher noch nach den Grundsätzen der bisher maßgebend gewesenen Rechtsprechung abgewickelt worden sind.

Betrifft die Änderung der Rechtsprechung allerdings nicht das Beitrags-, sondern das Leistungsrecht der Sozialversicherung und hat der Berechtigte - gemessen an der neuen Rechtsprechung - zu wenig Leistungen erhalten, so müssen ihm die (wie sich später herausgestellt hat) zu Unrecht vorenthaltenen Leistungen nachgezahlt werden, Das folgt aus dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, der ihr die Verpflichtung auferlegt, den gesetzmäßigen Zustand möglichst auch für die Vergangenheit herzustellen. Dieser Verpflichtung kann sich die Verwaltung nicht mit der Begründung entziehen, daß sie im Zeitpunkt der Erbringung der Leistungen (oder ihrer Ablehnung) im Vertrauen auf die Richtigkeit der früheren Rechtsprechung gehandelt habe. Der Gedanke des Vertrauensschutzes, sofern er Überhaupt zugunsten der öffentlichen Verwaltung anwendbar ist, muß jedenfalls hinter der vorrangigen Pflicht der Verwaltung zum gesetzmäßigen Handeln zurücktreten. Das gilt im Leistungsrecht der Sozialversicherung selbst dann, wenn ein Bescheid über die seinerzeit abgelehnten oder zu niedrig festgesetzten Leistungen inzwischen bindend geworden ist. Auch in diesem Fall muß die Verwaltung auf einen Neufeststellungsantrag hin (vgl. z.B. §§ 627, 1300 RVO) die Leistungen unter Berücksichtigung der geänderten Rechtsprechung neu feststellen (BSGE 26, 89, 91f.; 36, 120, 122f; für das allgemeine Verwaltungsrecht vgl. BVerwGE 17, 256; 28, 122).

Betrifft die Änderung der Rechtsprechung das Beitragsrecht dann ist zu unterscheiden, ob die Änderung den Bürger im Verhältnis zur Verwaltung begünstigt oder belastet. Hat er mehr Beiträge gezahlt , als er nach der geänderten Rechtsprechung hätte zahlen müssen, so sind ihm die Überzahlten Beiträge, um den gesetzmäßigen Zustand herzustellen, von der Verwaltung grundsätzlich zu erstatten. Eine Ausnahme gilt allerdings im Interesse der Rechtssicherheit für den Fall, daß über die gezahlten Beiträge ein bindender Bescheid vorliegt; die Vorschriften über die Neufeststellung von Leistungen sind insoweit nicht anwendbar (vgl. BSG Urteile vom 28. Mai und vom 26. Juni 1980, 5 Rkn 21/79 und 5/78).

Sind umgekehrt zu wenig Beiträge gezahlt worden, so erfordert die Herstellung des gesetzmäßigen Zustandes an sich, daß die fehlenden Beiträge nachgezahlt werden. Dagegen spricht jedoch, daß der Bürger die zu niedrigen Beiträge im Vertrauen auf die Autorität einer höchstrichterlichen Entscheidung entrichtet hat. In diesem Konflikt zwischen der Forderung nach Gesetzmäßigkeit der Verwaltung auf der einen Seite und dem Bedürfnis nach Vertrauensschutz des Bürgers auf der anderen Seite verdient der Gedanke des Vertrauensschutzes jedenfalls dann den Vorzug, wenn die Herstellung des gesetzmäßigen Zustandes für den Bürger mit Nachteilen verbunden wäre, die über die bloße Herstellung des gesetzmäßigen Zustandes hinausgehen. Das wird aber in der Regel für einen Arbeitgeber zutreffen, der Beiträge für eine länger zurückliegende Zeit nachzuzahlen hätte. Da er dann den Beitragsanteil der Arbeitnehmer meist nicht mehr von deren Lohn einbehalten könnte, schon weil sie inzwischen häufig aus dem Betrieb ausgeschieden sein werden (vgl. §§ 394f., 1397 RVO), müßte er ihn aus eigenen Mitteln tragen. Auch die Vorteile, die dadurch wiederum den Arbeitnehmern, vor allem für ihre Rentenversicherung, entstehen, ändern nichts an der überproportionalen Belastung, die für den Arbeitgeber mit der Beitragsnachzahlung verbunden wäre, und rechtfertigen daher nicht, ihm den Vertrauensschutz zu entziehen. Das gilt jedenfalls dann, wenn er bei der früheren, zu niedrigen Beitragsentrichtung nicht einer unrichtigen Auskunft einer einzelnen Einzugsstelle (vgl. BSGE 21, 52), sondern dem Urteil eines obersten Gerichts vertraut hatte.

Gegen eine rückwirkende Anwendung einer geänderten höchstrichterlichen Rechtsprechung zu Lasten der beitragspflichtigen Arbeitgeber spricht auch, daß die Änderung der Rechtsprechung für die Betroffenen hier praktisch wie eine Änderung des Rechts wirkt. Eine Rechtsänderung würde aber einem - sogar verfassungsrechtlichen - Rückwirkungsverbot unterliegen (daß Gesetze, die dem Bürger neue oder höhere Leistungspflichten auferlegen, aus Gründen des Vertrauensschutzes nicht zurückwirken dürfen, hat das Bundesverfassungsgericht wiederholt entschieden, vgl. BVerfGE 19, 187, 195; 22, 330, 347; 30, 272, 285; Leibholz-Rinck, Grundgesetz, 6. Aufl., Art 20 Anm. 46ff., jeweils m.w.N.). Da dieses Rückwirkungsverbot ebenfalls aus dem Gedanken des Vertrauensschutzes entwickelt worden ist, erscheint es nur folgerichtig, den Betroffenen im Falle einer sie belastenden Änderung einer höchstrichterlichen Rechtsprechung den gleichen Vertrauensschutz zuzubilligen wie bei einer entsprechenden Rechtsänderung (vgl. auch § 176 der Abgabenordnung von 1977, wonach in bestimmten Fällen den Steuerpflichtigen Vertrauensschutz auch gegenüber Änderungen der höchstrichterlichen Rechtsprechung zusteht, was einen weitergehenden Vertrauensschutz in anderen Fällen nicht ausschließt, Kühn-Kutter a.a.O. 176 Anm. 1 am Ende).

Da die Gerichte anders als der Gesetz- oder Verordnungsgeber bei der Änderung von Rechtsvorschriften - nicht in der Lage sind, einen Zeitpunkt festzusetzen, von dem an die geänderte Rechtsprechung wirksam werden soll, und Härten, die mit einer Umstellung der Verwaltungspraxis verbunden sind, nicht durch Übergangsregelungen mildern können, haben die Versicherungsträger vielfach von sich aus durch Verwaltungsregelungen die rückwirkende Anwendung einer geänderten höchstrichterlichen Rechtsprechung ausgeschlossen und den Betroffenen darüber hinaus sogar Übergangsfristen eingeräumt (ein Beispiel unter vielen anderen bieten die Regelungen, die nach Änderung der sog. Meistersohn-Rechtsprechung in dem Urteil des BSG vom 5. April 1956, BSGE 3, 30, getroffen worden sind, vgl. dazu Bogs, Die Krankenversicherung 1956, 247; Tervooren, Die Krankenversicherung 1957, 181; Jorks, Der Betriebsberater 1957, 79f. und 187; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. bis 9. Aufl., Stand: März 1979, S. 308 k mit zahlreichen weiteren Nachweisen auch aus der Rechtsprechung). Aber auch wenn Verwaltungsregelungen dieser Art im Einzelfall fehlen, muß den Betroffenen - unter Rückgriff auf den allgemeinen Rechtsgrundsatz von Treu und Glauben - Vertrauensschutz mindestens insoweit gewährt werden, als es sich um die Anwendung der geänderten Rechtsprechung auf Sachverhalte handelt, die geschlossen in der Vergangenheit liegen.

Das maßgebende Ereignis, bis zu dem Vertrauensschutz zu gewähren ist, kann dabei - ähnlich wie bei einer Rechtsänderung, die den Rechtsunterworfenen durch Verkündung bekanntzugeben ist (vgl. dazu BSGE 3, 161, 165ff.) - nur die Bekanntgabe der geänderten Rechtsprechung an diejenigen sein, die von ihr betroffen werden. Da die Gerichte ihre Entscheidungen mit den vollständigen Entscheidungsgründen von Amts wegen nur den unmittelbaren Prozeßbeteiligten bekanntgeben und der Zeitpunkt, zu dem die Entscheidungen in der Fachpresse und den Entscheidungssammlungen der Gerichte veröffentlicht werden, häufig vom Zufall abhängt, andererseits die Kenntnis der einschlägigen Rechtsprechung eher von den zu ihrer Anwendung berufenen Verwaltungsstellen als von den betroffenen Bürgern zu erwarten ist, kann es bei der Bekanntgabe der fraglichen Gerichtsentscheidungen nur auf deren Bekanntgabe durch die jeweils zuständige Verwaltungsstelle, im Beitragsrecht der Sozialversicherung also durch die jeweilige Einzugsstelle der Beiträge, ankommen (ebenso auch BFH in dem schon genannten Urteil vom 15. Dezember 1964 a.a.O.). Bis zu diesem Zeitpunkt wird deshalb in der Regel denjenigen, die von einer Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung zum Beitragsrecht betroffen werden, Vertrauensschutz zuzubilligen sein.

Das gilt allerdings - ebenso wie im Steuerrecht nach der angeführten Rechtsprechung des BFH - nur unter der Voraussetzung, daß sich die der Beitragsentrichtung zugrunde liegende Sach- und Rechtslage zwischenzeitlich nicht geändert hat. Im übrigen kann ein Beitragspflichtiger den Schutz seines Vertrauens auf die Maßgeblichkeit einer früheren Rechtsprechung dann nicht mehr beanspruchen, wenn er schon vor einer ausdrücklichen Mitteilung der zuständigen Verwaltungsstelle weiß, daß sich diese Rechtsprechung geändert hat; betrifft die geänderte Rechtsprechung das Beitragsrecht nicht unmittelbar - wie bei Entscheidungen des BFH zum Steuerrecht -, so entfällt ein Vertrauensschutz für den Beitragspflichtigen nur , wenn er außerdem weiß, daß die Änderung sich auch auf seine Beitragspflicht auswirken muß. Dabei sind, was die Frage des Kennens der jeweiligen Rechtsprechung und ihrer Relevanz anlangt, die persönlichen Verhältnisse der Beitragspflichtigen zu berücksichtigen. Nicht schutzwürdig erscheint das Vertrauen des Beitragspflichtigen ferner dann, wenn er zwar die Änderung der früheren Rechtsprechung nicht positiv kennt, jedoch Anlaß hat, an ihrer weiteren Aufrechterhaltung zu zweifeln und die Klärung dieser Zweifel nach den Umständen des Falles ausnahmsweise nicht von der Verwaltung, sondern in erster Linie von ihm selbst, etwa durch Rückfrage bei der Verwaltung, zu erwarten ist, sofern er durch solche Erkundigungen schon früher Kenntnis von der geänderten Rechtsprechung erhalten hätte (zu sonstigen Mitwirkungspflichten des Arbeitgebers beim Beitragseinzug vgl. BSGE 41, 297, 301).

Ob bei Anwendung dieser Grundsätze die Klägerin im Jahre 1974 noch zu Beiträgen für die den Beigeladenen zu 6) und 7) im Jahre 1972 gezahlten Auslösungen herangezogen werden konnte, läßt sich nach dem bisher vom LSG festgestellten Sachverhalt nicht abschließend beurteilen. Der Senat hat deshalb das angefochtene Urteil aufgehoben und den Rechtsstreit zur Nachholung der noch erforderlichen Ermittlungen an das LSG zurückverwiesen.

Für die neue Sachentscheidung dürfte zunächst von Bedeutung sein, wann die Klägerin erstmals von der Änderung der Rechtsprechung des BFH zur Lohnsteuerpflicht von Auslösungen, die an ledige Arbeitnehmer gezahlt werden, Kenntnis erhalten hat (die maßgebenden Entscheidungen des BFH vom November 1971 sind der interessierten Öffentlichkeit offenbar erst mit dem am 4. März 1972 ausgegebenen Stück des BStBl - 1972 Teil II Nr. 6 - zugänglich geworden). Auch wenn die Klägerin noch im Laufe des Jahres 1972 von der geänderten Rechtsprechung des BFH Kenntnis erhalten haben sollte, bliebe zu fragen, ob diese Kenntnis allein schon ausreichte - ohne daß die Klägerin zuvor von der Beklagten über die Folgen der neuen Rechtsprechung des BFH für das Beitragsrecht unterrichtet wurde -, um das weitere Vertrauen der Klägerin in eine Fortsetzung der bisherigen Verwaltungspraxis der Beklagten nicht mehr schutzwürdig erscheinen zu lassen. Die Antwort auf diese Frage könnte davon abhängen, ob und in welcher Weise die Klägerin damals rechtlich beraten war (das LSG hat eine Beratung durch eine eigene Rechtsabteilung sowie durch ein Steuer- und Wirtschaftsprüferbüro angenommen, was aber von der Klägerin bestritten wird, soweit es sich um die Beratung durch eine Rechtsabteilung handelt) Im Falle einer entsprechend fachkundigen Beratung hatte die Klägerin möglicherweise ohne weiteres erkennen können, daß die neue Rechtsprechung des BFH auch das Beitragsrecht beeinflussen und Änderungen der bisherigen, an der früheren Rechtsprechung des BFH orientierten Verwaltungspraxis der Beklagten nach sich ziehen mußte.

Für die Frage des Vertrauensschutzes der Klägerin könnte schließlich erheblich sein, ob sie schon vor der späteren Klärung der Rechtslage Erlaß gehabt hatte, an der weiteren Maßgeblichkeit der bisherigen Rechtsprechung des BFH und an der Fortsetzung der Verwaltungspraxis der Beklagten zu zweifeln, und von ihr nach den Umständen des Falles erwartet werden konnte, diesen Zweifeln ausnahmsweise von sich aus, z.B. durch eine Rückfrage bei der Beklagten, nachzugehen, sofern sie durch eine solche Initiative schon im Jahre 1972 Kenntnis von der durch die Urteile des BFH vom November 1971 geklärten Rechtslage hätte erhalten können. Auch insoweit könnte eine fachkundige Beratung der Klägerin während der fraglichen Zeit von Bedeutung sein.

Die Entscheidung über die Kosten - auch des Revisionsverfahrens - bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.

 

Fundstellen

BSGE, 31

NJW 1983, 1695

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