Beteiligte

Klägerin und Revisionsbeklagte

Beklagte und Revisionsklägerin

 

Tatbestand

I

Zwischen der klagenden Stadt und der beklagten Kasse ist streitig, wer von ihnen die von der Klägerin für die psychiatrische Krankenhausbehandlung der Beigeladenen bezahlten Kosten in Höhe von 73.351,10 DM endgültig zu tragen hat.

Die im Jahre 1901 geborene Beigeladene leidet seit 1932 an einer Schizophrenie; sie ist entmündigt und lebt seit 1953 auf Kosten der Klägerin im psychiatrischen Krankenhaus in R. Die Klägerin hat von der Beklagten Im Wege der Klage die für die Zeit vom 1. Januar 1977 bis 31. Dezember 1980, also für vier Jahre, angefallenen Krankenhauskosten in der angeführten Höhe mit der Begründung geltend gemacht, daß die Beigeladene einer Medikation unter stationär-psychiatrischer Behandlung bedürfe. Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen und sich auf den von ihm gehörten neurologischen Sachverständigen berufen, wonach die Beigeladene zwar behandlungsbedürftig sei, aber nicht der Mittel eines Krankenhauses bedürfe. Auf die Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG) unter Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils die Beklagte antragsgemäß verurteilt. Zur Begründung wurde ausgeführt: Das Gericht sei mit der Sachverständigen Dr. H… der Auffassung, daß die Beigeladene nur mit den Methoden eines Krankenhauses behandelt werden könne, weil sich in einem Pflegeheim mit hoher Wahrscheinlichkeit eine intensive Verschlechterung ihrer Schizophrenie einstellen würde. Für die ärztliche Behandlung von Langzeit-Schizophrenie komme es zwar nicht in erster Linie auf tägliche Kontakte zwischen Arzt und Patient an, sondern darauf, daß der ständig anwesende Arzt den im täglichen Umgang des Pflegepersonals mit den Patienten auftretenden Schwierigkeiten begegnen könne. Das Fehlen einer Psychotherapie spreche nicht gegen die Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit. Entgegen der Ansicht des in erster Instanz gehörten Sachverständigen sei nach den Ausführungen von Frau Dr. H… eine Psychotherapie bei Kranken wie der Beigeladenen nicht mehr anwendbar. Notwendig sei "eine medikamentöse Behandlung, eine Milieutherapie, verbunden mit einer Soziotherapie". Diese seien in dem streitigen Zeitraum zwar nur mit annäherndem Erfolg durchgeführt worden; in einem Pflegeheim hätte die Beigeladene von Wahnideen und Autismus aber noch viel weniger befreit werden können. Sie habe daher nur mit den Mitteln einer psychiatrischen Klinik behandelt werden können.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Beklagten. Sie rügt die Verletzung materiellen und formellen Rechts. Das LSG habe das Gutachten der Sachverständigen, einer Bediensteten der Klägerin, verwertet, ohne über ihr - der Beklagten - Ablehnungsgesuch zu entscheiden. Es habe die Aussagen dieser Sachverständigen auch nicht zutreffend gewürdigt und sei auf das von ihr - der Beklagten - vorgelegte Gutachten überhaupt nicht eingegangen; insoweit werde eine Verletzung des § 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) geltend gemacht. Das LSG habe im übrigen den Begriff der Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit verkannt. Es fehle ein Eingehen auf den konkreten Fall. Offenbar halte das LSG bei psychisch Kranken grundsätzlich eine Krankenhausbehandlung für erforderlich. Damit habe es die Bestimmung des §184 der Reichsversicherungsordnung (RVO) verkannt.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Landersozialgerichts Hamburg vom 9. August 1983 - I KRBf 13/82 - aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 27. April 1982 - 22 KR 82/81 - zurückzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

II

Die Revision ist in dem sich aus dem Urteilstenor ergebenden Sinne begründet.

Gemäß § 184 Abs. 1 Satz 1, erster Halbsatz RVO wird Krankenhauspflege zeitlich unbegrenzt gewährt, wenn die Aufnahme in ein Krankenhaus erforderlich ist, um die Krankheit zu erkennen oder zu behandeln oder Krankheitsbeschwerden zu lindern.

Der Anspruch auf Krankenhauspflege setzt daher u.a. voraus, daß die Krankheit einer Behandlung im Sinne der Diagnoseerstellung bzw. der Heilung, Linderung oder der Verhütung einer Verschlimmerung zugänglich ist (= Behandlungsbedürftigkeit) und daß, gerade die Mittel des Krankenhauses zu dem genannten Zweck benötigt werden. Vor der Abgrenzung zwischen der Erforderlichkeit einer medizinischen Krankenhausbehandlung und einer ausreichenden außerklinischen Behandlung andererseits, bei der es auf die Erforderlichkeit spezifischer Klinikmittel ankommt, steht daher die Frage, ob die Krankheit in dem genannten Sinne überhaupt behandlungsbedürftig ist. Mit ihrer Behauptung, die Beigeladene sei bloß pflegebedürftig, will die Beklagte, wie sich aus ihren gesamten Ausführungen ergibt, zum Ausdruck bringen, daß die Schizophrenie der Beigeladenen eigentlich nicht mehr behandlungsfähig sei. Die Tatsachenfeststellungen des LSG reichen aber schon nicht aus, um diese Frage der Behandlungsfähigkeit beantworten zu können.

Die Ausführungen des LSG, die Beigeladene habe in dem streitigen Zeitraum nur annähernd von ihren Wahnideen und ihrem Autismus befreit werden können, sind nicht geeignet, die genannte Behandlungsfähigkeit festzustellen. Dazu hätte es konkreterer Ausführungen bedurft. Aus dem Urteil des LSG ergibt sich kein Anhaltspunkt dafür, daß eine Behandlungsbedürftigkeit auch nur im Sinne der Verhütung einer Verschlimmerung bzw. einer Linderung der eigentlichen Krankheitsbeschwerden vorliegt. Die genannten Ausführungen haben vielmehr den Fall der Besserung im Auge. Insoweit wären aber konkrete Feststellungen darüber notwendig gewesen, inwiefern die Schizophrenie der Versicherten sich in dem angeführten Zeitraum wesentlich gebessert habe. Gerade bei einer Geisteskrankheit derart langer Dauer, die hier bis zum Beginn des streitigen Zeitraumes schon seit 45 Jahren bestanden hatte, ist es für den (vom LSG hier gewollten) retrospektiven - vom Ergebnis her geführten - Nachweis ursprünglicher (seit 1. Januar 1977 bestehender) Behandlungsbedürftigkeit erforderlich, anhand der die Krankheit in ihrer langen Dauer prägenden Umstände eine wesentliche, vom bisherigen Dauerzustand sich deutlich abhebende Besserung herauszustellen. Das ist hier nicht geschehen.

In einem Fall wie dem vorliegenden sind derartige Anforderungen aber auch dann zu stellen, wenn der Nachweis der Behandlungsbedürftigkeit nicht retrospektiv - vom Ergebnis her -, sondern prognostisch geführt werden soll. Denn hier spricht die Art und Dauer der Erkrankung für die Vermutung, daß die Schizophrenie der Beigeladenen keiner mit Heilungs- oder Besserungsaussichten verbundenen Behandlung mehr zugänglich ist. Von einer solchen Vermutung könnte zwar dann nicht ausgegangen werden, wenn neue Heilmethoden oder neue psychophysische Gegebenheiten des Versicherten die Besserungsaussichten wieder in den Bereich einer wenn auch nur geringfügigen Wahrscheinlichkeit rücken würden. Soweit das LSG aber statistische Ausführungen über den Krankheitsverlauf bei schizophrenen Patienten macht, daß nämlich nur 10 % der Erkrankten eine Dauerunterbringung benötigen, so ist damit für die Beigeladene keine Wahrscheinlichkeit der genannten Art zu begründen. Die Vermutung, die demnach hier besteht, wurde nicht ausgeräumt. Das LSG hat in diesem Zusammenhang lediglich ausgeführt, daß bei der Beigeladenen eine Psychotherapie nicht mehr angewendet werden könne, jedoch "eine medikamentöse Behandlung; eine Milieutherapie, verbunden mit einer Soziotherapie" notwendig sei. Solche Feststellungen reichen hier aber nicht aus. Um die genannte Vermutung auszuräumen, hätte es vielmehr konkreter Ausführungen darüber bedurft, inwiefern durch diese Behandlungen die Krankheit trotz ihres bisherigen dauerhaft-ungünstigen Verlaufes mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit eine sich vom bisherigen Dauerzustand deutlich abhebende Besserung erfahren könne. Auch solche Feststellungen hat das LSG nicht getroffen. Es hat demnach auch nicht ausgeführt, aufgrund welcher Beweisumstände es sich vom Vorliegen der erforderlichen Wahrscheinlichkeit überzeugt hätte.

Selbst wenn aber der Nachweis des Behandlungserfolges (- retrospektiv -) bzw. der Besserungsaussicht (- prognostisch-) erbracht wäre, bedürfte es der Feststellungen darüber, warum eine solche Behandlung nicht auch außerhalb des Krankenhauses durchgeführt werden könnte, sei es in einer Anstalt bzw. einem Pflegeheim, wo die ärztliche Behandlung nur noch einen die Unterbringung (mit pflegerischen und pädagogischen Maßnahmen) begleitenden Charakter hat, sei es auf sonstige ambulante Weise. Ist letzteres der Fall, so besteht kein Anspruch auf Krankenhauspflege (Vorrangigkeit ambulanter Behandlung). Dabei liegen die Voraussetzungen einer ambulanten Behandlung auch dann vor, wenn die gelegentliche Zuziehung eines Notfallarztes oder eine kurzfristige Krankenhauseinweisung ausreichen (BSG, Urteil vom 12. März 1985 - 3 RK 15/84 -). Abgesehen davon, daß das LSG schon keine ausreichenden Feststellungen zur Behandlungsfähigkeit (im obigen Sinne) getroffen hat, fehlt es auch an solch hinreichender Abgrenzung zur außerklinischen Behandlung. Die Notwendigkeit pflegerischer und sozialpädagogischer Maßnahmen genügt jedenfalls nicht, das Ausreichen einer außerklinischen Behandlung zu verneinen. Aber auch die Notwendigkeit einer medikamentösen Versorgung reicht dafür nicht aus, wenn nicht, zumal bei einer Dauermedikation, zugleich die Notwendigkeit einer ständigen ärztlichen Präsenz hinreichend begründet wird.

Das LSG hat demnach den Begriff der Krankenhauspflege im Sinne des § 184 RVO verkannt. In formeller Hinsicht liegt aber auch ein - von der Beklagten gerügter - Verfahrensmangel nach § 128 SGG vor, da es bei der Beweiswürdigung nicht das Gesamtergebnis des Verfahrens berücksichtigt hat. Es hat, wie die Revisionsklägerin zutreffend vorgetragen hat, das von ihr vorgelegte Gutachten des Psychiaters Professor Dr. B… nicht gewürdigt; auch das von einem Beteiligten eingeholte Gutachten ist einer gerichtlichen Würdigung zu unterziehen (Meyer-Ladewig, SGG mit Erläuterungen, 2. Aufl. 1981, Anm. 5 am Ende zu § 128 mit weiteren Nachweisen). Dagegen liegt ein Verfahrensfehler nach § 118 Abs. 5 SGG, § 406 der Zivilprozeßordnung - ZPO - (Ablehnung des Sachverständigen) nicht vor. Ein förmliches Ablehnungsgesuch wurde, wie sich aus der Sitzungsniederschrift ergibt (§ 122 SGG, § 165 ZPO), nicht erhoben; einer weiteren Begründung bedarf es hierzu nicht (§ 170 Abs. 3 Satz 1 SGG).

Aus den angeführten Gründen war das Berufungsurteil aufzuheben; die Sache mußte zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden (§170 Abs. 2 Satz 2 SGG). Das Berufungsgericht wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.3 RK 45/83

Bundessozialgericht

Verkündet am

12. November 1985

 

Fundstellen

BSGE, 116

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