Entscheidungsstichwort (Thema)

Geschiedenenwitwenrente – Kindererziehung im Zeitpunkt der Ehescheidung – Vollendung des 18. Lebensjahres – Volljährigkeit – Überprüfungsantrag – erneute Prüfung bei rechtskräftiger Entscheidung – Bindungswirkung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Ein Kind kann nach § 243 Abs 3 Nr 2 Buchst a SGB 6 auch dann im Zeitpunkt der Scheidung erzogen worden sein, wenn es zwar schon das 18. Lebensjahr vollendet hatte, aber nach dem im Zeitpunkt der Scheidung geltenden Recht noch nicht volljährig war.

2. Lehnt die Behörde einen Antrag auf einen Zugunstenbescheid gemäß § 44 SGB 10 nach erneuter Prüfung unter Wiederholung der Begründung ihres früheren bindenden Bescheids ab, so ist die Klage gegen den neuen Bescheid nicht schon deswegen unbegründet, weil im Verwaltungsverfahren keine neuen Gesichtspunkte geltend gemacht worden sind.

Stand: 29. Oktober 2001

 

Normenkette

SGB VI § 243 Abs. 3 Nr. 2 Buchst. a, § 46 Abs. 2 S. 1 Nr. 1; SGB X § 44 Abs. 1 S. 1

 

Beteiligte

Landesversicherungsanstalt Schleswig-Holstein

 

Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches LSG (Urteil vom 18.04.2000; Aktenzeichen L 7 RJ 131/98)

SG Itzehoe (Entscheidung vom 20.08.1998; Aktenzeichen S 4 J 248/97)

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 18. April 2000 aufgehoben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Itzehoe vom 20. August 1998 zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.

 

Gründe

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin aus der Versicherung ihres geschiedenen Ehemannes eine sogenannte Geschiedenenwitwenrente seit Vollendung des 60. Lebensjahres zusteht.

Die im Mai 1932 geborene Klägerin war mit dem am 15. Juni 1979 verstorbenen Versicherten Rolf S. verheiratet. Die im Februar 1952 geschlossene Ehe wurde durch das am 11. Juli 1972 rechtskräftig gewordene Urteil des Landgerichts Itzehoe vom 8. Mai 1972 zur Alleinschuld des Versicherten geschieden. Aus der Ehe ging als einziges Kind der am 3. Januar 1953 geborene Sohn Gerd S. hervor. Aus Anlaß der Ehescheidung schlossen die Eheleute einen Vergleich, in dem sie ua wechselseitig auf Unterhalt verzichteten, jedoch nicht für den Fall des Notbedarfs. Durch Beschluß des Amtsgerichts Wedel vom 17. November 1972 wurde der Klägerin die elterliche Gewalt über den Sohn Gerd übertragen. Dieser besuchte von Februar bis September 1972 die Private Handels- und Sprachschule „R.” in H. und absolvierte anschließend eine Berufsausbildung zum Speditionskaufmann. Wie auch die Klägerin war er bis 21. Januar 1975 unter der Adresse B. 11 in W. polizeilich gemeldet.

Weder der Versicherte noch die Klägerin heirateten nach der Ehescheidung erneut. Der Versicherte lebte von Juli 1977 bis zu seinem Tod in einem Pflegeheim, nachdem er sich zuvor häufig in Obdachlosenasylen aufgehalten und ihm zur Verfügung stehendes Bargeld schnell für seinen hohen Alkoholverbrauch ausgegeben hatte. Von der ihm von der BfA zuletzt vor seinem Tod in Höhe von 1.330,90 DM monatlich gewährten Rente wegen Erwerbsunfähigkeit verblieb ihm während seines Aufenthaltes im Pflegeheim anfänglich ein monatliches Taschengeld von 80,– DM, zuletzt im Jahre 1979 in Höhe von 247,– DM monatlich. Die Klägerin hatte aus der von ihr ausgeübten Beschäftigung einen monatlichen Nettoarbeitsverdienst von 1.781,– DM im Jahre 1979 und von 1.675,– DM im Jahre 1978. Von Januar bis Oktober 1979 war sie arbeitslos mit einem Arbeitslosengeld von 1.198,60 DM monatlich.

Mit ihren 1983 und 1989 gestellten Anträgen auf Geschiedenenwitwenrente blieb die Klägerin erfolglos. Im Hinblick auf die bevorstehende Vollendung ihres 60. Lebensjahres beantragte sie am 24. März 1992 bei der Beklagten erneut Geschiedenenwitwenrente für die Zeit ab 1. Juni 1992 und machte zur Begründung insbesondere geltend, sie habe zum Zeitpunkt der Scheidung am 8. Mai 1972 ihren damals noch nicht volljährigen Sohn erzogen. Mit Bescheid vom 13. Oktober 1992 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. Juni 1993 lehnte die Beklagte den Antrag im wesentlichen mit der Begründung ab, die Klägerin habe zum Zeitpunkt der Scheidung am 8. Mai 1972 ihren nach dem damals geltenden Recht minderjährigen Sohn nicht iS von § 243 Abs 3 Nr 2 Buchst a iVm § 46 Abs 2 SGB VI erzogen. Hiernach werde ein Kind nur erzogen, wenn es das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet habe. Dies gelte auch für den Zeitraum vor dem 1. Januar 1975. Auf die Klage wurde die Rechtsauffassung der Beklagten sowohl vom SG Itzehoe als auch vom Schleswig-Holsteinischen LSG bestätigt. In den Entscheidungsgründen seines rechtskräftigen Urteils vom 6. März 1995 (L 7 J 51/94) teilte das LSG insbesondere auch nicht die von der Klägerin vorgetragenen verfassungsrechtlichen Bedenken.

Am 11. Oktober 1996 beantragte die Klägerin unter Hinweis auf § 44 SGB X erneut Geschiedenenwitwenrente und trug vor, die im Urteil des Schleswig-Holsteinischen LSG vom 6. März 1995 zugelassene Revision sei lediglich aus Krankheitsgründen nicht eingelegt worden. Die neue Diskussion um die eigenständige soziale Sicherung der Frau führe dazu, daß die Regelung, wonach die Erziehung des Sohnes mit dem 18. Lebensjahr ende, obwohl er nach dem damaligen Recht noch nicht volljährig gewesen sei und sich noch in Ausbildung befunden habe, verfassungswidrig sei. Diesen Antrag lehnte die Beklagte unter Wiederholung der Begründungen aus dem vorangegangenen Verfahren mit Bescheid vom 4. November 1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15. September 1997 ab. In der Begründung des Widerspruchsbescheids wurde ergänzend ausgeführt, da zu der hier anstehenden Problematik – soweit ersichtlich – bisher keine höchstrichterliche Rechtsprechung ergangen sei, habe der Widerspruchsausschuß auch nach nochmaliger Überprüfung zu keinem anderen Ergebnis gelangen können.

Auf die Klage hat das SG Itzehoe mit Urteil vom 20. August 1998 – nach vorheriger Zeugenvernehmung des Sohnes der Klägerin – die Beklagte unter Aufhebung des angefochtenen Bescheids verurteilt, der Klägerin unter Rücknahme des Bescheids vom 13. Oktober 1992 idF des Widerspruchsbescheids vom 7. Juni 1993 Geschiedenenwitwenrente ab 1. Juni 1992 zu gewähren. Es hat die Voraussetzungen für eine Rücknahme nach § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X bejaht, da die Beklagte zu Unrecht davon ausgegangen sei, daß die Klägerin mit Vollendung ihres 60. Lebensjahres keinen Anspruch auf Geschiedenenwitwenrente gemäß § 243 SGB VI habe. Denn die von der Beklagten vorgenommene, auch durch das Urteil des SG Itzehoe vom 8. März 1994 und das Urteil des Schleswig-Holsteinischen LSG vom 6. März 1995 bestätigte Auslegung der hier zentralen Vorschrift des § 243 Abs 3 Nr 2 Buchst a SGB VI begegne verfassungsrechtlichen Bedenken. Nach dem bis 31. Dezember 1991 geltenden § 1265 Abs 1 Satz 2 Nr 2 RVO und der hierzu ergangenen Rechtsprechung habe bis zum 31. Dezember 1991 regelmäßig die Erziehung eines noch nicht volljährigen Kindes, das sich noch in Ausbildung befunden habe, den Anspruch auf Geschiedenenwitwenrente begründen können. Ein solcher Fall sei hier gegeben, da sich der Sohn der Klägerin im Zeitpunkt der Scheidung am 11. Juli 1972 in einer Schul- oder Berufsausbildung befunden habe und auch noch nicht 21 Jahre alt, nach dem damaligen, bis zum 1. Januar 1975 geltenden Recht also auch noch nicht volljährig gewesen sei. Wenn § 243 Abs 3 Nr 2 Buchst a SGB VI im Sinne der Beklagten und der bisherigen Gerichtsentscheidungen interpretiert würde, wäre der Anspruch der Klägerin weniger als ein halbes Jahr, bevor sie die gesetzlichen Voraussetzungen mit der Vollendung ihres 60. Lebensjahres am 5. Mai 1992 habe erfüllen können, endgültig und ohne jede Übergangsregelung vernichtet worden. Für eine derartige unechte Rückwirkung des Gesetzes fehle es an einer verfassungsrechtlichen Legitimation. Im Hinblick darauf, daß nach der Gesetzesbegründung zu § 243 SGB VI eine Änderung überhaupt nicht beabsichtigt gewesen sei, sei deshalb diese Vorschrift verfassungskonform dahingehend auszulegen, daß sie auf den gesamten § 46 Abs 2 SGB VI verweise. Die in § 46 Abs 2 Satz 1 Nr 1 SGB VI genannte Altersgrenze, die inhaltlich an die bei Inkrafttreten dieser Vorschrift (1992) geltende Volljährigkeitsgrenze gemäß § 2 BGB anknüpfe, nehme auf die jeweils geltende Grenze der Volljährigkeit Bezug. Im Ergebnis werde diese Auffassung auch von Teilen der Literatur geteilt. Daß die entgegenstehenden Bescheide vom 13. Oktober 1992 und 7. Juni 1993 durch rechtskräftige Urteile bestätigt worden seien, stehe ihrer Rücknahme nach § 44 SGB X nach der Rechtsprechung des BSG nicht entgegen. Unter Beachtung der Vier-Jahres-Frist nach § 44 Abs 4 SGB X habe die Beklagte die Hinterbliebenenrente seit dem 1. Juni 1992 zu erbringen.

Auf die Berufung der Beklagten hat das LSG mit Urteil vom 18. April 2000 die erstinstanzliche Entscheidung aufgehoben und die Klage abgewiesen. Es hat ausgeführt: Entgegen der Rechtsansicht des SG seien die Voraussetzungen des § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X für eine Rücknahme des ablehnenden Bescheids der Beklagten vom 13. Oktober 1992 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 7. Juni 1993 und zugleich für die Bejahung eines Anspruchs der Klägerin auf Geschiedenenwitwenrente nicht gegeben. Zwar habe sich die Beklagte nicht ausdrücklich auf die Bindungswirkung ihres Bescheids vom 13. Oktober 1992 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 7. Juni 1993 berufen, sie habe aber für ihre erneute ablehnende Entscheidung durch die nunmehr angefochtenen Bescheide ausdrücklich auf die nach ihrer Ansicht auch in verfassungsrechtlicher Hinsicht umfassenden Gründe des Urteils des LSG vom 6. März 1995 verwiesen. Sie habe damit keine erneute Überprüfung vorgenommen, sondern lediglich den Inhalt ihrer alten Bescheide unter Hinweis auf dieses rechtskräftige Urteil in vollem Umfang wiederholt. Die Klägerin ihrerseits habe im jetzigen Rechtsstreit auch keine neuen Argumente vorgebracht, die nicht bereits Gegenstand des vorangegangenen Rechtsstreits gewesen wären. Nach inzwischen gefestigter höchstrichterlicher Rechtsprechung sei Sinn und Zweck des § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X jedoch nicht, bindend gewordene Verwaltungsakte lediglich auf die Wiederholung der in diesen Verwaltungsakten bereits gewürdigten Argumente einer erneuten Überprüfung zu unterziehen. Würden Einwände gegen einen bindend gewordenen Verwaltungsakt vorgebracht, so beschränke § 44 SGB X die Entscheidung auf den Einwand und lasse die Bindungswirkung im übrigen unberührt (BSG SozR 1300 § 44 Nr 33). Dies bedeute, daß eine erneute Sachprüfung trotz rechtskräftiger Entscheidung erst dann möglich sei, wenn zuvor zwei Hindernisse überwunden worden seien: Zunächst müßten Gründe geltend gemacht werden, die ihrer Art nach Wiederaufnahmegründe darstellten. Wenn dies geprüft und bejaht worden sei, sei weiter zu fragen, ob der geltend gemachte Wiederaufnahmegrund tatsächlich vorliege und das rechtskräftige Urteil auf einen Umstand gestützt worden sei, der infolge des Wiederaufnahmegrundes nunmehr zweifelhaft geworden sei. Am Ende dieses Verfahrensabschnitts sei dann zu entscheiden, ob das rechtskräftige Urteil aufzuheben sei. Erst wenn dies zu bejahen sei, könne als dritter Verfahrensabschnitt die erneute Sachprüfung des gesamten früheren und jetzt neu vorgetragenen Streitstoffes erfolgen (BSG aaO, S 89). Nur wenn die Prüfung zu dem Ergebnis führe, daß ursprünglich nicht beachtete Tatsachen oder Erkenntnisse vorlägen, die für die Entscheidung wesentlich seien, sei ohne Rücksicht auf die Bindungswirkung neu zu entscheiden (BSG aaO, S 90). Die Beklagte habe hier nicht schlechthin auf die Bindungswirkung ihres früheren Bescheids vom 13. Oktober 1992 verzichtet. Dies ergebe sich aus dem ausdrücklichen Hinweis auf die ihrer Ansicht nach weiterhin zutreffenden Entscheidungsgründe auch des Urteils des LSG vom 6. März 1995. Mit den verfassungsrechtlichen Argumenten, die das SG dargelegt habe, habe sich der Senat bereits in dem Urteil vom 6. März 1995 – allerdings nicht zugunsten der Klägerin – auseinandergesetzt; insoweit handele es sich bei der Entscheidung des SG lediglich um eine andere rechtliche Bewertung.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin sinngemäß eine Verletzung des § 44 SGB X und macht eine Verfassungswidrigkeit des § 243 Abs 3 Nr 2 Buchst a SGB VI geltend. Im Gegensatz zum SG sei sie der Meinung, daß das Verfahren hätte ausgesetzt und die streitige Regelung dem BVerfG zur Entscheidung hätte vorgelegt werden müssen. Das LSG habe mit seiner Rechtsauffassung nicht zur Klärung der Rechtsunsicherheit beigetragen, sondern die Problematik noch verstärkt. Es sei absurd, zunächst die Revision wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zuzulassen, aber dann unter Berufung auf die Bindungswirkung eine mögliche Vorlage zum BVerfG zu verhindern.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 18. April 2000 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Itzehoe vom 20. August 1998 zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie bezieht sich auf das Urteil des LSG und hält an ihrer Interpretation des § 243 Abs 3 Nr 2 Buchst a SGB VI fest.

II

Die zulässige Revision der Klägerin ist begründet. Entgegen der Rechtsauffassung des LSG und in Übereinstimmung mit der erstinstanzlichen Entscheidung ist die Beklagte verpflichtet, den (Ursprungs-)Bescheid vom 13. Oktober 1992 idF des Widerspruchsbescheids vom 7. Juni 1993 zurückzunehmen. Der Klägerin steht ein Anspruch auf Geschiedenenwitwenrente ab 1. Juni 1992 zu.

1. Mit dem angefochtenen Bescheid vom 4. November 1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15. September 1997 hat die Beklagte über den Antrag der Klägerin vom 11. Oktober 1996 entschieden, ihr die begehrte Geschiedenenwitwenrente im Wege eines Zugunstenbescheids nach § 44 SGB X zuzusprechen. Gemäß § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, wenn sich im Einzelfall ergibt, daß bei Erlaß des Verwaltungsakts das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Die Beklagte hat den Antrag der Klägerin abgelehnt, weil auch nach nochmaliger Überprüfung kein Anspruch auf die Gewährung von Geschiedenenwitwenrente gegeben sei. Diese Entscheidung ist gerichtlich daraufhin zu überprüfen, ob die Beklagte bei dieser Überprüfung zu dem Ergebnis hätte kommen müssen, daß sie mit ihrem früheren, bindend gewordenen Bescheid den Anspruch der Klägerin zu Unrecht abgelehnt hat.

Entgegen der Ansicht des LSG ist die Überprüfung nach § 44 SGB X nicht dadurch eingeschränkt, daß die Klägerin in ihrem Antrag vom 11. Oktober 1996 keine Argumente vorgetragen hat, die nicht bereits Gegenstand des durch rechtskräftiges Berufungsurteil vom 6. März 1995 abgeschlossenen früheren Verfahrens waren. Gegenteiliges ergibt sich auch nicht aus dem vom LSG in Bezug genommenen Urteil des 9. Senats des BSG vom 3. Februar 1988 (9/9a RV 18/86 – BSGE 63, 33, 35 = SozR 1300 § 44 Nr 33). Denn diese Entscheidung hatte „eine Fallgestaltung zum Gegenstand, bei der die Behörde nur geprüft (hatte), ob die Einwände gegen die bindenden Bescheide tatsächlich zutrafen, dies verneint und sich ohne weitere Sachprüfung auf die Bindungswirkung dieser Bescheide berufen (hatte)”, wie dies der 9. Senat mit Beschluß vom 9. August 1995 (9 BVg 5/95 – veröffentlicht in Juris) ausdrücklich klargestellt hat. Dabei hat der 9. Senat betont, er habe damit nicht ausgeschlossen, daß die Verwaltung von sich aus den Sachverhalt erneut umfassend prüft und damit auch die umfassende gerichtliche Nachprüfung ermöglicht. So aber liegt der Fall hier.

Die Beklagte hat sich – wie auch das LSG eingeräumt hat – nicht auf die Bindungswirkung des früheren Bescheids vom 13. Oktober 1992 berufen und deshalb den Überprüfungsantrag auch nicht ohne weitere Sachprüfung abgelehnt. Sie hat vielmehr in dem angefochtenen Bescheid vom 4. November 1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15. September 1997 für ihre erneute ablehnende Entscheidung – unter Wiederholung der früheren Argumente – im einzelnen dargelegt, weshalb – mangels Erziehung eines waisenrentenberechtigten Kindes – ein Anspruch auf Geschiedenenwitwenrente nicht in Betracht komme.

Die (weitgehende) Wiederholung der bisherigen Begründungen bedeutet keineswegs, daß die Beklagte nicht in eine erneute Sachprüfung eintreten wollte. Insoweit vermag der Senat die ihn nicht bindende Auslegung des streitbefangenen Bescheids durch das LSG nicht zu teilen. Im übrigen hat der 9. Senat im Urteil vom 3. Februar 1988 (aaO, BSGE 63, 33 = SozR 1300 § 44 Nr 33) dem Gericht keineswegs untersagt, auf eine Klage gegen einen ablehnenden Bescheid nach § 44 SGB X die Rechtswidrigkeit des bindenden Bescheids zu berücksichtigen. Wenn das Gericht jene Rechtswidrigkeit (auch ohne daß der Kläger neue Argumente vorgetragen hat) erkennt, „ergibt” sich vielmehr dadurch „im Rahmen eines Antrags auf Zugunstenbescheid” etwas, „was für die Unrichtigkeit der Vorentscheidung sprechen könnte” (BSG aaO, BSGE 63, 33, 35 = SozR 1300 § 44 Nr 33).

Das SG war somit nicht gehindert, in eine Sachprüfung einzutreten. Denn abgesehen davon, daß – wie bereits dargelegt – die Beklagte sich weder ganz noch teilweise auf eine Bindungswirkung ihres früheren Bescheids berufen hat, war das SG seinerseits verpflichtet, die Voraussetzungen des § 44 SGB X zu überprüfen. § 44 SGB X ist zwar eine Regelung über das Verwaltungsverfahren, was vor allem bedeutet, daß nur die Behörden zur Aufhebung von Verwaltungsakten nach dieser Vorschrift befugt sind. Doch dies ändert nichts daran, daß diese Vorschrift von den Gerichten anzuwenden ist und daher von ihnen – ohne Rücksicht auf die Substantiierung des Überprüfungsantrags – ein etwaiger Rechtsfehler von Amts wegen zu berücksichtigen ist. Von daher hat das SG zu Recht – wie bei einem Erstantrag – überprüft, ob der Klägerin der in der Sache geltend gemachte Anspruch auf Geschiedenenwitwenrente zustand.

2. Zu Recht hat das SG in seiner Entscheidung die Voraussetzungen des § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X bejaht. Denn die Beklagte ist zu Unrecht davon ausgegangen, daß die Klägerin Geschiedenenwitwenrente auch mit Vollendung ihres 60. Lebensjahres nicht beanspruchen könne. Dabei hat es zutreffend den Anspruch der Klägerin nach den Vorschriften des SGB VI (hier: § 243 Abs 3 SGB VI in der bis zum 31. Dezember 2000 gültigen Fassung) beurteilt, die gemäß § 300 Abs 1 und 2 SGB VI anzuwenden sind, weil der Anspruch erst nach dem 1. Januar 1992 entstanden ist und vor der Änderung des § 243 SGB VI durch das Gesetz vom 20. Dezember 2000 (BGBl I, 1827) geltend gemacht worden ist.

a) Unter der hier gegebenen Voraussetzung, daß der Versicherte die allgemeine Wartezeit erfüllt hat und nach dem 30. April 1942 verstorben ist, besteht unter den näheren Voraussetzungen des § 243 SGB VI ein Anspruch auf Witwenrente auch für geschiedene Ehegatten. Sie haben nach § 243 Abs 1 SGB VI Anspruch auf kleine Witwenrente, wenn

  1. ihre Ehe vor dem 1. Juli 1977 geschieden ist,
  2. sie nicht wieder geheiratet haben und
  3. sie im letzten Jahr vor dem Tode des Versicherten Unterhalt von diesem erhalten haben oder im letzten wirtschaftlichen Dauerzustand vor dessen Tod einen Anspruch hierauf hatten.

Nach § 243 Abs 2 SGB VI haben sie einen Anspruch auf große Witwenrente, wenn sie zusätzlich

4. entweder

  1. ein eigenes Kind oder ein Kind des Versicherten erziehen (§ 46 Abs 2),
  2. das 45. Lebensjahr vollendet haben oder
  3. berufunfähig oder erwerbsunfähig sind.

Die Klägerin hat, da ihre Ehe vor dem 1. Juli 1977 geschieden wurde, sie nicht wieder geheiratet und auch das 45. Lebensjahr vollendet hat, die Voraussetzungen Nr 1, 2 und 4 Buchst b, nicht jedoch Voraussetzung Nr 3 erfüllt. Unstreitig hat ihr der Versicherte im letzten Jahr vor seinem Tod keinen Unterhalt gezahlt. Im letzten wirtschaftlichen Dauerzustand vor seinem Tod war er auch nicht zur Unterhaltsleistung verpflichtet. Zwar schließt der anläßlich der Scheidung vereinbarte Unterhaltsverzicht den Rentenanspruch des früheren Ehegatten nicht aus, wenn er wie hier einen ausdrücklichen Vorbehalt für den Fall des Notbedarfs enthält (vgl BSG Urteile vom 11. September 1980 – 5 RJ 60/79 – BSGE 50, 208 = SozR 2200 § 1265 Nr 50 und vom 5. November 1980 – 11 RA 126/79 – stRspr). Nach dem im Zeitpunkt der Scheidung geltenden und deshalb für die Beurteilung eines nachehelichen Unterhaltsanspruchs maßgeblichen (so schon BSG Urteil vom 21. August 1957 – 3 RJ 151/55 – BSGE 5, 276 = SozR Nr 3 zu § 1256 RVO aF) Ehegesetz bestand jedoch ein Unterhaltsanspruch der Klägerin aufgrund des Alleinverschuldens des Versicherten an der Scheidung nach § 58 Abs 1 iVm § 59 Abs 1 EheG nur nach Maßgabe ihrer Bedürftigkeit und der Leistungsfähigkeit des Versicherten. Daran fehlt es hier. Der letzte wirtschaftliche Dauerzustand rechnet von der letzten, vor dem Tod des Versicherten eingetretenen wesentlichen Änderung der Einkommensverhältnisse der geschiedenen Ehegatten (BSG Urteil vom 23. März 1961 – 4 RJ 13/60 – BSGE 14, 129 = SozR Nr 1 zu § 1266 RVO, stRspr) und war hier einerseits durch die Unterbringung des Versicherten im Pflegeheim und andererseits die Arbeitslosigkeit der Klägerin bestimmt. In dieser Zeit bezog die Klägerin Arbeitslosengeld in Höhe von etwa 1.200,– DM monatlich, während der Versicherte Hilfe zum Lebensunterhalt nach § 21 Abs 3 BSHG in Form eines Taschengeldes erhalten hat und – wie vom SG festgestellt – sein Rentenanspruch in Höhe von zuletzt 1.330,90 DM monatlich auf den zuständigen Sozialhilfeträger übergeleitet worden war. Demzufolge kommt ein Anspruch der Klägerin nach § 243 Abs 2 SGB VI nicht in Betracht.

b) Nach § 243 Abs 3 SGB VI besteht jedoch im Fall, daß – wie hier – ein Anspruch auf Hinterbliebenenrente für eine Witwe des Versicherten aus dessen Rentenanwartschaften nicht besteht, Anspruch auf große Witwenrente auch ohne Vorliegen der in § 243 Abs 2 Nr 3 genannten Unterhaltsvoraussetzungen für geschiedene Ehegatten, die

  1. einen Unterhaltsanspruch nach Abs 2 Nr 3 wegen eines Arbeitsentgelts oder Arbeitseinkommens aus eigener Beschäftigung oder selbständiger Tätigkeit oder entsprechender Ersatzleistungen oder wegen des Gesamteinkommens des Versicherten nicht hatten und
  2. im Zeitpunkt der Scheidung entweder

    1. ein eigenes Kind oder ein Kind des Versicherten erzogen haben (§ 46 Abs 2) oder
    2. das 45. Lebensjahr vollendet hatten und
  3. entweder

    1. ein eigenes Kind oder ein Kind des Versicherten erziehen (§ 46 Abs 2),
    2. berufsunfähig oder erwerbsunfähig sind oder
    3. das 60. Lebensjahr vollendet haben.

Diese Voraussetzungen sind hier gegeben. Die Klägerin hat mit der Vollendung ihres 60. Lebensjahrs am 5. Mai 1992 die Voraussetzung des Abs 3 Nr 3 Buchst c erfüllt. Sie hat ferner wegen des Bezugs von Arbeitslosengeld, das als Erwerbsersatzeinkommen anzusehen ist (§ 97 Abs 1 SGB VI iVm § 18a Abs 3 Nr 1 SGB IV; vgl auch zum früheren Recht BSG Urteil vom 7. September 1982 – 1 RA 21/81 – SozR § 1265 Nr 67) und der fehlenden Unterhaltsfähigkeit des Versicherten – wie zuvor unter a) dargelegt – iS der Voraussetzung Nr 1 keinen Unterhaltsanspruch gehabt (vgl Senatsurteil vom 22. September 1999 – B 5 RJ 52/98 R – SozR 3-2600 § 243 Nr 7 mwN). Entgegen der Auffassung der Beklagten erfüllt die Klägerin aber auch die Voraussetzung des Abs 3 Nr 2 Buchst a. Dabei ist zu berücksichtigen, daß sie im Zeitpunkt der Scheidung nach dem damals geltenden, insoweit erst 1975 durch die Herabsetzung des Volljährigkeitsalters mit Gesetz vom 31. Juli 1974 (BGBl I, 1773) geänderten Recht Erziehungsberechtigte ihres minderjährigen, noch in Schulausbildung befindlichen Sohnes Gerd war und – wie bereits in dem LSG in Bezug genommenen Vorprozeß (L 7 J 51/94) festgestellt – ihren Erziehungspflichten in dieser Zeit auch nachgekommen ist.

§ 243 Abs 3 Nr 2 Buchst a SGB VI verweist zwar zur Auslegung des Tatbestands „ein eigenes Kind … erzogen haben” ausdrücklich auf § 46 Abs 2 SGB VI. Diese Verweisung ist aber nicht dahin zu verstehen, daß die ab 1975 und damit bei Inkrafttreten des SGB VI schon längere Zeit geltende, in § 46 Abs 2 Satz 1 Nr 1 SGB VI angeführte gesetzliche Volljährigkeitsgrenze von 18 Jahren rückwirkend auch für vor 1975 erzogene Kinder den Begriff der „Erziehung” definiert. Das allein am Wortlaut der Verweisung orientierte Verständnis der Beklagten wird dem Sinn und Zweck eines an die Kindererziehung zum Zeitpunkt der Scheidung geknüpften Anspruchs auf große Witwen- oder Witwerrente für frühere Ehegatten nicht gerecht und führt zu vom Gesetzgeber nicht beabsichtigten unterschiedlichen Bewertungen im wesentlichen gleicher Erziehungsleistungen. Deshalb ist die hier im Streit stehende Verweisung so zu verstehen, daß sie sich am jeweils „im Zeitpunkt der Scheidung” geltenden Volljährigkeitsalter orientiert, wie dies § 243 Abs 3 Nr 2 Buchst a SGB VI in der einleitenden Formulierung vorgibt (ebenso zu der Vorläuferregelung des § 1265 RVO Verbandskomm, § 1265 RVO RdNr 18, Stand: 1. Juli 1989; abweichend möglicherweise Verbandskomm, § 243 SGB VI RdNr 12, Stand: Januar 1992). Anders als das SG läßt der Senat offen, ob die von der Beklagten vorgenommene Auslegung verfassungswidrig ist. Denn jedenfalls ist sie – wovon auch das SG ausgeht – bereits einfachrechtlich nicht zwingend und ermöglicht daher auch die vom Senat vertretene Interpretation (vgl auch Kamprad in Hauck, Komm zum SGB VI, § 243 RdNr 85). Diese entspricht nach Auffassung des Senats bereits dem Wortlaut und dem Sinn des Gesetzes. Sie trägt darüber hinaus auch dem in der Rechtsprechung des BVerfG aufgestellten Grundsatz einer sogenannten verfassungsgeleiteten Interpretation Rechnung. Danach ist – unterstellt, die anzuwendende Gesetzesvorschrift lasse mehrere Deutungen zu – diejenige zu wählen, die der grundgesetzlichen Werteordnung (hier: Art 3 Abs 1 GG, Rechtsstaatsprinzip) die stärkste Wirkung verleiht (BVerfG Urteil vom 25. Februar 1975 – 1 BvF 1/74 ua – BVerfGE 39, 1, 38 sowie Beschlüsse vom 3. April 1979 – 1 BvR 994/76 – BVerfGE 51, 97, 110 und vom 9. Februar 1982 – 1 BvR 799/78 – BVerfGE 59, 330, 334, jeweils mwN).

aa) Für das Verständnis der in § 243 Abs 3 Nr 2a SGB VI enthaltenen Verweisung auf § 46 Abs 2 SGB VI ist zunächst zu berücksichtigen, daß die beiden Vorschriften an unterschiedliche Zeiten der Kindererziehung anknüpfen und unterschiedliche Zielsetzungen haben.

§ 46 Abs 2 SGB VI regelt den Anspruch auf große Witwen- und Witwerrente und begünstigt mithin Witwen und Witwer, die bereits die Voraussetzungen für einen Rentenanspruch nach dem Versicherten nach § 46 Abs 1 SGB VI erfüllt haben. § 243 Abs 3 SGB VI begünstigt frühere Ehegatten des Versicherten, die einen Anspruch auf Rente aus dessen Versicherung ausschließlich unter den Voraussetzungen des § 243 Abs 3 SGB VI haben. Für die große Witwen- oder Witwerrente berücksichtigt § 46 Abs 2 SGB VI in seinem Satz 1 Nr 1 iVm den Sätzen 2 und 3 die nach dem Tod des Versicherten durch die Witwe oder den Witwer wahrgenommene Kindererziehung. § 243 Abs 3 SGB VI berücksichtigt hingegen in seiner Nr 2 Buchst a Erziehungsleistungen des geschiedenen Ehegatten zum Zeitpunkt der Scheidung. Daraus ergeben sich unterschiedliche Zielsetzungen:

Mit der Zahlung einer großen Witwen- oder Witwerrente für die Dauer der Kindererziehung werden Benachteiligungen derjenigen Witwen und Witwer vermieden, denen im Interesse der Kindererziehung eine Erwerbstätigkeit nicht zugemutet wird (BSG Urteile vom 30. August 1967 – 4 RJ 43/67 – BSGE 27, 139, 141 = SozR Nr 9 zu § 1268 RVO und vom 26. November 1970 – 12 RJ 368/68 – BSGE 32, 117, 118 = SozR Nr 18 zu § 1268 RVO). Mit der Gewährung einer Witwen- und Witwerrente an den früheren Ehegatten nach § 243 Abs 3 SGB VI erhält hingegen der geschiedene Ehegatte, der ehebedingt Defizite in seiner sozialen Absicherung, insbesondere im Aufbau einer Altersversorgung hat, bei Vorliegen besonderer Bedarfslagen (zu denen wiederum auch eine Kindererziehung nach dem Tod des Versicherten, gleichermaßen jedoch die Vollendung des 60. Lebensjahrs gehört) einen Ausgleich. Hier gilt als typisierender Anhaltspunkt für einen ehebedingten Nachteil der Umstand, daß eine jener Bedarfslagen im Zeitpunkt der Scheidung bestand (Wannagat, SGB-Komm, § 243 SGB VI, RdNr 79, Stand: November 1995; BSG Urteil vom 25. November 1982 – 5b RJ 14/82 – BSGE 54, 188, 190 mwN = SozR 2200 § 1265 RVO Nr 69).

bb) Wenn § 243 SGB VI in seinem Abs 3 Nr 2 Buchst a wie auch in Nr 3 Buchst a und ebenso in seinem Abs 2 Nr 4 Buchst a nicht jeweils definiert, was mit Kindererziehung gemeint ist, sondern auf § 46 Abs 2 SGB VI verweist, so läßt dies den Schluß zu, daß die dort genannten Erziehungsleistungen für die Rentengewährung gleich bewertet werden sollen. Es sollen also neben einem eigenen Kind und einem Kind des Versicherten, die beide schon in § 243 Abs 3 Nr 2 Buchst a SGB VI genannt sind, als Kinder auch die in § 46 Abs 2 Satz 2 SGB VI aufgeführten Personen berücksichtigt werden, und als Erziehung soll auch eine iS des § 46 Abs 2 Satz 3 SGB VI ausgeübte Sorge für die dort genannten Personen gelten.

Der Begriff der Erziehung ist in § 46 Abs 2 SGB VI allerdings nicht abschließend definiert. Jedoch läßt sich der Gegenüberstellung von „Erziehung” und „Sorge” in § 46 Abs 2 Satz 3 im Zusammenhang mit dem Erfordernis in § 46 Abs 2 Satz 1 Nr 1 SGB VI, daß das Kind das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, entnehmen, daß der Begriff der Erziehung zwar einerseits im tatsächlichen Sinn verwendet wird, zum anderen aber auf die Minderjährigkeit des Kindes abgestellt wird. Dies stimmt mit der Rechtsprechung des BSG zu der entsprechenden früheren Regelung des § 1268 Abs 2 Nr 2 RVO überein, wonach die rentenrechtliche Begünstigung der Kindererziehung in Annäherung an die bürgerlich- und familienrechtliche Ordnung an die tatsächliche Wahrnehmung der Erziehungsfunktion gebunden ist, welche regelmäßig mit der Volljährigkeit des Kindes endet und nur im Rahmen der einer Erziehung gleichgestellten Sorge für Kinder, die wegen körperlicher oder geistiger Gebrechen außerstande sind, sich selbst zu unterhalten, auch volljährige Personen umfaßt (vgl BSG Urteile vom 30. August 1967 – 4 RJ 43/67 – BSGE 27, 139 = SozR Nr 9 zu § 1268 RVO, vom 11. Juli 1974 – 4 RJ 205/73 – BSGE 38, 44 = SozR 2200 § 1268 Nr 3 und vom 11. September 1980 – 5 RJ 40/80 – SozR 2200 § 1268 Nr 16; BVerfG Beschluß vom 24. Oktober 1979 – 1 BvR 972/79 – SozR 2200 § 1268 Nr 17). Dabei wurde auf das jeweils im Zeitraum der Erziehung geltende Volljährigkeitsalter abgestellt (vgl BSG Urteil vom 19. Juni 1979 – 5 RJ 16/78 – SozR 2200 § 1268 Nr 12 zum Wegfall der erhöhten Witwenrente mit Änderung des Volljährigkeitsalters). Entsprechend läßt sich die Eingrenzung des Erziehungsbegriffs in § 46 Abs 2 SGB VI für § 243 Abs 3 Nr 2 Buchst a SGB VI in der Weise verstehen, daß im Zeitpunkt der Scheidung dann ein Kind erzogen worden sein kann, wenn es das damals geltende Volljährigkeitsalter noch nicht erreicht hatte.

cc) Dieses Verständnis wird durch die Gesetzesbegründung bestätigt. Eine nachträglich unterschiedliche Bewertung der Erziehungsleistungen und der damit verbundenen ehebedingten Nachteile für die soziale Absicherung war vom Gesetzgeber – wie das SG bereits in seiner Entscheidung ausgeführt hat – nach den Gesetzesmaterialien nicht beabsichtigt. Denn danach sollten durch die jetzige Regelung des § 243 SGB VI lediglich die Anspruchsvoraussetzungen für die Witwen- und Witwerrente an geschiedene Ehegatten zusammengefaßt werden (vgl BT-Drucks 11/4124, S 199, zu § 238).

Die Argumentation der Beklagten, es handele sich bei der Begrenzung der Erziehungsleistung durch die Vollendung des 18. Lebensjahrs um eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Stichtagsregelung, und für entsprechende Überlegungen zu einer möglichen Härtefallregelung sei kein Platz, weil es bei der Neuregelung der Geschiedenenwitwenrente nur um den Ausgleich der Nachteile auf Seiten des Erziehenden bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres des jeweils erzogenen Kindes gehe, übersieht, daß Sinn und Zweck der Regelung des § 243 Abs 3 SGB VI genauso wie der Vorläuferregelung in § 1265 Abs 1 Satz 2 RVO gerade darin besteht, Härten auszugleichen, wenn der geschiedene Ehegatte ua durch Kindererziehung an der (vollen) Eingliederung in das Berufsleben gehindert ist (vgl BSG Urteil vom 12. Dezember 1974 – 1 RA 125/74 – BSGE 38, 269, 271 = SozR 2200 § 1265 Nr 2).

Da die Klägerin die Anspruchsvoraussetzungen für eine Geschiedenenwitwenrente im Zeitpunkt des Erlasses des Bescheids vom 13. Oktober 1992 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 7. Juni 1993 erfüllte, sind diese Bescheide rechtswidrig. Die Beklagte ist verpflichtet, diese rechtswidrigen Bescheide zurückzunehmen und der Klägerin gemäß § 44 Abs 4 SGB X iVm § 99 Abs 2 Satz 1 SGB VI eine Geschiedenenwitwenrente ab 1. Juni 1992 zu gewähren; denn – wie vom LSG festgestellt – hat eine im Berufungsverfahren von der Beklagten durchgeführte Probeberechnung ergeben, daß der Klägerin auch unter Berücksichtigung von anrechenbarem Einkommen (§ 97 Abs 1 SGB VI) ein Rentenanspruch zusteht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 641258

NJW 2002, 318

NWB 2001, 2093

SozR 3-2600 § 243, Nr. 8

AuS 2001, 61

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Haufe Personal Office Platin. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge