Entscheidungsstichwort (Thema)

Rentenberechnung auf der Grundlage einer Entgeltvorausbescheinigung - Abänderung des Zahlbetrags

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Auf der Grundlage einer Entgeltvorausbescheinigung darf der Rentenversicherungsträger die Höhe des Altersruhegeldes endgültig festsetzen.

2. Weicht das tatsächlich erzielte Entgelt von dem vorausbescheinigten ab, ist der Rentenversicherungsträger auf Verlangen verpflichtet, im übrigen berechtigt, den Zahlbetrag insoweit abzuändern (Aufgabe von BSG vom 19.10.1977 - 4 RJ 151/76 = BSGE 45, 72 = SozR 2200 § 1401 Nr 1).

 

Orientierungssatz

Der Rentenversicherungsträger kann regelmäßig davon absehen, Versicherte, die von § 123 Abs 1 AVG Gebrauch machen, zusätzlich auf § 42 SGB 1 hinzuweisen.

 

Normenkette

SGB I §§ 14, 42; AVG § 123 Abs. 1; RVO § 1401 Abs. 1; SGB IV § 14 Abs. 1; SGB VI § 70 Abs. 4, § 194 Abs. 1 S. 1

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 02.09.1993; Aktenzeichen L 10 An 1971/92)

SG Karlsruhe (Entscheidung vom 20.10.1992; Aktenzeichen S 9 An 462/92)

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Höhe des Altersruhegeldes (ARG).

Der am 23. Juni 1928 geborene Kläger war zuletzt als technischer Berater im Kundendienst abhängig beschäftigt und bezog anschließend ab dem 1. Dezember 1988 Vorruhestandsgeld, das von seinem früheren Arbeitgeber ausgezahlt wurde.

Dem schriftlichen Antrag auf ARG wegen Vollendung des 63. Lebensjahres vom 26. April 1991 war ua eine vom Arbeitgeber auf Wunsch des Klägers ausgestellte Entgeltvorausbescheinigung vom 12. April 1991 beigefügt, aus der sich für den Zeitraum vom 1. April bis 30. Juni 1991 ein angenommenes Bruttoarbeitsentgelt in Höhe von 13.758,00 DM ergab; die vom Kläger auf der Vorderseite dieses Formulares unterzeichnete Vordruckerklärung hat folgenden Wortlaut:

"Ich habe von der Anforderung der Entgeltvorausbescheinigung Kenntnis

genommen und bin damit einverstanden, daß der zuständige

Rentenversicherungsträger das vorläufig bescheinigte Entgelt der

Rentenberechnung zugrunde legt."

Auf der Rückseite finden sich - ebenfalls vorgedruckte - Hinweise für den Versicherten, denen ua zu entnehmen ist, daß die im voraus ausgestellte Entgeltbescheinigung der beschleunigten Feststellung des ARG diene, dh die Berechnung durchgeführt werden könne, ohne zunächst das Ende des Beschäftigungsverhältnisses abzuwarten. Für die Berechnung des ARG sei ein abweichendes Einkommen nicht zu berücksichtigen. Die tatsächlich erzielten Entgelte seien erst bei weiteren Versicherungsfällen zugrunde zu legen.

Mit Bescheid vom 27. Mai 1991 bewilligte die Beklagte ab dem 1. Juli 1991 ein auf der Basis des vorausbescheinigten Arbeitsentgelts berechnetes ARG in Höhe von zunächst 2.584,04 DM monatlich. Seinen hiergegen am 20. Juni 1991 eingelegten Widerspruch begründete der Kläger am 4. Juli 1991 zur Niederschrift der zuständigen Auskunfts- und Beratungsstelle der Beklagten ua damit, daß der Rabatt für einen bei seinem früheren Arbeitgeber erworbenen Jahreswagen zwar der Steuer- und Beitragspflicht unterworfen, bei der Rentenberechnung jedoch nicht berücksichtigt worden sei. Die gegenüber der Entgeltvorausbescheinigung eingetretenen Änderungen seien noch im Juni 1991 bekannt geworden und daher zu beachten. Widerspruch und Klage blieben nach Einholung von Auskünften des Arbeitgebers jeweils erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 3. Februar 1992; Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe ≪SG≫ vom 20. Oktober 1992).

Das Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) hat die am 1. Februar 1992 eingelegte Berufung mit Urteil vom 2. September 1993 zurückgewiesen. Die erteilte Entgeltvorausbescheinigung sei zutreffend gewesen. Der Berücksichtigung nachträglich erzielten höheren Entgelts stehe § 123 Abs 1 Satz 4 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) entgegen. Eine Korrektur auf der Grundlage von § 44 bzw § 48 des Zehnten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB X) komme nicht in Betracht. Mit der Vorlage der Entgeltvorausbescheinigung und der Erklärung seines Einverständnisses mit ihrer Verwertung habe der Kläger eine rechtsgeschäftliche Willenserklärung abgegeben, die ab dem Zeitpunkt des Eingangs beim Versicherungsträger nicht mehr widerrufen werden könne. Im übrigen sei der Kläger hierzu weder durch Drohung noch durch Irrtum veranlaßt worden, so daß ebenso die Möglichkeit der Anfechtung ausscheide. Auch im Fall der Rücknahme des Rentenantrages und seiner alsbaldigen Wiederholung verbiete sich die Berücksichtigung des tatsächlich erzielten Entgelts. Ein Anlaß, den Kläger auf die Möglichkeit der Antragsrücknahme hinzuweisen, habe bei dieser Rechtslage nicht bestanden, so daß auch der geltend gemachte soziale Herstellungsanspruch nicht bestehe.

Hiergegen wendet sich der Kläger mit der vom LSG zugelassenen Revision. Seiner Auffassung nach soll die frühzeitige Rentenbewilligung lediglich durch den Ausschluß von §§ 44 und 48 SGB X kompensiert werden. Berufe sich der Versicherte dagegen vor Eintritt der Bestandskraft des rentenbewilligenden Bescheides auf ein nachweisbar erzieltes höheres Entgelt, müsse der Versicherungsträger der Rentenberechnung die tatsächlichen Beträge zugrunde legen; der Rentenantrag könne nämlich bis zu dem genannten Zeitpunkt zurückgenommen und anschließend wiederholt werden. Die Zulässigkeit dieser Vorgehensweise ergebe sich auch aus der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zu § 1248 Abs 6 Reichsversicherungsordnung (RVO) bzw § 25 Abs 6 AVG, die von einer freien Abänderbarkeit der einmal getroffenen Bestimmung und der Garantie eines weitgehenden Gestaltungsspielraumes ausgehe. Auf die sich damit ergebenden Möglichkeiten habe die Beklagte am 4. Juli 1991 zu Unrecht nicht hingewiesen.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 2. September

1993 und das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 20. Oktober 1992

aufzuheben, den Bescheid der Beklagten vom 27. Mai 1991 in der Gestalt des

Widerspruchsbescheides vom 3. Februar 1992 abzuändern und die Beklagte zu

verurteilen, dem Kläger ab 1. Juli 1991 ein höheres Altersruhegeld unter

Berücksichtigung eines Bruttoverdienstes von 34.469,00 DM für die Zeit vom

1. Januar bis 30. Juni 1991 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie schließt sich im wesentlichen den Ausführungen des angefochtenen Urteils an.

 

Entscheidungsgründe

Die - kraft Zulassung durch das LSG - statthafte Revision ist zulässig und im Sinne der Zurückverweisung auch begründet. Entgegen der Ansicht der Vorinstanzen und der Beklagten ist dem Kläger ARG wegen Vollendung des 63. Lebensjahres in der Höhe zu gewähren, die sich unter Zugrundelegung des für die Monate April bis Juni 1991 tatsächlich erzielten Bruttoarbeitsentgelts ergibt.

Die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 Regelung 1, Abs 4 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) gegen den Verfügungssatz über die Rentenhöhe (vgl zum Inhalt des Rentenbescheides BSG in SozR 1500 § 77 Nr 56) im Bescheid vom 27. Mai 1991 ist statthaft und zulässig. Sie ist nach der Sachlage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht zu beurteilen. Der Berechnung der - im übrigen bindend (§ 77 SGG) zuerkannten - Rente sind daher konkret und vollständig diejenigen Entgeltbeträge zugrunde zu legen, die dem Kläger bis dahin so zugeflossen waren, daß er über sie verfügen konnte (vgl BSG in SozR 2200 § 1255a Nr 19 mwN). Rechtliche Grundlage hierfür sind die im Hinblick auf § 300 Abs 2 des Sechsten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB VI) noch anzuwendenden (BSG in SozR 3-2600 § 300 Nr 3) Bestimmungen des AVG, insbesondere §§ 31 ff AVG.

Gemäß § 31 Abs 1 Halbsatz 1 iVm § 32 Abs 1 Satz 1 Halbsatz 1 AVG ist die Höhe des ARG wesentlich durch das Verhältnis des individuell erzielten Bruttoarbeitsentgelts zum durchschnittlichen Bruttoarbeitsentgelt aller Versicherten der gesetzlichen Rentenversicherung (ohne Lehrlinge und Anlernlinge) bestimmt. Bestandteil des Bruttoarbeitsentgelts sind unabhängig von Form, Bezeichnung und Rechtsanspruch alle laufenden oder einmaligen Einnahmen, die unmittelbar aus der Beschäftigung oder im Zusammenhang mit ihr erzielt werden (§ 14 Abs 1 des Vierten Buchs Sozialgesetzbuch ≪SGB IV≫). Grundsätzlich hierher gehören kann auch der geldwerte Vorteil, der sich aus der verbilligten Abgabe von Waren an den Arbeitnehmer ergibt. Der Wert solcher Waren, die der Arbeitgeber nicht überwiegend für den Bedarf seiner Arbeitnehmer herstellt und deren Bezug nicht nach § 40 Einkommensteuergesetz (EStG) pauschal versteuert wird, ist dann steuer- und sozialrechtlich mit dem um 40 vH geminderten Endpreis anzusetzen, zu dem sie der Arbeitgeber oder der am Abgabeort nächst ansässige Abnehmer fremden Letztverbrauchern im allgemeinen Geschäftsverkehr anbietet (§ 17 Abs 1 Satz 1 Nr 3 SGB IV iVm § 3 Abs 1 Satz 3 Sachbezugsverordnung ≪SachBezV≫ 1989 idF der Verordnung zur Änderung der Arbeitsentgeltverordnung ≪ArEV≫ und der SachBezV 1989 ≪BGBl I S 2177≫ sowie § 8 Abs 3 Satz 1 EStG). Der so ermittelte Betrag ist allerdings als Einnahme aus der Beschäftigung nicht anzusehen, soweit er lohnsteuerfrei ist (§ 17 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB IV iVm § 1 ArEV). Insofern bestimmt der hier einschlägige § 8 Abs 3 Satz 2 EStG idF des Steuerreformgesetzes 1990 (vom 25. Juli 1988, BGBl I, 1093), daß die nach Abzug der vom Arbeitnehmer gezahlten Entgelte verbleibenden Vorteile steuerfrei bleiben, soweit sie aus dem Dienstverhältnis insgesamt 2.400,00 DM nicht übersteigen (vgl zur Berechnung im einzelnen Heinicke in Schmidt, Einkommensteuergesetz, 10. Aufl, RdNr 17 zu § 8 EStG). Dies gilt auch im Anwendungsbereich des Vorruhestandsgesetzes: Der - unmittelbar vorher rentenversicherte - Bezieher von Vorruhestandsleistungen gilt als entgeltlich beschäftigter Arbeitnehmer (§ 2 Abs 3 Satz 1 AVG), der Bezug von Vorruhestandsleistungen als rentenversicherungspflichtige Beschäftigung (§ 2 Abs 3 Satz 2 Halbsatz 1 AVG).

Dem Anspruch auf Zugrundelegung des tatsächlich erzielten Entgelts steht § 123 Abs 1 AVG nicht rechtsvernichtend entgegen. Die Vorschrift räumt für den Fall, daß im Anschluß an das Beschäftigungsverhältnis (bzw den Bezug von Vorruhestandsleistungen) ARG beantragt wird, dem Arbeitnehmer die Möglichkeit ein, vom Arbeitgeber eine Vorausbescheinigung seines Entgelts für die Zeit bis zum Ende des Beschäftigungsverhältnisses, längstens für drei Monate zu verlangen (Satz 1). Einzutragen ist derjenige Betrag, der sich nach den Entgelten der letzten sechs Monate voraussichtlich ergibt (Satz 2). Ein hiervon abweichendes Einkommen ist für die Rentenberechnung nicht zu berücksichtigen (Satz 3), während die Beitragsberechnung nach § 112 Abs 3 AVG von der erteilten Bescheinigung unberührt bleibt (Satz 4).

Weder § 123 Abs 1 AVG insgesamt noch seinem Satz 3 im besonderen ist eine Anordnung des Inhalts zu entnehmen, daß die einmal erteilte Entgeltvorausbescheinigung für die Bezugsdauer der bewilligten Rente durchgehend maßgeblich und die Rentenhöhe auf Rechtsmittel (bzw im Rahmen der nachträglichen Überprüfung durch die Verwaltung) jeglicher Korrektur entzogen sein solle. Mit einem derartigen Verständnis ist - entgegen den Befürchtungen der Beklagten - eine vollständige Sinnentleerung nicht verbunden. Die - durch Vorlage der Bescheinigung beim Rentenversicherungsträger ausgeübte - Gestaltungsbefugnis des Versicherten und die Wirkung der Entgeltvorausbescheinigung werden vielmehr lediglich auf eine Modifikation der bei Erlaß des Bewilligungsbescheides anzuwendenden Berechnungs- und Verfahrensvorschriften beschränkt. Dieser ist dann als endgültiger Verwaltungsakt auf vorläufiger sachlicher Grundlage anzusehen. Die tatsächliche Entwicklung der Verhältnisse muß zunächst nicht abgewartet werden. Bei Beachtung der Vorgaben des § 123 Abs 1 AVG ist die Bewilligung formell wie materiell ursprünglich rechtmäßig. Für die Zukunft bedarf jedoch der Beobachtung, ob die getroffene Regelung auch im Lichte der späteren Entwicklung der maßgeblichen Umstände noch aufrechterhalten werden kann. Die früher abweichende Rechtsprechung des Senats (BSGE 45, 72 ff) wird aufgegeben.

Dem Wortlaut des AVG ist dieses Ergebnis allerdings nicht unmittelbar zu entnehmen. Der Gedanke eines einheitlichen Sprachgebrauchs mag es vielmehr zunächst als naheliegend erscheinen lassen, den Terminus "Rentenberechnung" iS von § 123 Abs 1 Satz 2 AVG in demselben Sinne zu verstehen wie denjenigen der "Berechnung der Renten" in den Überschriften zu den §§ 30 ff, 32 ff AVG. Darüber hinaus spricht scheinbar auch die Ausgestaltung der ab dem 1. Januar 1992 an die Stelle von § 123 Abs 1 AVG getretenen Vorschriften des SGB VI gewichtig für eine abschließende Bestimmung der Rentenhöhe bereits im Rahmen des bisher geltenden Rechts. Der Gesetzgeber hat nunmehr die in § 123 Abs 1 Satz 1, 2 und 4 AVG enthaltenen Regelungen, ohne daß hiermit eine inhaltliche Änderung verbunden sein sollte (vgl die Begründung zu § 189 des Entwurfs der Bundesregierung, BT-Drucks 11/4124, 189) sinngemäß in § 194 Abs 1 Satz 1 bis 3 SGB VI übernommen (vgl Hauck/Haines, Stand: Oktober 1993, RdNr 5 zu § 194 SGB VI). Demgegenüber ist an die Stelle von § 123 Abs 1 Satz 3 AVG ergänzend und präzisierend § 70 Abs 4 SGB VI getreten. Die Bestimmung, daß spätere Abweichungen des tatsächlichen gegenüber dem vom Arbeitgeber vorausbescheinigten Entgelt unbeachtlich sind, hat damit ihren systematischen Platz nunmehr im dritten Titel "Ermittlung der persönlichen Entgeltpunkte" des dritten Unterabschnitts "Rentenhöhe und Rentenanpassung" im zweiten Abschnitt "Renten", dh innerhalb derjenigen Normen gefunden, die inhaltlich Rentenvoraussetzungen und -höhe regeln. Die "an diese Rente" geknüpfte Maßgeblichkeit der Entgeltvorausbescheinigung soll zudem nach der Gesetzesbegründung (zu § 69 Abs 4 des Entwurfs, BT-Drucks 11/4124, 170) deren gesamten Zahlungszeitraum erfassen und allenfalls durch den Beginn einer anderen (dh aufgrund eines neuen Leistungsfalls) zu zahlenden Rente auflösend bedingt sein. Diesem Verständnis neigt offenbar auch einhellig die einschlägige Fachliteratur zu (vgl exemplarisch: Sommer in SGB für die Praxis - Gesetzliche Rentenversicherung ≪SGB VI≫ - Stand: Dezember 1990, RdNr 23 zu § 70 SGB VI; Finke in Hauck/Haines, RdNrn 55 ff zu § 70 SGB VI; Maier/Heller in Berliner Kommentar, Stand: März 1995 § 70 SGB VI RdNr 35).

Eine derartige Auffassung ist jedoch mit Sinn und Zweck der Vorschrift nicht zu vereinbaren. Die in § 123 Abs 1 AVG enthaltenen Bestimmungen sind aufgrund des Rentenreformgesetzes (RRG) vom 16. Oktober 1972 (BGBl I 1965) zum 1. Januar 1973 als Sätze 2 bis 5 der Norm in Kraft getreten. In Übereinstimmung mit der Begründung zum ursprünglichen Gesetzesvorschlag der Bundesregierung (BT-Drucks 566/71; vgl zum Gesetzgebungsverfahren im einzelnen Urteil des Senats in BSGE 45, 72 ff, 73) wird ihr Zweck einhellig darin gesehen, das Verwaltungsverfahren zu beschleunigen und beim Altersruhegeld eine frühzeitige Antragstellung bzw Rentengewährung zu ermöglichen (Wagner, Mitteilungen LVA Ober- und Mittelfranken 1977, 411 ff; Lilge, Berliner Kommentar zum RRG 1992 Anm 2 zu § 1401 RVO; Zweng/Scheerer/Buschmann, Die Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten, Anm I zu § 1401 RVO; Brandel, Mitteilungen LVA Württemberg 1973, 137 ff, 157; Linz, Mitteilungen LVA Ober- und Mittelfranken 1987, 428 ff; Figge, BB 1973, 711). Dieses Bestreben findet seinen Ausdruck im wesentlichen in der Befugnis, den Bewilligungsbescheid ausnahmsweise und in begrenztem Umfang lediglich auf begründete Annahmen über die Entgeltentwicklung zu stützen und dementsprechend den Umfang der von Amts wegen durchzuführenden Ermittlungen (§ 20 SGB X) zu reduzieren. Ist nämlich der Rentenversicherungsträger im Hinblick auf § 31 ff AVG ansonsten grundsätzlich verpflichtet, die real zugeflossenen Entgelte in tatsächlicher Höhe zu ermitteln, bedarf es im Anwendungsbereich des § 123 Abs 1 AVG allein einer Überprüfung der Entgeltvorausbescheinigung. Deren Verwendung im laufenden Verwaltungsverfahren ist zulässig, wenn ihr Inhalt im Zeitpunkt der Erstellung zukunftsbezogen und die wahre Entgelthöhe bei Erlaß des Bescheides noch nicht positiv bekannt ist. Inhaltlich bedingt das Gebot der Verfahrensbeschleunigung eine allein auf offensichtliche, dh sich bereits bei Vergleich mit vorhandenen eigenen Unterlagen ergebende, Unstimmigkeiten begrenzte Überprüfung. Der unter Beachtung dieser Gegebenheiten ergehende Bescheid ist formell und materiell rechtmäßig.

Mit seinem Erlaß verstößt die Verwaltung auch nicht gegen das Verbot der Verfahrensbeendigung, bevor die Sach- und Rechtslage abschließend geklärt ist und die Rentenhöhe feststeht (Urteil des Senats vom 31. Mai 1989, SozR 1200 § 42 Nr 4, S 15 und vom 28. Juni 1990, SozR 3-1300 § 32 Nr 2 S 15). Bereits bei Vorlage der Entgeltvorausbescheinigung sind vielmehr - eine abschließende Klärung des Versicherungsverlaufs ansonsten vorausgesetzt - alle für die Bestimmung der Rentenhöhe maßgeblichen Faktoren vollständig bekannt. Ab diesem Zeitpunkt ist der Rentenversicherungsträger in die Lage versetzt - und einklagbar (§ 88 SGG) verpflichtet -, den angemeldeten Anspruch auf ARG, dh das Recht, die Zahlung eines bestimmten Rentenbetrages zu verlangen (§ 194 Bürgerliches Gesetzbuch ≪BGB≫) "anzuerkennen" (§ 204 AVG iVm § 1631 Abs 1 RVO) und damit - ohne weitere Nachprüfung - ebenfalls einklagbar zu garantieren (Urteil vom 28. Juni 1990, aaO, S 17). Die andernfalls bestehende Notwendigkeit, einen Zeitraum zwischen der Auszahlung des letzten Arbeitsverdienstes und der ersten Rentenzahlung zu überbrücken, entfällt damit.

Der Normzweck des § 123 Abs 1 AVG ist demgemäß zeitlich auf die Dauer des Verwaltungsverfahrens und inhaltlich auf den abschließenden (§ 8 SGB X) Verwaltungsakt begrenzt. Nachträglich können weder die angestrebte Verfahrensbeschleunigung noch die Nahtlosigkeit zwischen Beschäftigungsende und Rentenzahlung wenigstens denkbar noch dadurch gefährdet werden, daß bei fortlaufendem (]) Bezug die Leistungshöhe auf der Grundlage der tatsächlichen Verhältnisse korrigiert wird. Im Gegenteil ist dies aus verfassungsrechtlichen Gründen, zur Wahrung von Strukturprinzipien der gesetzlichen Rentenversicherung sowie insbesondere zur Gewährleistung eines im Gesamtzusammenhang des Sozialgesetzbuchs stimmigen Ergebnisses zwingend geboten. Im übrigen wäre auch nur schwer erklärbar, warum der Verfügungssatz über die Rentenhöhe grundsätzlich hinsichtlich der Gesamtheit der Berechnungsfaktoren darauf zu überprüfen ist, ob er auch unter geänderten Bedingungen noch aufrechterhalten werden darf (Urteil des Senats in SozR 2200 § 1255a Nr 19), während allein für den von der Entgeltvorausbescheinigung erfaßten Zeitraum das rechtliche Ergebnis auf Dauer von der "hypothetisch angenommenen" Ausgangslage bestimmt wäre.

Hierzu gilt im einzelnen folgendes: Die in § 123 Abs 1 AVG geregelte Vorgehensweise trägt die Möglichkeit einer Abweichung des tatsächlichen vom vorausbescheinigten Entgelt naturgemäß in sich. Zwar kann der Gesetzgeber vom Leitfall der Übereinstimmung ausgehend zunächst typisierend (vgl zur Zulässigkeit typisierender Regelungen BVerfGE 17, 1, 23 und stRspr) davon ausgehen, daß der unter Beachtung der normativen Vorgaben ermittelte Inhalt der Bescheinigung auch nachträglich in der Realität seine Bestätigung finden wird. Andererseits darf jedoch der sich zwangsläufig ergebende Bestand an Fällen, in denen die Rente gemessen am für die Beitragsleistung stets zutreffend zu ermittelnden Entgelt (§ 124 Abs 1 Satz 4 AVG) zu hoch oder zu niedrig ist, nicht ohne weiteres vernachlässigt werden. Die Perpetuierung dieser Situation müßte dazu führen, daß innerhalb desselben Systems und derselben Gruppe von Versicherten trotz Beitragszahlung in identischer Höhe - im Extremfall lebenslang - Leistungen in unterschiedlicher Höhe zu erbringen wären. Ein derartiges Ergebnis ist indessen weder mit Art 3 Abs 1 Grundgesetz (GG; vgl zuletzt BVerfG vom 11.1.1995, NZA 1995, 752 ff, 753 zur Berechnung kurzfristiger Lohnersatzleistungen und hierzu ausführlich Mey in DAngVers 1995, 343 ff) noch mit dem einfachgesetzlichen Gedanken der Äquivalenz von Beiträgen und Leistungen vereinbar. Dieser prägt in der gesetzlichen Rentenversicherung auch das individuelle Versicherungsverhältnis (vgl Ruland, Gemeinschaftskommentar SGB VI, Stand: März 1995, Einleitung B III, S 16 ff) und gebietet als Strukturprinzip eine Beschränkung in der Weise, daß allein beitragspflichtiges Entgelt versichert ist bzw die Rentenhöhe bestimmt (Ruland, aaO, S 17), verpflichtet umgekehrt aber auch zu dessen vollständiger Berücksichtigung im Rahmen der Leistungsberechnung. Für Vor- oder Nachteile, die sich allein in Abhängigkeit vom Inhalt der Entgeltvorausbescheinigung ergeben, ist ein sachlicher Grund nicht erkennbar.

Darüber hinaus macht es auch das Zusammenspiel der Regelungen innerhalb des SGB erforderlich, den Anwendungsbereich von § 123 Abs 1 AVG im hier vertretenen Sinne teleologisch zu reduzieren. Der Gesetzgeber hat mit Inkrafttreten des Ersten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB I) zum 1. Januar 1976 ua zunächst das AVG als besonderen Teil des SGB fortgeführt (Art 2 § 1 Nr 5 SGB I vom 11.12.1975 ≪BGBl I 3015≫), mittlerweile aber das Rentenrecht insgesamt im SGB VI zusammengefaßt (Art 1 RRG 1992, BGBl I 1989, 2261). § 123 Abs 1 AVG und die an seine Stelle getretenen §§ 70 Abs 4, 194 SGB VI sind damit in einem umfassenden Zusammenhang zu sehen, der es methodisch erforderlich macht, ihre wechselseitige Bezogenheit auf weitere, denselben Regelungsgegenstand betreffende Rechtssätze für die Norminterpretation fruchtbar zu machen.

Insofern ist insbesondere § 42 SGB I von Bedeutung. Die Vorschrift bietet dem zuständigen Leistungsträger dann, wenn der Geldleistungsanspruch bereits feststeht, die Festsetzung der Höhe voraussichtlich aber noch längere Zeit in Anspruch nimmt, die Möglichkeit ("kann"), Vorschüsse zu zahlen, deren Höhe er nach pflichtgemäßem Ermessen bestimmt (Abs 1 Satz 1). Auf Antrag des Berechtigten besteht eine Verpflichtung zur Vorauszahlung (Abs 1 Satz 2). Vorschüsse werden mit der zustehenden Leistung verrechnet und sind ggf zu erstatten (Abs 2). Für Stundung, Niederschlagung und Erlaß des Erstattungsanspruchs gilt § 72 Abs 2 SGB IV entsprechend (Abs 3).

§ 42 SGB I und § 123 AVG gehen partiell vom selben Lebenssachverhalt aus. Ihr übereinstimmendes Thema ist die Bewältigung einer Übergangsphase, in der bei bestehendem Anspruch die Leistungsfeststellung nach üblichen Maßstäben noch nicht möglich ist. Dabei erfaßt § 123 Abs 1 AVG einen gegenüber § 42 SGB I spezielleren Tatbestand. Erfordert dieser nämlich einen dem Grunde nach feststehenden und auch der Höhe nach bereits weitestgehend bestimmbaren Anspruch auf ARG, genügt für jenen der Anspruch auf eine von ggf mehreren potentiell in Betracht kommenden Sozialleistungen, deren Höhe insgesamt noch der Festlegung bedarf. Demgegenüber schließen sich die Rechtsfolgen beider Vorschriften, die bei Ausübung des entsprechenden Gestaltungsrechts durch den Versicherten jeweils zwingend eintreten, gegenseitig aus (alternative Konkurrenz; vgl Larenz, Methodenlehre, 6. Aufl, S 268). Rechtlich und tatsächlich kommt nur entweder die Gewährung eines Vorschusses als vorläufige Leistung eigener Art (BSGE 55, 287 ff, 290 = SozR 1200 § 42 Nr 2 sowie Urteil vom 31. Mai 1989, aaO) anstelle der geschuldeten Geldleistung oder deren unmittelbare Erbringung in Betracht.

Versteht man § 123 AVG in dem vorstehend vom Senat geklärten Sinn, ist er aus der Sicht des Versicherten gegenüber § 42 SGB I praktisch stets die vorteilhaftere Alternative: Bestätigt sich die Annahme über die Entgelthöhe, bleibt es ohne weiteres bei der bereits festgesetzten Leistungshöhe. Ergeben sich nach der Ausstellung der Entgeltbescheinigung Abweichungen nach oben, besteht Anspruch auf eine rückwirkende (§ 48 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB X) Berücksichtigung der geänderten Verhältnisse. Bleibt das tatsächliche Entgelt hinter dem vorausbescheinigten zurück, kommt der Eingriff in das bereits zuerkannte Recht ebenfalls nur unter Beachtung der für die Aufhebung bindender Verwaltungsakte bzw der Erstattung zu Unrecht erbrachter Leistungen einschlägigen Vorschriften (§§ 48, 50 SGB X) in Betracht. Demgegenüber erledigt sich der einen Vorschuß gewährende Verwaltungsakt ohne weiteres mit der endgültigen Leistungsfeststellung (§ 39 Abs 2 SGB X; hierzu Urteil vom 31. Mai 1989, aaO) und erfolgt die Rückabwicklung überzahlter Vorschüsse nach der abschließenden Spezialregelung des § 42 Abs 2 SGB I, so daß insgesamt das Vertrauen in den Fortbestand der einmal getroffenen Regelung einen wesentlich schwächer ausgestalteten Schutz erfährt.

Allein im Hinblick hierauf kann die Beklagte regelmäßig davon absehen, Versicherte, die von § 123 Abs 1 AVG Gebrauch machen, zusätzlich auf § 42 SGB I hinzuweisen. Eine entsprechende Beratungspflicht ergibt sich nämlich aus § 14 SGB I stRspr (vgl BSGE 41, 126 ff, 128) zufolge nur dann, wenn sich in einem laufenden Verfahren klar zutage liegende Gestaltungsmöglichkeiten zeigen, deren Wahrnehmung offensichtlich so zweckmäßig ist, daß sie jeder verständige Versicherte mutmaßlich wünschen würde.

Etwas anderes hätte indessen zwangsläufig dann zu gelten, wenn § 123 Abs 1 Satz 3 AVG mit der Beklagten als Verbot zu verstehen wäre, die tatsächliche Höhe der letzten Entgelte nach Bekanntwerden noch zu berücksichtigen. Gegenüber der dann naheliegenden Gefahr, möglicherweise für immer eine zu niedrige, weil nicht dem Beitragsaufkommen entsprechende Rente zu beziehen, wäre § 42 SGB I für den Antragsteller stets eine offensichtlich zweckmäßige, nämlich völlig risikofreie Handlungsalternative. Faktisch müßte dies dazu führen, daß die Rentenversicherungsträger in letztlich allen von § 123 Abs 1 AVG - und den ab 1. Januar 1992 geltenden Folgevorschriften - erfaßten Fällen von Amts wegen beratend tätig werden müßten, wollten sie vermeiden, den Versicherten im Wege des sog Herstellungsanspruchs (zu dessen Voraussetzungen zusammenfassend Urteil des Senats in SozR 3-2600 § 58 Nr 2) nachträglich so stellen zu müssen, als hätte er von Anfang an von der ihm vorteilhaften Gestaltungsmöglichkeit Gebrauch gemacht. Dies könnte schon im Hinblick auf die Kompliziertheit der Verhältnisse in der gebotenen auf die individuellen Belange abstellenden Form (BSG SozR 3-1200 § 14 Nr 5, S 8) in aller Regel nur im Rahmen eines persönlichen Gesprächs geschehen. Abgesehen von dem hieraus resultierenden Verwaltungsaufwand kann das Ergebnis derartiger Beratungen vorhersehbar in aller Regel nur sein, daß von der Möglichkeit, auf der Grundlage der Entgeltvorausbescheinigung bereits eine abschließende Verwaltungsentscheidung zu erlangen, kein Gebrauch mehr gemacht wird. Damit aber müßte praktisch immer zunächst ein Vorschuß etwa in Höhe der endgültigen Leistung festgelegt werden, um dann erst nach Ausscheiden des Versicherten aus der Beschäftigung und Bekanntwerden der zuletzt erzielten Entgelte den endgültigen Rentenbescheid zu erlassen. Zumindest in den Fällen der Identität von hypothetisch angenommenem und tatsächlich erzieltem Entgelt wäre dies vom Ergebnis her überflüssig. Rechtlich käme es anstelle einer Harmonisierung koexistierender Rechtssätze zu deren partieller Eliminierung; dies kann indessen von vornherein nicht Ziel ihrer Auslegung sein.

Die vorstehend entfalteten Bedenken gegen ein auf Dauer angelegtes materielles Verständnis von § 123 Abs 1 AVG könnten durch das von der Revision im Anschluß an entsprechende Erwägungen in der früheren Rechtsprechung des Senats (BSGE 45, 72 ff, 75) und eine teilweise in der Literatur vertretene Auffassung (VdR-Kommentar, Stand: Januar 1991, RdNr 3 zu § 1401 RVO/123 AVG) nicht ausgeräumt werden. Auch bei Annahme einer weitgehenden Befugnis zur Rücknahme des Rentenantrages bis zum Ablauf der Widerspruchsfrist (so zwar jetzt Urteil des 13. Senats vom 9. August 1995, 13 RJ 43/94 mwN - zur Veröffentlichung vorgesehen -; dagegen ≪Rücknahme von Anträgen auf Sozialleistungen nur bis zur Wirksamkeit der Verwaltungsentscheidung≫: BSGE 60, 79 ff, 83 ≪Arbeitslosengeld≫ und im Anschluß hieran BSG in SozR 3-1200 § 53 Nr 1 ≪Beitragserstattung≫) müßte nämlich bei späterem Zufluß des maßgeblichen Entgelts die dargelegte Disparität von Beiträgen und Leistungen ohne Korrekturmöglichkeit auf Dauer hingenommen werden. Die Rentenberechnung kann indessen nicht vom bloß zufälligen Zeitpunkt des Erlasses des Bewilligungsbescheides abhängig sein.

Für die Überprüfung auf § 123 Abs 1 AVG beruhender Berechnungen gilt auf der Grundlage der vorstehenden Ausführungen folgendes: Wird innerhalb offener Frist Widerspruch bzw Klage eingelegt, sind §§ 31 ff AVG zugrunde zu legen, wenn die tatsächlichen Entgelte bis zum Verfahrensabschluß zugeflossen sind. Ist der Rentenbewilligungsbescheid in Bindung erwachsen, ist davon auszugehen, daß er bei Zugrundelegung einer (nicht ausnahmsweise offensichtlich unrichtigen) Entgeltvorausbescheinigung ursprünglich richtig war. Fließt das Entgelt für den vorausbescheinigten Zeitraum insgesamt erst nach Bescheiderlaß zu, kann die Rentenhöhe auf der Grundlage von § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X für die Zukunft, zugunsten des Versicherten auch für die Vergangenheit (§ 48 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB X), angepaßt werden.

Eine Lücke ergibt sich lediglich dann, wenn der auf die Entgeltvorausbescheinigung gestützte Rentenbescheid zu einem Zeitpunkt ergangen ist, in dem das tatsächlich gezahlte Entgelt bereits zugeflossen war. Der Gesetzgeber sieht nämlich Regelungen nur für die typischen Varianten des vorläufigen Verwaltungsakts auf vorläufiger Grundlage (hier einschlägig: Vorschuß nach § 42 SGB I iVm § 39 Abs 2 letzte Regelung SGB X) sowie des endgültigen Verwaltungsakts bei abschließend geklärter Sach- und Rechtslage (§§ 44 ff, 50 SGB X) vor. An verfahrensrechtlichen Bestimmungen für den hier vorliegenden Spezialfall des abschließenden Verwaltungsakts auf vorläufiger Grundlage fehlt es demgegenüber. Im Hinblick auf die verfassungsrechtlich gebotene Gleichwertigkeit der Beiträge sowie den Ausgleich von Individualinteresse und Belangen der Versichertengemeinschaft ist hierfür jedoch Bedarf. Der Senat neigt insofern einer (uU analogen) Anwendung von § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X zu. Maßgebliche Vergleichsgrundlage ist dabei allerdings der Inhalt der Entgeltvorausbescheinigung. Da nämlich ausnahmsweise die tatsächlichen Umstände im Zeitpunkt des Erlasses des Altersrentenbescheides aufgrund ausdrücklicher Anordnung des Gesetzgebers (§ 123 Abs 1 Satz 3 AVG) für die Rentenberechnung gerade nicht rechtserheblich waren, können sie auch für die Frage, ob die einmal getroffene Regelung unter geänderten Verhältnissen noch aufrechterhalten werden kann, ebenfalls keine Bedeutung erlangen. Ebenso muß in zeitlicher Hinsicht der ansonsten für § 48 SGB X ausschlaggebende Erlaß des Verwaltungsakts unberücksichtigt bleiben. Die hier relevanten Verhältnisse sind allein diejenigen, die bei Erstellung der Entgeltvorausbescheinigung - und damit zu einem in der Vergangenheit liegenden Zeitpunkt - vorgelegen haben. Nur im Vergleich mit ihnen kann folglich auch festgelegt werden, ob eine Änderung "nachträglich" eingetreten ist.

Für den zur Entscheidung stehenden Sachverhalt ergibt sich aus alledem folgendes: Durch die vom LSG unangefochten festgestellte und daher der Entscheidung des Senats zugrunde zu legende (§ 163 SGG) Vorlage der Entgeltvorausbescheinigung vom 12. April 1991 hat der Kläger von dem ihm nach § 123 Abs 1 AVG eingeräumten Gestaltungsrecht Gebrauch gemacht. Die damaligen Angaben des Ausstellers zur voraussichtlichen Entgelthöhe für die Zeit von April bis Juni 1991 hat die Beklagte im Rentenbewilligungsbescheid vom 27. Mai 1991 zunächst zutreffend der Berechnung zugrunde gelegt. Insofern sind Bedenken zu Recht nicht erhoben worden. Wie das LSG ebenfalls festgestellt hat, war die damals erteilte Bescheinigung im Zeitpunkt der Erstellung vollständig zukunftsgerichtet und berücksichtigte die Gesamtheit der damals bekannten Umstände, ist also "richtig". Im Hinblick darauf, daß § 123 Abs 1 AVG - wie vorstehend ausgeführt - der Zugrundelegung der nachträglich eingetretenen realen Entwicklung nicht entgegensteht, hätte jedoch beachtet werden müssen, daß der Kläger bereits bei Einlegung des Widerspruchs weiteres Entgelt für den fraglichen Zeitraum behauptet hatte. Von seiner Rechtsauffassung ausgehend zutreffend hat das LSG bisher weder festgestellt, ob die geltend gemachten Beträge im ursächlichen Zusammenhang mit der Beschäftigung stehen, noch in welcher Höhe dies ggf der Fall war und inwieweit eine Berücksichtigung im Rahmen der Rentenberechnung in Betracht kommt. Die Sache war daher gemäß § 170 Abs 2 Satz 2 SGG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.

Hiervon kann auch nicht etwa deshalb abgesehen werden, weil sich der Kläger ausdrücklich damit einverstanden erklärt hat, daß die Beklagte das vorläufig bescheinigte Entgelt der Rentenberechnung zugrunde legt. In dieser Erklärung ist ein Verzicht iS von § 46 Abs 1 Satz 1 SGB I schon deshalb nicht zu sehen, weil die Vorschrift "Ansprüche auf Sozialleistungen", nicht aber Berechnungsgrundlagen betrifft (Hauck/Haines, Anm 4b zu § 46 SGB I; Lilge/von Einem, Sozialgesetzbuch SGB-SozVersGesamtKomm, Stand: Dezember 1994 Anm 2 zu § 46 SGB I); zudem wäre bereits mit dem am 20. Juni 1991 eingelegten Widerspruch gleichzeitig der für die Zukunft jederzeit formlos mögliche Widerruf (§ 46 Abs 1 Halbsatz 2 SGB I) erklärt worden. Ebenso fehlt es an einer wegen § 31 SGB I erforderlichen spezialgesetzlichen Grundlage, die im Einzelfall den teilweisen Verzicht auf die Berücksichtigung tatsächlich erzielten Entgelts rechtfertigen könnte.

Auch eine nachträgliche Anfechtung der hinsichtlich der Ausübung des Gestaltungsrechts nach § 123 Abs 1 AVG abgegebenen Willenserklärung kommt nicht in Betracht. Wie das LSG bereits festgestellt hat, ist der Kläger in seiner Entschließungsfreiheit weder durch Täuschung noch durch Drohung beeinflußt worden. Auch ein Auseinanderfallen von Wille und Erklärung ist nicht festgestellt. Eine Fehlvorstellung über kraft Gesetzes eintretende Rechtsfolgen der Erklärung hätte deren Wirksamkeit als - unbeachtlicher - Motivirrtum ohnehin nicht in Frage gestellt.

Die Kostenentscheidung bleibt insgesamt dem Urteil des LSG vorbehalten (vgl Meyer-Ladewig, RdNr 2 zu § 193 SGG).

 

Fundstellen

Haufe-Index 60260

BSGE 77, 77-86 (LT1-2)

BSGE, 77

NJW 1996, 391 (L)

BuW 1996, 642-643 (KT)

RegNr, 22234 (BSG-Intern)

DAngVers 1996, 362-366 (LT1-2)

AmtlMittLVA Rheinpr 1996, 223-228 (LT1-2)

AuA 1996, 326-327 (LT1-2)

MDR 1996, 1273-1274 (LT)

SozR 3-2200 § 1401, Nr 1 (LT1-2)

SozSi 1997, 74

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