Orientierungssatz

Rückwirkende Beitragsbefreiung - Unwirksamkeit der Beiträge - Verjährungsbeginn:

1. Wird ein landwirtschaftlicher Unternehmer auf seinen Antrag von der Beitragspflicht befreit (GAL § 14 Abs 2), verjährt sein Erstattungsanspruch gemäß § 27 Abs 2 S 1 SGB 4 in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Beiträge entrichtet worden sind.

2. Mit der Beitragsbefreiung ist die ursprüngliche bestehende Beitragspflicht entfallen und die gezahlten Beiträge sind im nachhinein als zu Unrecht entrichtet und damit als unwirksam anzusehen (vgl das Urteil des Senats vom 29.10.1985 11a RLw 11/84 = SozR 5850 § 27a Nr 1).

3. Bei rückwirkender Beitragsbefreiung kann § 27 Abs 2 S 2 SGB 4 auch nicht analog angewandt werden. Dabei kann dahinstehen, ob es eine solche Beanstandung im Altershilferecht für Landwirte überhaupt gibt.

4. Einer analogen Anwendung des § 198 BGB bedarf es nicht, da hinsichtlich des Verjährungsbeginns in § 27 Abs 2 S 1 SGB 4 keine Gesetzeslücke besteht.

5. Ein Antrag auf Beitragserstattung kann, trotz Verjährung, bei Erhebung der Verjährungseinrede nicht, ohne daß über deren Begründetheit eine nach pflichtgemäßem Ermessen durch den zuständigen Sozialversicherungsträger vorzunehmende Prüfung erfolgt ist, durch diesen ablehnend beschieden werden.

6. Der Versicherungsträger muß nach § 35 Abs 1 S 3 SGB 10 im Bescheid deutlich machen, daß er insoweit eine Ermessensentscheidung getroffen hat und in der Begründung des Bescheides die Gesichtspunkte erkennen lassen, von denen er bei der Ausübung des Ermessens ausgegangen ist.

7. Auch wenn der Erstattungsanspruch erst zu einem späteren Zeitpunkt entsteht, beginnt die für die Erstattung zu Unrecht entrichteter Beiträge maßgebliche Verjährungsfrist (§ 27 Abs 2 S 1 SGB 4) mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Beiträge entrichtet worden sind.

8. Ein Sozialleistungsträger hat nicht die Verpflichtung, sondern lediglich die Berechtigung bezüglich der Erstattung zu Unrecht entrichteter Beiträge die Einrede der Verjährung zu erheben.

 

Normenkette

GAL § 14 Abs. 2; BGB § 198 S. 1, § 222 Abs. 1; SGB IV § 26 Abs. 1; SGB X § 35 Abs. 1 S. 3; SGB IV § 27 Abs. 2 Sätze 2, 1, Abs. 3 S. 1

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 28.01.1987; Aktenzeichen L 4 Lw 23/85)

SG Regensburg (Entscheidung vom 30.07.1985; Aktenzeichen S 1 Lw 18/85)

 

Tatbestand

Streitig ist, ob der Anspruch auf Erstattung von Beiträgen, die der Kläger in der Zeit vom 1. Januar 1977 bis zum 31. Dezember 1979 geleistet hat, verjährt ist.

Der Kläger war von Juli 1975 bis Februar 1982 als landwirtschaftlicher Unternehmer bei der Beklagten versichert. Im Februar 1984 beantragte er bei der Beklagten unter Hinweis auf seine seit 1970 bestehende Mitgliedschaft in der Arbeiterrentenversicherung die Erstattung seiner Beiträge.

Mit Bescheid vom 18. März 1985 befreite die Beklagte den Kläger von der Beitragspflicht für die Zeit ab 1. Januar 1977 und erstattete die für die Zeit vom 1. Januar 1980 bis zum 28. Februar 1982 geleisteten Beiträge zurück. Die Erstattung der Beiträge für die Jahre 1977 bis 1979 lehnte sie mit der Begründung ab, der Erstattungsanspruch hinsichtlich dieses Zeitraums sei verjährt. Den Widerspruch des Klägers wies die Beklagte mit Bescheid vom 30. April 1985 als unbegründet zurück. Zur Begründung ist unter Hinweis auf § 14 Abs 2 des Gesetzes über eine Altershilfe für Landwirte (GAL) ausgeführt, der landwirtschaftliche Unternehmer werde auf seinen Antrag von der Beitragspflicht befreit. Der Berechtigte könne durch diese Regelung allein entscheiden, ab welchem Zeitpunkt die Beitragsbefreiung gelten solle und sich in Abhängigkeit von diesem Zeitpunkt dementsprechend der Charakter der ursprünglich rechtmäßig entrichteten Beiträge ändere.

Mit Urteil vom 30. Juli 1985 hat das Sozialgericht (SG) Regensburg den Bescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheides geändert und die Beklagte verurteilt, dem Kläger auch die in den Jahren 1977 bis 1979 entrichteten Beiträge zu erstatten. Es hat die Berufung zugelassen. Die Berufung der Beklagten ist vom Bayerischen Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 28. Januar 1987 zurückgewiesen worden. In den Entscheidungsgründen hat das LSG ausgeführt, die Beklagte könne gegen den Erstattungsanspruch des Klägers für den Zeitraum von 1977 bis 1979 die Einrede der Verjährung nicht erheben, weil die vierjährige Verjährungsfrist gemäß § 27 Abs 2 Satz 2 SGB 4 erst Ende des Jahres 1985 zu laufen beginne. Die von der Beklagten ausgesprochene Befreiung des Klägers von der Beitragspflicht habe die Unwirksamkeit der Beiträge zur Folge gehabt und sei als eine Art Beanstandung im Sinne der genannten Vorschrift zu werten. Zwar sei im GAL eine Beanstandung nicht ausdrücklich vorgesehen. Da es jedoch auch im Altershilferecht für Landwirte ein Bedürfnis für die Beanstandung von Beiträgen gebe, weil sich diese unmittelbar auf die Gewährung von Leistungen auswirkten, sei § 27 Abs 2 Satz 2 SGB 4 zumindest entsprechend anwendbar. Darüber hinaus ergebe sich auch aus dem Sinn und Zweck des § 14 Abs 2 GAL, daß die Verjährung nicht schon mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Beiträge entrichtet worden seien, beginne. Der landwirtschaftliche Unternehmer, der eine der Befreiungsvoraussetzungen erfülle, solle möglichst umfassend rückwirkend befreit werden, was jedoch nicht erreicht werden könne, wenn die Beitragserstattung nicht in gleichem Umfang erfolge. Daher beginne die Verjährungsfrist erst mit der Fälligkeit der Forderung zu laufen.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte die Verletzung der §§ 27 Abs 2 SGB 4 iVm 26 SGB 4 und § 14 Abs 2 Satz 1 Buchst a GAL. Sie trägt vor, § 27 Abs 2 Satz 2 SGB 4 sei nicht anwendbar, weil die Befreiung des Klägers von der Beitragspflicht nicht als Beanstandung im Sinne dieser Vorschrift zu sehen sei. Die Erhebung der Einrede der Verjährung entspreche auch der Billigkeit, weil es gemäß § 14 Abs 2 GAL der Unternehmer selbst in der Hand habe, sich auf seinen Antrag hin von der Beitragspflicht befreien zu lassen. Der Antrag auf Befreiung sei mit der Ausübung eines Gestaltungsrechts iS von §§ 199, 200 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) vergleichbar. Die Verjährung beginne dementsprechend mit dem Zeitpunkt, in dem der Antrag auf Beitragsbefreiung erstmals hätte gestellt werden können.

Die Beklagte beantragt, die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist teilweise begründet. Die von den Vorinstanzen ausgesprochene Verurteilung zur Beitragserstattung für die Jahre 1977 bis 1979 kann nicht aufrechterhalten werden. Die Klage ist aber auch nicht abzuweisen. Die Beklagte muß vielmehr über den Erstattungsantrag erneut, diesmal unter gesetzmäßiger Ausübung ihres Ermessens, entscheiden.

Entgegen der Auffassung des LSG ist der streitige Erstattungsanspruch verjährt. Er ergibt sich aus § 26 Abs 1 SGB 4, der gemäß § 1 Abs 1 SGB 4 auch für die Altershilfe für Landwirte gilt. Nach § 26 Abs 1 SGB 4 sind zu Unrecht entrichtete Beiträge zu erstatten. Die vom Kläger gezahlten Beiträge sind im nachhinein als zu Unrecht entrichtet und damit als unwirksam anzusehen, da die ursprünglich bestehende Beitragspflicht durch die mit Bescheid vom 18. März 1985 erfolgte Beitragsbefreiung entfallen ist (vgl das Urteil des Senats vom 29. Oktober 1985, SozR 5850 § 27a Nr 1).

Gemäß § 27 Abs 2 Satz 1 SGB 4 verjährt der Erstattungsanspruch in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Beiträge entrichtet worden sind. Damit ist der Anspruch des Klägers für die von 1977 bis 1979 entrichteten Beiträge jeweils mit Ablauf der Jahre 1981, 1982 und 1983 verjährt.

Dem steht § 27 Abs 2 Satz 2 SGB 4 nicht entgegen. Eine Beanstandung der Versicherungsbeiträge durch die Beklagte mit der Folge, daß die Verjährung erst mit dem Ablauf des Kalenderjahres der Beanstandung (hier: 31. Dezember 1985) beginnt, liegt nicht vor. Dabei kann dahinstehen, ob es eine solche Beanstandung im Altershilferecht für Landwirte überhaupt gibt. Denn der Befreiungsbescheid vom 18. März 1985 enthält keinen für sich selbständigen Verwaltungsakt der Beanstandung (vgl SozR 1300 § 31 Nr 3). Im Widerspruchsbescheid setzt sich die Beklagte sogar mit der eventuell bestehenden Möglichkeit einer Beanstandung auseinander und stellt im Ergebnis ausdrücklich fest, die Befreiung von der Beitragspflicht könne "nicht als Beanstandung im weitesten Sinne" angesehen werden. Die Beklagte wollte weder eine Beanstandung iS von § 27 Abs 2 Satz 2 SGB 4 aussprechen, noch die Unwirksamkeit der Beiträge endgültig feststellen.

§ 27 Abs 2 Satz 2 SGB 4 kann auch nicht analog angewandt werden. Das hat der 7. Senat des BSG für den Fall der Aufhebung eines fehlerhaften Beitragsbescheides in der Arbeitslosenversicherung entschieden (BSGE 58, 154 ff). Der erkennende Senat hat in zwei Urteilen vom 26. März 1987 (11a RLw 2/86 und 11a RLw 3/86) ausgeführt, bei Erstattungsansprüchen infolge rückwirkender Beitragsbefreiung sei die Interessenlage noch verschiedener, da hier anders als bei Beanstandungen der Versicherte es in der Hand habe, den Erstattungsanspruch rechtzeitig vor seiner Verjährung geltend zu machen. Daran ist festzuhalten.

Dem steht nicht entgegen, daß der Erstattungsanspruch erst mit der am 18. März 1985 ausgesprochenen Beitragsbefreiung entstanden ist. Gemäß § 27 Abs 3 Satz 1 SGB 4 gelten lediglich für die Hemmung, die Unterbrechung und die Wirkung der Verjährung die Vorschriften des BGB sinngemäß. Die Bestimmung des § 198 BGB, nach dessen Satz 1 die Verjährung mit der Entstehung des Anspruchs beginnt, hat in § 27 Abs 3 Satz 1 SGB 4 keinen Eingang gefunden. Es gilt vielmehr § 27 Abs 2 Satz 1 SGB 4, wonach die Verjährungsfrist mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Beiträge entrichtet worden sind, beginnt. Einer analogen Anwendung des § 198 BGB bedarf es nicht, da insoweit keine Gesetzeslücke besteht.

Letzten Endes führt auch eine nähere Betrachtung des § 14 Abs 2 GAL nicht weiter. Entgegen der Ansicht des LSG läßt sich dieser Bestimmung nicht entnehmen, der Beginn der Verjährung solle zeitlich mit der Beitragsbefreiung zusammenfallen, damit im größtmöglichen Umfang auch die Beitragserstattung gewährleistet sei. Es handelt sich hier um die Erstattung von zu Unrecht geleisteten Beiträgen, wobei sich die Unrechtmäßigkeit als solche erst durch den Befreiungsbescheid der Beklagten erwiesen hat. § 14 Abs 2 GAL bezieht sich hingegen lediglich auf die Befreiung von der Beitragspflicht. Es handelt sich daher um zwei Vorschriften ohne inneren Zusammenhang. Deshalb müssen für die Rückerstattung zu Unrecht entrichteter Beiträge die hierfür allgemein geltenden Vorschriften des SGB 4 maßgebend sein.

Dennoch ist die Ablehnung der Erstattung der entrichteten Beiträge im vorliegenden Fall rechtswidrig, da die Beklagte ihr Ermessen nicht in der rechtlich gebotenen Weise ausgeübt hat. Nach § 27 Abs 3 Satz 1 SGB 4 iVm § 222 Abs 1 BGB war die Beklagte nicht verpflichtet, sondern lediglich berechtigt, sich auf die Verjährung zu berufen. Für die Leistungsträger im Sozialrecht bedeutet dies, daß sie über die Erhebung der Verjährungseinrede nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden haben (BSGE 58, 154, 159). Dabei muß die Begründung der Entscheidung nach § 35 Abs 1 Satz 3 des Zehnten Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - (SGB 10) über die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Gründe hinaus auch alle Gesichtspunkte erkennen lassen, von denen die Behörde bei der Ausübung ihres Ermessens ausgegangen ist. Sie muß auch darlegen, daß die Behörde ihr Ermessen überhaupt ausgeübt hat.

Der Befreiungsbescheid vom 18. März 1985 genügt diesen Anforderungen nicht. Er läßt überhaupt keine Ermessenserwägungen erkennen, und auch der Widerspruchsbescheid enthält fast ausschließlich Ausführungen zur Systematik des Gesetzes. Die Formulierung "Der Berechtigte kann durch diese Regelung (§ 14 Abs 2 GAL) allein entscheiden, ab welchem Zeitpunkt die Beitragsbefreiung gelten soll und sich in Abhängigkeit von diesem Zeitpunkt der Charakter der ursprünglich rechtmäßig entrichteten Beiträge ändert." deutet lediglich darauf hin, daß die Beklagte es als rechtens ansieht, den Kläger das Risiko der Verjährung eingehen zu lassen, wenn er eine zu lange Zeit untätig verstreichen läßt. Dabei geht aus den übrigen Ausführungen der Beklagten nicht hervor, ob sie in jedem Fall auf diese Art und Weise verfährt oder ob sie die Umstände des konkreten Falles beachtet hat. Insbesondere ist nicht zu erkennen, ob die Beklagte die Notwendigkeit von Ermessenserwägungen erkannt oder etwa übersehen hat, daß ihr Ermessen eingeräumt ist. Die Behörde zu veranlassen, sich darüber Gewißheit zu verschaffen, ist jedoch auch die Aufgabe von § 35 Abs 1 Satz 3 SGB 10. Hier hat die Beklagte erst in der Revisionsbegründung ausgeführt, ihre Entscheidung entspreche der Billigkeit.

Einer der in § 35 Abs 2 SGB 10 genannten Ausnahmefälle liegt hier nicht vor, so daß dieses Ergebnis auch insoweit keine Änderung erfährt.

Dennoch kann die Verurteilung der Beklagten zur Beitragserstattung nicht aufrechterhalten werden. Da ihr ein im Ermessenswege auszuübendes Leistungsverweigerungsrecht zusteht, ist ihre Leistung von dieser Ermessensausübung abhängig. Der Kläger könnte daher mit seiner Leistungsklage nur dann Erfolg haben, wenn bereits jetzt feststünde, daß die Beklagte das ihr zustehende Ermessen nur in Gestalt eines Verzichts auf die Einrede der Verjährung ausüben dürfte. In diesem Fall läge eine Ermessensschrumpfung auf Null vor. Die Voraussetzungen dafür sind jedoch nicht ersichtlich.

Zu berücksichtigen ist jedoch, daß Leistungsklagen, wenn die Leistung in das Ermessen des Verpflichteten gestellt ist, hilfsweise darauf abzielen, den Versicherungsträger zur Erteilung eines neuen Bescheides unter ordnungsgemäßer Ausübung des Ermessens zu verpflichten. Daher ist in Abänderung der vorinstanzlichen Urteile die Beklagte zu verurteilen, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats neu zu bescheiden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 60346

RegNr, 17453

BR/Meuer SGB IV § 27, 16-12-87, 11a RLw 2/87 (OT1-5)

USK, 87164 (T)

VdKMitt 1988, Nr 3, 18-19 (T)

AgrarR 1988, 211-212 (ST)

GVLAK, RdSchr AH 1/88 (T)

HV-INFO 1988, 586-590 (OT1-4)

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