Entscheidungsstichwort (Thema)

Unfallversicherungsschutz bei Rehabilitationsmaßnahmen. Essenseinnahme

 

Orientierungssatz

1. Ist die unfallbringende Tätigkeit den Verrichtungen zuzuordnen, zu denen die Kurteilnehmer im Rahmen ihrer Mitwirkungspflichten zur Erreichung des Kurerfolges verpflichtet (vgl § 4 Abs 1 S 2 RehaAnglG) oder die unabhängig von einer direkten Weisung im Einzelfall der stationären Behandlung zu dienen bestimmt sind (vgl BSG vom 27.6.1978 - 2 RU 30/78 = SozR 2200 § 539 Nr 48), ist der innere Zusammenhang zu bejahen.

2. Ist die Einnahme des Mittagessens im Rahmen einer stationären Kur "verordnet" gewesen, dann besteht bei den mit der Essenseinnahme verbundenen Verrichtungen Unfallversicherungsschutz.

 

Normenkette

RVO § 548 Abs 1 S 1, § 539 Abs 1 Nr 17 Buchst a; RehaAnglG § 4 Abs 1 S 2

 

Verfahrensgang

LSG Hamburg (Entscheidung vom 23.08.1989; Aktenzeichen III UBf 18/88)

SG Hamburg (Entscheidung vom 11.02.1988; Aktenzeichen 24 U 435/86)

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, wer der Kostenträger für die Folgen des Unfalles ist, den die Beigeladene zu 1.) am 5. November 1985 erlitten hat.

Die Landesversicherungsanstalt Schleswig-Holstein (LVA) gewährte der Beigeladenen zu 1.) für die Zeit vom 17. Oktober bis 14. November 1985 ein stationäres Heilverfahren in der Kurklinik H     in K      . Während des Kuraufenthaltes mußten die Patienten die Mahlzeiten im Patientenspeisesaal der Kurklinik einnehmen. Am 5. November 1985 rutschte die Beigeladene zu 1.) nach dem Mittagessen auf einer nassen Stelle des mit Steinfußboden versehenen Speisesaales aus, als sie das Tablett mit ihrem Eßgeschirr auf dem dafür vorgesehenen Laufband abstellen wollte. Sie erlitt dabei einen Bruch des 12. Brustwirbelkörpers und wurde deswegen bis zum 23. Dezember 1985 stationär im Kreiskrankenhaus E     behandelt.

Die Behandlungskosten in Höhe von 12.292,55 DM übernahm die klagende Berufsgenossenschaft. Ihren gegen die beklagte Krankenkasse gerichteten Erstattungsanspruch begründete sie damit, daß sich der Unfall bei einer dem privaten Lebensbereich zuzuordnenden Tätigkeit ereignet habe.

Das Sozialgericht hat die Beklagte zur Erstattung des geltend gemachten Betrages verurteilt, weil die Beigeladene zu 1.) bei den mit dem Mittagessen zusammenhängenden Tätigkeiten nicht nach § 539 Abs 1 Nr 17 Buchst a der Reichsversicherungsordnung (RVO) unter Unfallversicherungsschutz gestanden habe (Urteil vom 11. Februar 1988). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten mit Urteil vom 23. August 1989 zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, zwischen dem Unfall und der nach § 539 Abs 1 Nr 17 Buchst a RVO geschützten Tätigkeit habe kein ursächlicher Zusammenhang bestanden. Ein nur zeitlicher und/oder örtlicher Zusammenhang zwischen dem stationären Aufenthalt und dem Unfall reiche nicht aus; insbesondere gehörten Essen und Trinken grundsätzlich zum unversicherten eigenwirtschaftlichen Lebensbereich der Versicherten, es sei denn, typische Gefahren der Kurklinik hätten zur Entstehung des Unfalls wesentlich beigetragen. Das sei hier jedoch nicht der Fall gewesen. Steinfußböden seien allgemein übliche Fußbodenbeläge; auch sei die durch verschüttete Flüssigkeit erhöhte Rutschgefahr nicht ungewöhnlich. Insoweit sei auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 23. Juni 1982 (9b/8 RU 18/81 - in USK 82217) Bezug zu nehmen, in welchem das BSG den Versicherungsschutz eines Versicherten verneint habe, der in der betriebseigenen Kantine seiner Beschäftigungsfirma bei der Essenseinnahme auf verschüttetem Pfirsichsaft ausgeglitten sei. Mit solchen Gefahrenquellen müsse bei Essensausgaben - auch in Gaststätten - ganz allgemein gerechnet werden. Die Tatsache, daß die Beigeladene zu 1.) an der Gemeinschaftsverpflegung im Patientenspeisesaal habe teilnehmen müssen, führe ebensowenig zu einem anderen Ergebnis wie der Umstand, daß von den Patienten verlangt worden sei, das benutzte Geschirr nach dem Essen zum Laufband zu bringen. Bei dieser letztgenannten Verrichtung würden die Patienten auch nicht iS von § 539 Abs 2 iVm Abs 1 Nr 1 RVO arbeitnehmerähnlich tätig.

Gegen dieses Urteil haben die Beklagte und die Beigeladene zu 1.) die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Die Beklagte macht geltend, das LSG habe § 105 Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren - (SGB X) iVm §§ 548, 539 Abs 1 Nr 17 Buchst a RVO unrichtig angewandt. Die Beigeladene zu 1.) habe bei ihrem Sturz im Patientenspeisesaal einen Arbeitsunfall erlitten, weil die mit der vorgeschriebenen Essenseinnahme verbundenen Tätigkeiten dem stationären Aufenthalt zuzurechnen seien. Dies folge schon aus dem Wortlaut des § 539 Abs 1 Nr 17 Buchst a iVm § 559 RVO, aber auch aus der besonderen Bedeutung der Klinikverpflegung für die Erreichung der Behandlungsziele. Der Zwang zur Einnahme einer bestimmten Verpflegung im Patientenspeisesaal diene dem Kurerfolg. Aus diesem Grunde könne die von den Vorinstanzen zitierte "Betriebskantinen-Rechtsprechung" des BSG nicht auf den vorliegenden Fall übertragen werden. Im übrigen habe es sich bei dem nassen Steinfußboden im Patientenspeisesaal um eine besondere Gefahrenquelle der Klinik gehandelt, der die Beigeladene zu 1.) im privaten Bereich nicht ausgesetzt gewesen wäre.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 23. August 1989 sowie das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 11. Februar 1988 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Beigeladene zu 1.) beantragt ebenfalls,

die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Sie vertritt die gleiche Ansicht wie die Beklagte. Darüber hinaus meint sie, die LVA hätte als Kostenträgerin des Heilverfahrens zum Rechtsstreit beigeladen werden müssen.

Die Klägerin stellt keinen Antrag und hat sich zum Revisionsvorbringen nicht geäußert.

Die Beigeladene zu 2.) hält die Revisionen für unbegründet.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die Revisionen der Beklagten und der Beigeladenen zu 1.) sind begründet.

Der Senat konnte ohne Beiladung der LVA in der Sache entscheiden, weil die Voraussetzungen des § 75 Abs 2 SGG für eine notwendige Beiladung nicht vorliegen.

Der auf § 105 Abs 1 SGB X gestützte Erstattungsanspruch der Klägerin ist unbegründet, weil die Beigeladene zu 1.) am 5. November 1985 einen Arbeitsunfall erlitten hat und somit die beklagte Krankenkasse nicht der zuständige Leistungsträger ist.

Nach § 548 Abs 1 Satz 1 RVO ist Arbeitsunfall ein Unfall, den ein Versicherter bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten erleidet. Gemäß § 539 Abs 1 Nr 17 Buchst a RVO war die Beigeladene zu 1.) bei der Teilnahme an der von der LVA bewilligten stationären Behandlung in der Kurklinik H     gegen Arbeitsunfälle versichert. Zu den versicherten "Tätigkeiten" der Teilnehmer an einer solchen medizinischen Rehabilitation gehört - mit Ausnahme des Risikos der ärztlichen Behandlung (BSGE 46, 283, 284; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. bis 11. Aufl, S 475 g und 484 r, jeweils mwN) - alles, was sie im inneren Zusammenhang mit der stationären Heilbehandlung verrichten. Für den erforderlichen inneren Zusammenhang mit der stationären Behandlung reicht auch hier - wie das LSG insoweit zutreffend erkannt hat - ein nur zeitlicher und örtlicher nicht aus (vgl BSG SozR 2200 § 539 Nr 48; BSGE 59, 291). Ist die unfallbringende Tätigkeit dagegen den Verrichtungen zuzuordnen, zu denen die Kurteilnehmer im Rahmen ihrer Mitwirkungspflichten zur Erreichung des Kurerfolges verpflichtet (vgl § 4 Abs 1 Satz 2 des Gesetzes über die Angleichung der Leistungen zur Rehabilitation vom 7. August 1974 - BGBl I 1881) oder die unabhängig von einer direkten Weisung im Einzelfall der stationären Behandlung zu dienen bestimmt sind (BSG SozR 2200 § 539 Nr 48; Brackmann aaO S 484 q), ist der innere Zusammenhang zu bejahen. Diese Abgrenzung hat das BSG bereits mehrfach vorgenommen (vgl zuletzt Urteil des erkennenden Senats vom 26. April 1990 - 2 RU 48/89 - unter Bezugnahme auf BSGE 59, 291, 292; s auch Brackmann aa0 S 475 f I ff. mwN, S 484 p ff.) und zum Versicherungsschutz nach § 539 Abs 1 Nr 17 Buchst a RVO näher ausgeführt, dieser umfasse die Tätigkeiten, die der stationären Behandlung dienlich sind. Ähnlich wie bei Dienstreisen besteht darüber hinaus Versicherungsschutz, wenn die Versicherte einer mit den Einrichtungen des Hauses verbundenen Gefahr erlegen ist (BSG SozR 2200 § 539 Nr 72; Brackmann aaO S 484 r; Gitter SGb 1982, 221).

Ausgehend von diesen Grundsätzen, stand die Beigeladene zu 1.) am 5. November 1985 bei den mit der Essenseinnahme verbundenen Verrichtungen unter Unfallversicherungsschutz; denn nach den für den Senat bindenden tatsächlichen Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) war die Beigeladene zu 1.) verpflichtet, ihr Mittagessen im Patientenspeisesaal einzunehmen. Die Einnahme des Mittagessens ist im Rahmen der stationären Kur "verordnet" gewesen (vgl Auskunft des ärztlichen Direktors der Kurklinik vom 29. November 1985, Bl 5 der BG-Akte). Diesem Gesichtspunkt haben die Vorinstanzen zu Unrecht keine Bedeutung beigemessen.

Der Senat kann deshalb offenlassen, ob die Essenseinnahme bei stationären Behandlungen - anders als die in Betriebskantinen - grundsätzlich dem Versicherungsschutz nach § 539 Abs 1 Nr 17 Buchst a RVO unterliegt (s Brackmann aaO S 481 f) oder ob sie grundsätzlich zu den wesentlich allein von privaten Interessen geprägten Verrichtungen zählt, bei denen Versicherungsschutz nur ausnahmsweise zu bejahen ist, wenn besondere Gefahren der Klinik zur Entstehung des Unfalls wesentlich beigetragen haben (vgl hierzu BSG Urteile vom 26. März 1986 - 2 RU 32/85 und 51/85 -; BSG Urteil vom 27. November 1986 - 2 RU 20/86 = HV-INFO 1987, 339 bis 342 mwN). Die Rechtsprechung des Senats bei der Einnahme von Mahlzeiten in den Arbeitspausen (s Brackmann S 481 c ff., S 481 i ff.), auf die das LSG Bezug nimmt, beruht wesentlich auf der Erwägung, daß es den Versicherten grundsätzlich vom Betrieb freigestellt ist, ob sie die Mahlzeiten zu Hause, in einem Restaurant oder in der Werkskantine einnehmen. Der Rechtsprechung des Senats ist jedoch bereits zu entnehmen, daß auch bei der Essenseinnahme in einer Werkskantine der Versicherungsschutz nicht mit dem Durchschreiten der Eingangstür endet, wenn besondere (betriebliche) Umstände den Versicherten veranlassen, dort seine Mahlzeit einzunehmen (BSGE 12, 247, 250; BSG Breithaupt 1969, 755; Brackmann aaO S 481 f). Ein wesentlicher betrieblicher Umstand wäre es jedoch, wenn der Versicherte auf Anordnung seines Arbeitgebers sein Essen in der Werkskantine einnimmt.

Da die Beigeladene zu 1.) den Unfall vom 5. November 1985 "bei" einer versicherten Tätigkeit erlitten hat, ist die Beklagte nicht der zuständige Leistungsträger.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1667538

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