Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Verfahrensfehler. Verletzung der Anhörungspflicht. erneute Anhörung. andere Begründung im Widerspruchsbescheid als im Erstattungsbescheid. Vorwurf der groben Fahrlässigkeit. Aufhebung von Folgebescheiden. rechtswidriger Ausgangsbescheid

 

Leitsatz (amtlich)

Zur Erforderlichkeit einer erneuten Anhörung gemäß § 24 SGB 10, wenn die Verwaltungsbehörde im Widerspruchsbescheid das Vorliegen grober Fahrlässigkeit beim Versicherten anders begründet als im Erstbescheid.

 

Orientierungssatz

1. Da sich ein Aufhebungsbescheid in seinem Verfügungssatz nicht ändert, wenn er hinsichtlich von Folgebescheiden nicht mehr auf § 45 SGB 10, sondern auf § 48 SGB 10 gestützt wird, handelt es sich nicht um eine Umdeutung iS von § 43 SGB 10, sondern der Rücknahmebescheid wird hinsichtlich der Aufhebung bei gleich bleibender Regelung - lediglich auf eine andere Rechtsgrundlage gestützt. (vgl BSG vom 27.7. 2000 - B 7 AL 88/99 R = SozR 3-1300 § 45 Nr 42).

2. Bei der Aufhebung von Folgebescheiden, die auf einem rechtswidrigen Ausgangsbescheid aufbauen, ist der Vorwurf der groben Fahrlässigkeit auf die in dem Ausgangsbescheid getroffene Regelung zu beziehen (vgl BSG vom 27.7.2000, aaO).

 

Normenkette

SGB X § 24 Abs. 1, § 42 S. 2, § 43 Abs. 1, § 45 Abs. 1, 2 S. 3 Nr. 3, § 48; AFG § 15 2 Abs. 2 Fassung: 1993-12-21

 

Verfahrensgang

Thüringer LSG (Urteil vom 09.05.2000; Aktenzeichen L 3 AL 116/99)

SG Altenburg (Urteil vom 07.10.1998; Aktenzeichen S 7 AL 1009/97)

 

Tatbestand

Der Kläger wendet sich gegen die teilweise Rücknahme der Bewilligung von Altersübergangsgeld (Alüg) für die Zeit vom 20. Februar 1995 bis zum 31. Dezember 1996 und die damit verbundene Erstattungsforderung in Höhe von 10.295,20 DM.

Der 1937 geborene Kläger meldete sich am 18. Juni 1992 arbeitslos und beantragte die Gewährung von Alüg, das ihm die Beklagte unter Zugrundelegung der Leistungsgruppe A für zunächst 832 Leistungstage bewilligte. Im August 1994 teilte der Kläger der Beklagten mit, dass er wegen Heirat ab dem 6. August 1994 von der Lohnsteuerklasse I in die Lohnsteuerklasse V gewechselt sei. Bis zur - zunächst angenommenen - Erschöpfung des Anspruchs am 18. Februar 1995 legte die Beklagte der Leistungserbringung daraufhin die Leistungsgruppe D zu Grunde. Zuletzt erhielt der Kläger einen wöchentlichen Zahlbetrag in Höhe von 325,80 DM nach einem gerundeten Arbeitsentgelt von 1.210,00 DM (Bescheid vom 4. Januar 1995).

Mit Bescheid vom 15. März 1995 bewilligte die Beklagte dem Kläger ab dem 20. Februar 1995 erneut Alüg für weitere 728 Leistungstage nach einem Bemessungsentgelt von 1.150,00 DM in Höhe eines Leistungssatzes von 424,20 DM wöchentlich, wobei sie der Leistungsgewährung - wie auch bei den Folgebescheiden vom 4. Januar 1996 und vom 30. Dezember 1996 - nunmehr (versehentlich) wieder die Leistungsgruppe A (bis einschließlich 31. Dezember 1996) zu Grunde legte, obwohl der Kläger die Lohnsteuerklasse V seit der Änderung im August 1994 beibehalten hatte.

Mit Schreiben vom 6. Januar 1997 hörte die Beklagte den Kläger dazu an, dass er möglicherweise in dem Zeitraum vom 20. Februar 1995 bis zum 31. Dezember 1996 zu hohe Leistungen bezogen habe, weil Leistungen nach der Leistungsgruppe A (Steuerklasse I) anstatt nach der zustehenden Leistungsgruppe D (Steuerklasse V) erbracht worden seien. Die Unrechtmäßigkeit des Leistungsbezugs habe er leicht erkennen können, weil aus den Bewilligungs- und Änderungsbescheiden die Leistungsgruppe leicht zu erkennen gewesen sei. Der Kläger teilte hierzu mit, er habe zu keiner Zeit erkannt, dass die Steuerklasse in den Bewilligungs- und Änderungsbescheiden falsch gewesen sei. Er sei immer davon ausgegangen, dass die Berechnungen des Arbeitsamtes der Richtigkeit entsprächen. Er habe lediglich die Höhe der im Bewilligungsbescheid ausgewiesenen wöchentlichen Leistungen mit dem Eingang auf seinem Konto überprüft.

Mit Bescheid vom 3. März 1997 hob die Beklagte die Bewilligung des Alüg für den Zeitraum vom 20. Februar 1995 bis zum 31. Dezember 1996 teilweise auf und forderte von dem Kläger eine Erstattung in Höhe von 10.295,20 DM. Der Kläger habe auf den Bestand der rechtswidrigen Entscheidung nicht vertrauen können, da er deren Rechtswidrigkeit gekannt bzw infolge grober Fahrlässigkeit nicht gekannt habe.

Den gegen diese Entscheidung erhobenen Widerspruch des Klägers wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 6. Juni 1997 als unbegründet zurück und führte hierzu aus, der Kläger habe die Rechtswidrigkeit der Entscheidung vom 15. März 1995 gekannt bzw infolge grober Fahrlässigkeit nicht gekannt, da ihm bei der Anschlussbewilligung ab dem 20. Februar 1995 der um fast 100,00 DM wöchentlich höhere Leistungssatz habe auffallen müssen.

Während die Klage erstinstanzlich erfolglos blieb (Urteil des Sozialgerichts ≪SG≫ Altenburg vom 7. Oktober 1998), hat das Thüringer Landessozialgericht (LSG) auf die Berufung des Klägers mit Urteil vom 9. Mai 2000 die erstinstanzliche Entscheidung sowie den Bescheid vom 3. März 1997 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Juni 1997 aufgehoben. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Als Rechtsgrundlage komme allein § 45 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) iVm § 152 Abs 2 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) in Betracht. Vorliegend sei zwar die Bewilligung des Alüg mit Bescheid vom 15. März 1995 unter Zugrundelegung der Leistungsgruppe A rechtswidrig gewesen. Es könne jedoch dahinstehen, ob der Kläger bösgläubig iS von § 45 Abs 2 Satz 2 Nr 3 SGB X gewesen sei, da die Beklagte es bis zum Abschluss des Vorverfahrens versäumt habe, den Kläger ordnungsgemäß anzuhören. Dieser Anhörungsmangel nach § 24 SGB X führe gemäß § 42 Satz 2 SGB X zur Aufhebung der angefochtenen Bescheide, da Gegenstand der Klage gemäß § 95 Sozialgerichtsgesetz (SGG) der ursprüngliche Verwaltungsakt in der Gestalt des Widerspruchsbescheides sei. Zwar sei das Anhörungsschreiben vom 6. Januar 1997 zunächst ausreichend gewesen, da dieses Schreiben habe erkennen lassen, auf welchen individuellen Schuldvorwurf (Erkennbarkeit der falschen Leistungsgruppe) die Entscheidung habe gestützt werden sollen. Dieser für den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 3. März 1997 maßgebliche individuelle Schuldvorwurf sei in dem Widerspruchsbescheid vom 6. Juni 1997 jedoch durch einen anderen "Schuldvorwurf" - dem Kläger habe bei der Anschlussbewilligung der um fast 100,00 DM höhere Leistungssatz auffallen müssen - ersetzt worden. Die Beklagte habe somit ihre Entscheidung hinsichtlich der für den Schuldvorwurf entscheidungserheblichen Tatsachen auf eine neue Tatsachengrundlage gestützt, sodass sie den Kläger vor Erlass des Widerspruchsbescheides erneut hätte anhören müssen, ohne diesem Erfordernis nachgekommen zu sein.

Mit der - vom Senat zugelassenen - Revision rügt die Beklagte in erster Linie einen Verfahrensfehler, welcher darin liege, dass das LSG zu Unrecht ein Sachurteil über den Ausgangsbescheid vom 3. März 1997 erlassen habe, anstatt sich durch Teilurteil auf die Aufhebung des Widerspruchsbescheides zu beschränken. Denn nach der Rechtsprechung des 9. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) liege bei einem Anhörungsfehler im Widerspruchsverfahren eine zusätzliche Beschwer vor mit der Folge, dass über den Widerspruchsbescheid eine isolierte Entscheidung zu treffen sei. Das LSG habe daher das Verfahren aussetzen und Gelegenheit zur Nachholung des Vorverfahrens mit eigenständiger Anhörung geben müssen. Hinsichtlich der subjektiven Voraussetzungen für die Aufhebung der Bewilligungsentscheidung habe das LSG keine der Aufhebung entgegenstehenden Feststellungen getroffen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des LSG vom 9. Mai 2000 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG vom 7. Oktober 1998 zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er ist der Auffassung, dass ein auf die Aufhebung des Widerspruchsbescheides beschränktes Teilurteil an der Sache nichts geändert hätte, da seinerseits keinesfalls grobe Fahrlässigkeit vorgelegen habe und die Beklagte im Übrigen auch genügend Zeit für eine ordnungsgemäße Anhörung gehabt habe.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist im Sinne der Aufhebung der zweitinstanzlichen Entscheidung und der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Das LSG ist zu Unrecht davon ausgegangen, dass die angefochtenen Bescheide wegen eines Anhörungsfehlers aufzuheben sind (sogleich 1.). Für eine abschließende Entscheidung durch den Senat reichen die tatsächlichen Feststellungen des LSG - insbesondere zum Vorliegen grober Fahrlässigkeit - jedoch nicht aus (siehe unter 2.).

1. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist der Bescheid vom 3. März 1997 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Juni 1997, mit dem die Beklagte die Bewilligung von Alüg rückwirkend für die Zeit vom 20. Februar 1995 bis zum 31. Dezember 1996 teilweise zurückgenommen bzw aufgehoben und die Erstattung erbrachter Leistungen in Höhe von 10.295,20 DM gefordert hat.

Die Rechtmäßigkeit dieses Bescheides misst sich - jedenfalls soweit der Bewilligungsbescheid vom 15. März 1995 teilweise zurückgenommen worden ist - an § 45 SGB X iVm § 152 Abs 2 AFG (§ 152 AFG idF des Art 1 Nr 50 des Ersten Gesetzes zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms vom 21. Dezember 1993, BGBl I 2353). Danach ist ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, wenn die in § 45 Abs 2 Satz 3 SGB X genannten Rücknahmevoraussetzungen vorliegen.

Zutreffend ist das LSG von der Rechtswidrigkeit des Bescheides vom 15. März 1995 über die Bewilligung von Alüg ausgegangen, weil dem Kläger nach § 249e Abs 3 Satz 1 AFG (hier idF, die § 249e AFG durch das Beschäftigungsförderungsgesetz 1994 vom 26. Juli 1994 - BGBl I 1786 - erhalten hat) iVm §§ 111 Abs 2 Satz 2 Nr 1d, 113 Abs 1 AFG Leistungen lediglich nach der Leistungsgruppe D (Steuerklasse V), nicht aber nach der Leistungsgruppe A (Steuerklasse I) zustanden, wovon die Beklagte in dem Bewilligungsbescheid fälschlich ausgegangen ist. Der Bescheid vom 15. März 1995 war überdies auch deshalb fehlerhaft - ohne dass das LSG auf diesen Gesichtspunkt näher eingegangen ist -, weil die Beklagte bei der erneuten Bewilligung des Alüg zu Ungunsten des Klägers von einem unzutreffenden Bemessungsentgelt ausgegangen ist. Denn dem Kläger waren Leistungen bis zur Erschöpfung des Anspruchs am 18. Februar 1995 zuletzt nach einem Bemessungsentgelt von 1.210,00 DM wöchentlich erbracht worden, während bei der erneuten Bewilligung des Alüg ab dem 20. Februar 1995 lediglich ein wöchentliches Bemessungsentgelt von 1.150,00 DM zu Grunde gelegt worden ist, obwohl für eine solche "Herabbemessung" keine Gründe ersichtlich sind. Allerdings dürfte die Beklagte bei der Berechnung der Erstattungsforderung - wie den weiteren vom LSG zwar erwähnten, aber nicht näher geprüften Bescheiden vom 7. März 1997 entnommen werden könnte - das zutreffende Bemessungsentgelt berücksichtigt haben (siehe hierzu noch unter 2.).

Entgegen der Auffassung des LSG ist der Bescheid vom 3. März 1997 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Juni 1997 jedoch nicht bereits deshalb rechtswidrig und nach § 24 Abs 1 SGB X iVm § 42 Satz 2 SGB X aufzuheben, weil der Kläger nicht ordnungsgemäß angehört worden wäre. Die Auffassung des LSG, die Beklagte hätte im Widerspruchsverfahren eine erneute Anhörung durchführen müssen, hält einer näheren rechtlichen Überprüfung nicht stand, weil die Beklagte - entgegen der Meinung des LSG - ihre Entscheidung im Widerspruchsbescheid im Hinblick auf die für den Schuldvorwurf der groben Fahrlässigkeit iS des § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X entscheidungserheblichen Tatsachen nicht auf eine neue Tatsachengrundlage gestützt hat.

Nach § 24 Abs 1 SGB X ist, bevor ein Verwaltungsakt erlassen wird, der in Rechte eines Beteiligten eingreift, diesem Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. Diese Vorschrift dient der Wahrung des rechtlichen Gehörs und soll das Vertrauensverhältnis zwischen dem Bürger und der Sozialverwaltung stärken und den Bürger vor Überraschungsentscheidungen schützen (BSG, Urteil vom 25. März 1999 - SozR 3-1300 § 24 Nr 14; von Wulffen, SGB X, 4. Aufl 2001, § 24 RdNr 2; Krasney in: Kasseler Komm, § 24 SGB X RdNr 4; Schneider-Danwitz in: Gesamtkomm Sozialversicherung SGB X, Stand August 1997, § 24 Anm 5), sowie sicherstellen, dass die Beteiligten alle für sie günstigen Umstände vorbringen können (BSG, Urteil vom 4. November 1981 - SozR 1300 § 24 Nr 2; Krasney in: Kasseler Komm, aaO). Der Betroffene soll Gelegenheit erhalten, durch sein Vorbringen zum entscheidungserheblichen Sachverhalt die vorgesehene Entscheidung zu beeinflussen (BSG, Urteil vom 26. September 1991, BSGE 69, 247, 252 = SozR 3-1300 § 24 Nr 4; von Wulffen, aaO; Schneider-Danwitz in: Gesamtkomm Sozialversicherung SGB X, Stand August 1997, § 24 Anm 5a). Hierzu ist es notwendig, dass der Verwaltungsträger die entscheidungserheblichen Tatsachen dem Betroffenen in einer Weise unterbreitet, dass er sie als solche erkennen und sich zu ihnen, ggf nach ergänzenden Anfragen bei der Behörde, sachgerecht äußern kann (BSG, Urteil vom 22. November 1984 - SozR 1300 § 24 Nr 6; BSG, Urteil vom 26. September 1991, aaO). Welche Tatsachen für die Entscheidung erheblich und dem Betroffenen zur Äußerung mitzuteilen sind, richtet sich nach Art und Inhalt der im Einzelfall in Betracht kommenden Entscheidung (BSG, Urteil vom 30. März 1982 - SozR 1300 § 24 Nr 4; BSG, Urteil vom 28. April 1999 - SozR 3-1300 § 24 Nr 15; zuletzt Senatsurteil vom 7. Februar 2002 - SozR 3-4100 § 128 Nr 15). Entscheidungserheblich sind grundsätzlich alle Tatsachen, die zum Ergebnis der Verwaltungsentscheidung beigetragen haben, auf die sich die Verwaltung also zumindest auch gestützt hat (BSG, Urteil vom 26. September 1991, aaO; BSG, Urteil vom 14. Juli 1994 - SozR 3-4100 § 117 Nr 11).

Gemessen an diesen Kriterien ist in Übereinstimmung mit der Vorinstanz davon auszugehen, dass dem Ausgangsbescheid vom 3. März 1997 mit dem Schreiben vom 6. Januar 1997 eine ordnungsgemäße Anhörung vorausgegangen ist. Denn durch das Anhörungsschreiben war der Kläger über die für die Entscheidung erheblichen Tatsachen hinreichend informiert, sodass er Gelegenheit hatte, hierzu sachgerecht Stellung zu nehmen.

Eine erneute Anhörung im Vorverfahren war nicht allein deshalb erforderlich, weil die Beklagte den "individuellen Schuldvorwurf", der "maßgeblich" für den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 3. März 1997 war, im Widerspruchsbescheid durch einen "anderen" Schuldvorwurf ersetzt hätte. Insofern ist schon zweifelhaft, ob der Schuldvorwurf im Widerspruchsbescheid vom 6. Juni 1997 gegenüber dem Ausgangsbescheid vom 3. März 1997 eine maßgebliche Änderung überhaupt erfahren hat. Denn der abstrakte Schuldvorwurf ist vor dem Hintergrund, dass dem Kläger in beiden Bescheiden jeweils unter Hinweis auf § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X entgegengehalten worden ist, er habe die Rechtswidrigkeit des Bewilligungsbescheides gekannt oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht gekannt, ohnehin unverändert geblieben. Dem Bescheid vom 3. März 1997 war überdies - abweichend von dem Anhörungsschreiben vom 6. Januar 1997 - eine einzelfallbezogene Begründung des Schuldvorwurfs nicht beigefügt worden. Vielmehr beschränkte sich der Vorwurf der Bösgläubigkeit in dem Ausgangsbescheid auf die formularmäßige Wiedergabe des gesetzlichen Tatbestands von § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X. Selbst wenn der "konkret-individuelle" Schuldvorwurf aus dem Anhörungsschreiben vom 6. Januar 1997 auch auf den Bescheid vom 3. März 1997 bezogen werden müsste, war eine erneute Anhörung vor Erlass des Widerspruchsbescheides nach Sinn und Zweck des § 24 Abs 1 SGB X nicht erforderlich.

Zwar gilt § 24 SGB X unstreitig auch im Widerspruchsverfahren. Hat eine ordnungsgemäße Anhörung indes bereits stattgefunden, so ist eine erneute Anhörung nur dann geboten, wenn der Betroffene ansonsten an einer sachgerechten Rechtsverteidigung gehindert ist. Der Beteiligte soll nicht durch eine Entscheidung überrascht werden, die auf Tatsachen oder Beweisergebnissen beruht, zu denen er sich nicht äußern konnte. Dies aber ist nicht bereits dann der Fall, wenn die zu Grunde gelegten Tatsachen im Ausgangs- und Widerspruchsbescheid nicht voll und ganz identisch sind. Aus dem dargestellten Sinnzusammenhang folgt vielmehr, dass eine nochmalige Anhörung nur unter bestimmten Voraussetzungen erforderlich ist. Diese sind namentlich dann als gegeben zu erachten, wenn die Verwaltung auf Grund des Vorbringens des Beteiligten oder aus anderen Gründen neu ermittelt und sie sich infolge der durchgeführten Ermittlungen auf neue erhebliche Tatsachen stützen will (Krasney in: Kasseler Komm, § 24 SGB X RdNr 13; Schneider-Danwitz in: Gesamtkomm Sozialversicherung SGB X, Stand August 1997, § 24 Anm 7; vgl auch die Urteile des BSG vom 15. August 1996 - SozR 3-1300 § 24 Nr 13 und vom 25. März 1999 - SozR 3-1300 § 24 Nr 14; Bayerisches LSG, Urteil vom 5. Oktober 1995 - L 8 AL 298/94 - Breithaupt 1996, 248), wenn die Widerspruchsbehörde ihrer Entscheidung - ggf ohne ergänzende Ermittlungen durchgeführt zu haben - einen anderen Sachverhalt zu Grunde legen will als die Ausgangsbehörde (Schnapp in: Krause/von Mutius/Schnapp/Siewert, Gemeinschaftskommentar zum Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren ≪1991≫, § 24 SGB X RdNr 30) oder wenn die Behörde die beabsichtigte Maßnahme in dem eingreifenden Verwaltungsakt gegenüber dem bisher geplanten und angekündigten Inhalt nicht unerheblich ändert oder den Wesensgehalt des Verwaltungsakts abwandelt (Stelkens/Bonk/Sachs, Verwaltungsverfahrensgesetz, 6. Aufl 2001, § 28 RdNr 37), etwa wenn der Ursprungsbescheid im Wege der Umdeutung nach § 43 Abs 1 SGB X eine sachliche Änderung erfährt (vgl hierzu Senatsurteil vom 15. Juni 2000 - SozR 3-1300 § 24 Nr 16).

Eine solche wesentliche Änderung der Tatsachengrundlage oder wesentliche Änderung des Bescheidinhalts liegt hier jedoch nicht vor. Denn die Beklagte hat weder neue Ermittlungen angestellt und dem Kläger dabei gewonnene neue Ermittlungsergebnisse vorenthalten, noch ist die Entscheidung auf einen anderen Sachverhalt gestützt oder inhaltlich abgeändert worden. Insbesondere kann das Vorliegen eines abweichenden Sachverhalts nicht damit begründet werden, dass für den Schuldvorwurf einerseits auf die Erkennbarkeit der falschen Leistungsgruppe und andererseits auf die auffallende Divergenz der Leistungshöhe seit der Anschlussbewilligung abgestellt worden ist. Denn sowohl die Leistungsgruppe als auch die - ua auf der Leistungsgruppe beruhende - Leistungshöhe sind Umstände, die unmittelbar dem zu Grunde liegenden Bewilligungsbescheid zu entnehmen sind und aus einem einheitlichen Lebenssachverhalt fließen, sodass sich der Kläger nicht ihm unbekannten oder schwer zugänglichen Tatsachen gegenüber sah. Daher ist in der bloßen Änderung bzw Ergänzung der Begründung des konkreten Schuldvorwurfs unter Aufrechterhaltung der einschlägigen Rechtsgrundlage keine wesentliche Änderung der entscheidungserheblichen Tatsachengrundlage zu erblicken, welche ein erneutes Anhörungserfordernis auslöst.

Da bereits der vom LSG angenommene Anhörungsfehler nicht vorliegt, kommt es auf den mit der Revision gerügten Verfahrensmangel nicht entscheidungserheblich an. Allerdings hätte das LSG auch unter Zugrundelegung der von ihm vertretenen Rechtsauffassung eingehend prüfen und darlegen müssen, weshalb der Anhörungsmangel im Widerspruchsverfahren nicht nur zur Aufhebung des Widerspruchsbescheides vom 6. Juni 1997, sondern auch zur Aufhebung des Ausgangsbescheides vom 3. März 1997 führt. Denn nach der Rechtsprechung des 9. Senats des BSG unterliegt in Anfechtungssachen ausschließlich der Widerspruchsbescheid der Aufhebung, wenn erst im Vorverfahren die erforderliche Anhörung des Betroffenen unterblieben ist (BSG, Urteile vom 15. August 1996 und vom 25. März 1999, jeweils aaO). Die Bezugnahme des LSG auf § 95 SGG ist insofern nicht ausreichend, zumal der 9. Senat in seiner Entscheidung vom 25. März 1999 ausdrücklich darauf hingewiesen hat, dass § 95 SGG einer isolierten Entscheidung über den Widerspruchsbescheid nicht entgegenstehe, wenn dieser gegenüber dem Ausgangsbescheid eine eigenständige Beschwer enthalte.

2. Eine endgültige Entscheidung in der Sache ist dem Senat verwehrt, weil das LSG zu den Einschränkungen der Rücknehmbarkeit nach § 45 Abs 2 bis 4 SGB X - ausgehend von seiner Rechtsansicht - tatsächliche Feststellungen nicht getroffen hat. Insbesondere wird das LSG im Einzelnen zu überprüfen haben, ob die Voraussetzungen des § 45 Abs 2 Satz 3 SGB X vorliegen.

Das LSG wird darüber hinaus zu beachten haben, dass als Rechtsgrundlage für eine teilweise Aufhebung der Folgebescheide vom 4. Januar 1996 und vom 30. Dezember 1996 nicht § 45 SGB X, sondern § 48 SGB X in Betracht kommt. Denn Bescheide, die die Leistung lediglich auf Grund einer neuen Leistungsverordnung neu festsetzen bzw dynamisieren, besitzen nur einen eingeschränkten Regelungsgehalt (Senatsurteil vom 27. Juli 2000 - SozR 3-1300 § 45 Nr 42; vgl zum Dynamisierungsbescheid auch BSG, Urteil vom 9. Mai 1996 - SozR 3-4800 § 63 Nr 1; zum Bescheid auf Grund einer neuen Leistungsverordnung angedeutet in BSG, Urteil vom 28. November 1996 - SozR 3-4100 § 249e Nr 9) und bauen hinsichtlich des hier vorliegenden Fehlers einer falschen Leistungsgruppe lediglich auf den Regelungen des Ausgangsbescheides auf. Deshalb ist erst mit der Rücknahme des insoweit rechtswidrigen Ausgangsbescheides für die Folgebescheide eine wesentliche Änderung der Verhältnisse iS des § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X eingetreten (BSG, Urteil vom 13. Juli 1988 - SozR 1300 § 45 Nr 37; BSG, Urteil vom 15. August 1996, BSGE 79, 92, 94 = SozR 3-1300 § 45 Nr 30). Da sich der Aufhebungsbescheid in seinem Verfügungssatz nicht ändert, wenn er hinsichtlich der Folgebescheide nicht mehr auf § 45 SGB X, sondern auf § 48 SGB X gestützt wird, handelt es sich nicht um eine Umdeutung iS von § 43 SGB X, sondern der Rücknahmebescheid wird hinsichtlich der Aufhebung - bei gleich bleibender Regelung - lediglich auf eine andere Rechtsgrundlage gestützt (Senatsurteil vom 27. Juli 2000, aaO). Bei den Folgebescheiden vom 4. Januar 1996 und vom 30. Dezember 1996 muss sich dann allerdings der Vorwurf der groben Fahrlässigkeit zwangsläufig auf den Ausgangsbescheid über die erstmalige Leistungsbewilligung bzw die aus diesem übernommenen Berechtigungselemente beziehen. Sollte daher das LSG im Rahmen der noch zu treffenden Feststellungen zu dem Ergebnis gelangen, dass dem Kläger im Hinblick auf den Ausgangsbescheid vom 15. März 1995 der Vorwurf grober Fahrlässigkeit zu machen ist, wiederholt sich dieser Fahrlässigkeitsvorwurf auch hinsichtlich der streitbefangenen Folgebescheide.

Das LSG wird schließlich auch zu prüfen haben - wozu nach Aktenlage Anlass besteht -, ob es Feststellungen zu sämtlichen in dem streitgegenständlichen Zeitraum vom 20. Februar 1995 bis zum 31. Dezember 1996 ergangenen Folgebescheiden getroffen hat und ggf auch abzuklären haben, ob die geltend gemachte Erstattungsforderung der Höhe nach gerechtfertigt ist. Hierbei wird es auch die Bescheide der Beklagten vom 7. März 1997 zu berücksichtigen haben, die gemäß § 86 SGG bereits Gegenstand des Vorverfahrens geworden sein könnten. Soweit in diesen Bescheiden die Alüg-Leistungsbewilligung für einzelne Leistungszeiträume korrigiert wird, könnten sie mit dem Bescheid vom 3. März 1997 als einheitliche Entscheidung angesehen werden, die sowohl hinsichtlich der geltend gemachten Rückforderung als auch der dieser zu Grunde liegenden Änderungen der ursprünglichen Alüg-Bewilligungen inhaltlich hinreichend bestimmt gewesen sein könnte gemäß § 33 SGB X.

Außerdem wird das LSG über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Haufe-Index 840521

FEVS 2003, 101

NZS 2003, 500

SozR 3-1300 § 24, Nr. 21

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