Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 14.04.1994; Aktenzeichen L 7 U 600/91)

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 14. April 1994 wird zurückgewiesen.

Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Streitig ist die Gewährung von Übergangsleistungen in analoger Anwendung des § 3 Abs 2 der Berufskrankheiten-Verordnung (≪BKVO≫ vom 20. Juni 1968, BGBl I 721 idF der Verordnung vom 8. Dezember 1976, BGBl I 3329) wegen einer drohenden Verschlimmerung von Unfallfolgen.

Der Kläger wurde während seiner Tätigkeit als Signalarbeiter bei der Deutschen Bundesbahn am 24. August 1989 von einem vorbeifahrenden Zug erfaßt und verletzt. Mit bindend gewordenem Bescheid vom 6. März 1991 stellte die Beklagte als Unfallfolgen „endgradige Bewegungseinschränkung im Bereich des linken Hüftgelenkes, erhebliche Verkalkungen im Bereich der Symphyse und Veränderungen im Bereich beider Iliosakralfugen mit Linksbetonung” fest und gewährte dem Kläger für die Zeit vom 15. Mai 1990 bis Ende Januar 1991 Verletztenrente nach einer MdE von 20 vH. Dagegen lehnte es die Beklagte ab, auch für die anschließende Zeit Rente zu gewähren, weil keine rentenberechtigende Minderung der Erwerbsfähigkeit mehr vorliege.

Aufgrund der durch den Arbeitsunfall erlittenen Gesundheitsschäden kann der Kläger die zuletzt ausgeübte Tätigkeit eines Signalarbeiters nicht mehr verrichten, ohne daß die Gefahr einer Verschlimmerung dieser Schäden eintritt. Er hat diese Arbeit auch nicht mehr aufgenommen.

Seinen im Juni 1992 gestellten Antrag auf Gewährung von Leistungen in analoger Anwendung des § 3 BKVO lehnte die Beklagte mit der Begründung ab, das weitere Verbleiben des Klägers am Arbeitsplatz würde nicht zu einer der in der Liste der Berufskrankheiten (BK) aufgeführten Erkrankung führen und eine analoge Anwendung des § 3 BKVO auf Arbeitsunfälle scheide aus, weil es sich bei dieser Vorschrift nicht um eine echte Entschädigungsleistung, sondern um eine Maßnahme der Vorbeugung und Krankheitsverhütung bei BK handele (Bescheid vom 19. August 1992). Den hiergegen eingelegten Widerspruch leitete die Beklagte mit Zustimmung des Klägers dem Sozialgericht (SG) zu.

Mit Gerichtsbescheid vom 7. Juni 1993 hat das SG Mannheim die Klage abgewiesen. Das Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) hat die Berufung mit Urteil vom 14. April 1994 zurückgewiesen. Seinem eindeutigen Wortlaut nach sei § 3 BKVO nur bei Gesundheitsgefahren anzuwenden, die mit Bezug auf eine BK drohten. Bei den beim Kläger vorliegenden Gesundheitsstörungen handele es sich aber nicht um Folgen einer BK, sondern um solche eines Arbeitsunfalles. Für derartige Fälle gebe es keine dem § 3 BKVO entsprechende Vorschrift. Eine analoge Anwendung scheide aus (Entscheidung des Senats in Breithaupt 1989, 28). Anders als bei BK könne mit den Maßnahmen nach § 3 BKVO die Entstehung von Gesundheitsgefahren durch Arbeitsunfälle, welche sich als plötzliche und unerwartet auftretende Ereignisse darstellten, nicht präventiv bekämpft werden. Übergangsleistungen könnten in diesem Fall nur einen durch die Unfallfolgen entstandenen konkreten Vermögensschaden ausgleichen, nicht aber vorbeugend und krankheitsverhütend wirken, wie dies Sinn der Vorschrift sei. Aus diesem Grunde liege auch kein Verstoß gegen Art 3 Abs 1 Grundgesetz (GG) vor. Die unterschiedlichen Lebenssachverhalte BK und Arbeitsunfall rechtfertigten eine unterschiedliche Behandlung.

Mit der – vom LSG zugelassenen – Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 3 Abs 2 BKVO und des Art 3 GG. Dem LSG sei schon nicht beizupflichten, daß § 3 BKVO ausschließlich als Präventionsmaßnahme zu sehen sei. So sei zwar das Herausnehmen aus der gefährdenden Tätigkeit präventiv zu bewerten, die sich daraus ergebenden finanziellen Leistungen gehörten jedoch dem materiellen Entschädigungsrecht an. Es sei eine sachwidrige Ungleichbehandlung, dem an einer BK Erkrankten oder von einer BK Gefährdeten den Verdienstausfall zu entschädigen, den in vergleichbarer Situation stehenden Unfallgeschädigten aber entschädigungslos zu lassen. § 3 Abs 2 BKVO könne daher verfassungskonform nur so ausgelegt werden, daß Unfallgeschädigte, deren Verletzungsfolgen wegen ihres Ausmaßes zwar noch keine eigenständige Entschädigung in Form einer Teilrente zulassen würden, gleichwohl die Verrichtung der zuletzt ausgeübten Tätigkeit verböten, weil dadurch die Gefahr der Verschlimmerung und somit der Eintritt einer Entschädigungspflicht entstehen könne, nicht von dieser Leistung ausgeschlossen werden dürften. Nur so erhielten sowohl der an einer BK Erkrankte als auch der durch einen Arbeitsunfall Geschädigte Leistungen in gleichem Maße. Anders ließe sich diese Regelungslücke nicht ausgleichen. Insbesondere biete § 567 Reichsversicherungsordnung (RVO) keinen entsprechenden Ausgleich. Sollte das Bundessozialgericht (BSG) einer derartigen Auslegung bzw analogen Anwendung des § 3 Abs 2 BKVO nicht zuneigen, müßte der Rechtsstreit ausgesetzt und eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts eingeholt werden.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 14. April 1994 sowie den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 7. Juni 1993 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 19. August 1992 zu verurteilen, ihm wegen der Folgen des Arbeitsunfalles vom 24. August 1989 Übergangsleistungen nach § 3 Abs 2 BKVO zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫).

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision ist unbegründet.

Eine Übergangsleistung nach § 3 Abs 2 BKVO vom 20. Juni 1968 (BGBl I 721) steht dem Kläger nicht zu, weil er nicht von einer BK-Gefahr bedroht würde, wenn er seine Tätigkeit als Signalarbeiter wieder aufnähme.

Die einzelnen Absätze des § 3 der BKVO stehen durch den einheitlichen Zweck der individuellen Prävention gegen eine BK in einem Gesamtzusammenhang. Anlaß dafür sind im Sinne des § 551 Abs 1 RVO besondere, schädigende Einwirkungen durch die Arbeit, die die Gefahr einer BK begründen.

Als BK darf die Bundesregierung nach § 551 Abs 1 Satz 2 RVO solche Krankheiten bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch die Arbeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind. Dieser generellen Gefahr durch schädigende Einwirkungen, die zur Aufnahme einer bestimmten Krankheit in die BK-Liste führt (s auch Römer, BG 1994, 237 ff, 238), haben die Träger der Unfallversicherung grundsätzlich mit allen geeigneten Mitteln vorzubeugen (§ 546 Abs 1, § 551 Abs 1 Satz 1 und Abs 3 Satz 1 RVO; s das Urteil des Senats vom 22. März 1983 – 2 RU 22/81 – in HVGBG RdSchr VB 3/84).

Versicherte, die trotz dieser allgemeinen Prävention gegenüber der generellen Gefahr solchen besonderen schädigenden Einwirkungen durch ihre Arbeit ausgesetzt sind, können deswegen unter einer in zeitlich zunehmendem Maße anwachsenden, konkreten, individuellen Gefahr stehen, an einer BK zu erkranken, die sich grundsätzlich von einer Unfallgefahr unterscheidet. Solche konkrete, individuelle Gefahr meint § 551 Abs 4 Satz 1 Nr 4 RVO, der die Bundesregierung ermächtigt, mit Zustimmung des Bundesrates Art und Höhe besonderer Leistungen zur Verhütung einer BK oder ihres Wiederauflebens oder ihrer Verschlimmerung zu regeln. Dem ist der Verordnungsgeber in § 3 BKVO nachgekommen. Diese besondere individuelle Gefahr für den Versicherten ist der Schlüssel zur Anwendung des § 3 BKVO, der die individuelle BK-Prävention zum Ziel hat (s Römer aaO S 237).

Besteht für einen Versicherten die Gefahr, daß eine BK entsteht, wiederauflebt oder sich verschlimmert, so hat der Träger der Unfallversicherung nach § 3 Abs 1 BKVO mit allen geeigneten Mitteln dieser Gefahr entgegenzuwirken. Ist die Gefahr für den Versicherten nicht zu beseitigen, hat der Träger der Unfallversicherung ihn aufzufordern, die gefährdende Tätigkeit zu unterlassen. Stellt der Versicherte die Tätigkeit ein, weil die Gefahr für ihn nicht zu beseitigen ist, so hat ihm der Träger der Unfallversicherung nach Abs 2 aaO zum Ausgleich hierdurch verursachter Minderung des Verdienstes oder sonstiger wirtschaftlicher Nachteile eine Übergangsleistung zu gewähren. Dabei ist es rechtlich unerheblich, ob zuvor die Aufforderung zur Aufgabe der gefährdenden Tätigkeit ergangen ist oder nicht; es genügt die objektive Gefahrenlage (Amtliche Begründung zum Entwurf der 7. BKVO, BR-Drucks 128/68 S 3; BSG Urteil vom 25. Oktober 1989 – 2 RU 57/88 – in HV-Info 1990, 260). Die für eine BK relevanten, besonderen, schädigenden Einwirkungen müssen den Versicherten am konkreten Arbeitsplatz treffen und in seiner Person die individuelle Gefahr begründen, daß sie im Sinne der Kausalitätsanforderungen in der gesetzlichen Unfallversicherung eine BK entstehen, wiederaufleben oder verschlimmern lassen (BSGE 40, 146, 148; Römer aaO S 237).

Vorläufer ist § 6 der Verordnung über Ausdehnung der Unfallversicherung auf gewerbliche BK vom 12. Mai 1925 (RGBl I 69), der es noch in das Ermessen des Versicherungsträgers stellte, eine „Übergangsrente bis zur Hälfte der Vollrente” zu gewähren, wenn zu befürchten war, daß eine gewerbliche BK entstehen, wiederentstehen oder sich verschlimmern werde. In der Amtlichen Begründung dazu (Reichsarbeitsblatt ≪Amtl.Teil≫ 1925 S 262, 264 zu § 8 des Entwurfs = § 6 der VO) ist ausgeführt, die Vorschrift diene der Vorbeugung und Krankheitsverhütung. Wenn bei einem Versicherten festgestellt werde, daß sich bei ihm Anzeichen einer beginnenden BK bemerkbar machten, so sei oft mit großer Wahrscheinlichkeit ein Ausbruch oder eine Verschlimmerung der Krankheit vorauszusehen, wenn der Versicherte die seine Gesundheit bedrohende Beschäftigung fortsetze. Auch bei einem Genesenden könne häufig einem Wiederausbruch der Krankheit nur dadurch vorgebeugt werden, daß er die Wiederaufnahme der ihm gefährlichen Arbeit unterlasse. Die Durchführung der ärztlichen Forderung nach Aufgabe der Beschäftigung scheitere aber vielfach daran, daß der Versicherte von dem Übertritt in einen anderen Beruf Minderungen seines Arbeitsverdienstes oder andere wirtschaftliche Schädigungen (zB einen Umzug) fürchte. Für diesen Fall solle der Versicherungsträger ihm durch Gewährung einer Übergangsrente helfen können. Die Amtliche Begründung zum Dritten Gesetz über Änderungen in der Unfallversicherung vom 20. Dezember 1928 (RGBl I 405) erläutert diese Vorschrift dahin, auch § 6 der Verordnung vom 12. Mai 1925 über die sogenannte Übergangsrente gelte zur Zeit nur für BK im bisherigen Sinne und könne ohne Änderung des Gesetzes auf gleichartige Krankheiten, die auf einem Unfall beruhten, nicht ausgedehnt werden (RT-Drucks IV/234 zu Art 4 S 18). Diese Regelung wurde im Grundsatz durch § 3 der Siebenten BKVO vom 20. Juni 1968 (BGBl I 721) übernommen mit der Maßgabe, daß aus einer Sollvorschrift (eingeführt durch § 5 der Dritten Verordnung über Ausdehnung der Unfallversicherung auf BK vom 16. Dezember 1936 ≪RGBl I 1117≫) eine Mußvorschrift und die Übergangsrente zeitlich auf fünf Jahre begrenzt wurde.

Der Anspruch auf eine Übergangsleistung nach § 3 Abs 2 BKVO steht dem Kläger somit nach Wortlaut und Sinn dieser Vorschrift nicht zu, weil er weder an einer BK leidet noch bei der vom Streit betroffenen versicherten Tätigkeit von einer konkreten, individuellen BK-Gefahr bedroht wird.

Davon zu unterscheiden ist die unspezifische Erkrankungsgefahr, der der Kläger stattdessen nach den bindenden Feststellungen des LSG ausgesetzt wäre, wenn er seine zuletzt ausgeübte Tätigkeit eines Signalarbeiters fortsetzen würde. Der durch den Arbeitsunfall hervorgerufene Gesundheitsschaden, seine Unfallfolgen, würde sich dann verschlimmern. Auch diese Erkrankungsgefahr muß der Träger der Unfallversicherung gemäß § 546 Abs 1 RVO mit allen geeigneten Mitteln der Krankheitsvorbeugung bekämpfen. Aber sowohl alle Vorbeugungsmaßnahmen zur Bekämpfung solcher vom Arbeitsleben ausgehender Gesundheitsgefahren, die nicht zu einer Listenkrankheit führen, als auch allgemeine Maßnahmen, mit denen gesundheitlich Ungeeignete, besonders wenn sie von den Folgen eines Arbeitsunfalls betroffen sind, von bestimmten Tätigkeiten oder Bereichen des Arbeitslebens ferngehalten werden, liegen nicht im Rahmen des § 3 BKVO und damit außerhalb seines Schutzbereiches (s Elster, Berufskrankheitenrecht, 2. Aufl, Anm 3 zu § 3 BKVO; Friedel, Koch und Lauer, BG 1981, 698 ff, 701). Auf dem Gebiet der gesetzlichen Unfallversicherung kann dem der Träger der Unfallversicherung durch die Leistungen der Berufshilfe (§§ 567 ff RVO), durch Berücksichtigen dessen bei der Bemessung der MdE (§ 581 RVO) und durch Erhöhung der Rente bei Arbeitslosigkeit (§ 587 RVO) begegnen, nicht aber durch eine Übergangsleistung im Rahmen der BK-Prävention nach § 3 Abs 2 BKVO.

Weil bei seiner Tätigkeit eine konkrete, individuelle BK-Gefahr durch langdauernde, schädigende, besondere Arbeitseinwirkungen fehlt, muß auch die vom Kläger geltend gemachte entsprechende Anwendung des § 3 Abs 2 BKVO scheitern. Weder der unzweideutige Wortlaut noch der Sinn und Zweck der BK-Prävention lassen es zu, den Anspruch auf eine Übergangsleistung im Rahmen der BK-Prävention auf die Fälle allgemeiner Unfallverhütung und Gesundheitsvorsorge zu übertragen. Solange nicht jede arbeitsbedingte Erkrankung wie ein Arbeitsunfall entschädigt werden kann, sondern nur eine besonders bezeichnete BK, muß die BK-Prävention des § 3 BKVO die Listengrenzen der BKVO einhalten.

Die Tatsache, daß Versicherte anders als Arbeitsunfallgeschädigte unter besonderen, schädigenden Einwirkungen arbeiten müssen, die eine in zeitlich zunehmendem Maße anwachsende, individuelle BK-Gefahr begründen, ist für die Beschränkung des Übergangsleistungsanspruchs iS des § 3 Abs 2 BKVO auf BK-Gefährdete ein sachlicher Unterscheidungsgrund, der mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art 3 GG vereinbar ist.

Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1173506

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