Verfahrensgang

Hessisches LSG (Urteil vom 21.06.1991; Aktenzeichen L 10 Ar 995/88)

SG Frankfurt am Main (Urteil vom 14.06.1988)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 21. Juni 1991 aufgehoben.

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 14. Juni 1988 wird zurückgewiesen, soweit sie die Zeit der Teilnahme des Klägers an dem Aufbaukurs der Heimvolkshochschule H. vom 17. November 1986 bis 20. März 1987 betrifft.

Im übrigen wird der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Der Kläger begehrt von der beklagten Bundesanstalt für Arbeit (BA) Arbeitslosengeld (Alg). Die Beteiligten streiten im wesentlichen über die Verfügbarkeit des Klägers während seiner Teilnahme am Aufbaukurs einer Heimvolkshochschule (HVHS).

Der 1964 geborene Kläger war vom 1. August 1980 bis 18. Januar 1984 als Auszubildender und vom 19. Januar 1984 bis 30. August 1986 als Meß- und Regelmechaniker beschäftigt. Am 17. November 1986 meldete er sich beim Arbeitsamt L. – Dienststelle P. – arbeitslos und gab als Wohnanschrift an. Weiter gab er an, er nehme seit dem 22. September 1986 am Aufbaukurs der HVHS H. teil, der nicht zu einem Abschluß führe, und wolle seine bisherige Beschäftigung wegen „beruflicher Wandlung” nicht weiter ausüben. Für ihn komme eine „politische Tätigkeit” in Betracht. Als Gründe für die Aufgabe seiner letzten Beschäftigung gab der Kläger an, es habe durch Gewerkschaftsarbeit unerträgliche Spannungen mit dem Arbeitgeber gegeben; Aussicht auf Lohnerhöhung habe für ihn nicht, wohl aber die „Möglichkeit der beruflichen Wandlung durch die Gewerkschaft” bestanden.

Der Aufbaukurs der HVHS H. dauerte vom 22. September 1986 bis zum 20. März 1987. Ab 4. Mai 1987 besuchte der Kläger die Akademie der Arbeit.

Mit Bescheid vom 9. Dezember 1986 lehnte die BA den Antrag auf Alg ab, weil der Kläger wegen Teilnahme am Aufbaukurs der HVHS H. der Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung stehe. Mit dem Widerspruch machte der Kläger geltend, er sei bereit, den Lehrgang im Falle einer Arbeitsaufnahme sofort abzubrechen. Außerdem fahre er bei Einladungen des Arbeitsamtes sofort zur entsprechenden Dienststelle. Er halte sich für verfügbar, zumal er telefonisch und postalisch jederzeit erreichbar sei.

Die Dienststelle P. holte eine Stellungnahme des Arbeitsamts C. ein, das auf die Rundverfügung Nr 100/86 des Landesarbeitsamtes Niedersachsen/Bremen vom 16. Juli 1986 verwies. Darin heißt es, die von den niedersächsischen HVHSen angebotenen Grundkurse von ein bis sechs Monaten Dauer könnten zum Zweck einer Arbeitsaufnahme oder einer Maßnahme der beruflichen Bildung jederzeit abgebrochen werden. Die Teilnahme von Arbeitslosen an solchen Bildungsmaßnahmen mit dem Ziel einer aktiven Lebensgestaltung werde für sinnvoll und notwendig gehalten, weil dadurch auch Möglichkeiten der Selbsthilfe eröffnet würden. Zur Verfügbarkeit wird in der Rundverfügung auf die Anordnung des Verwaltungsrates der Bundesanstalt für Arbeit über den Aufenthalt von Arbeitslosen während des Leistungsbezuges vom 3. Oktober 1979 (ANBA 1979, 1388) ≪Aufenthalts-AnO≫ Bezug genommen und ausgeführt, es solle vorrangig geprüft werden, ob nicht die Teilnahme an Kursen im Nahbereich des zuständigen Arbeitsamtes möglich sei. Andernfalls sei das Arbeitsamt, in dessen Bezirk die HVHS liege, für die Gewährung von Leistungen und die vermittlerische Betreuung für zuständig zu erklären, sofern der Arbeitslose bereit sei, auch von diesem Amt angebotene Stellen anzunehmen.

Den Widerspruch wies die BA mit Widerspruchsbescheid vom 2. Januar 1987 zurück und führte aus, der Kläger stehe während der Teilnahme an dem Aufbaukurs der HVHS H. in der Nähe von C. der Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung. Eine rasche, reibungslose und erfolgreiche Arbeitsvermittlung setze die sofortige Erreichbarkeit des Arbeitslosen voraus. Diese sei nicht gegeben, weil die HVHS H. nicht im Nahbereich des Arbeitsamtes L. liege. Im übrigen sei die Verfügbarkeit nur bei Grund-, nicht aber bei Aufbaukursen von HVHSen ausnahmsweise anzuerkennen.

Der Widerspruchsbescheid war an die im Antragsvordruck angegebene Heimatanschrift des Klägers gerichtet. Diese wurde von der Bundespost aufgrund eines Nachsendeauftrages des Klägers in seine Anschrift bei der HVHS H. von der Bundespost „berichtigt”. Der Widerspruchsbescheid wurde durch Niederlegung beim Postamt C. am 23. Februar 1987 zugestellt. Nach der Postzustellungsurkunde ist der in der Anschrift bezeichnete Empfänger nicht angetroffen worden, eine Übergabe an den Hauswirt/Vermieter nicht möglich gewesen und die schriftliche Benachrichtigung über die vorzunehmende Niederlegung unter der Anschrift des Empfängers vom Zusteller – wie bei gewöhnlichen Briefen üblich – in den Hausbriefkasten eingelegt worden. Der Widerspruchsbescheid wurde beim Postamt C. nicht abgeholt und gelangte am 1. Juni 1987 an das Arbeitsamt L. zurück, das auf eine Sachstandsanfrage dem Kläger unter dem 10. Juni 1987 eine Kopie mit dem Hinweis übersandte, der Widerspruchsbescheid sei am 23. Februar 1987 durch Niederlegung zugestellt worden.

Mit der am 6. Juli 1987 erhobenen Klage hat der Kläger seinen Leistungsanspruch weiterverfolgt und um Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Versäumung der Klagefrist nachgesucht. Das Sozialgericht (SG) hat die Klage als rechtzeitig angesehen, weil es die Zustellung durch Niederlegung für unzulässig gehalten hat, sie aber sachlich abgewiesen, weil der Kläger sich mehr als fünf Monate außerhalb des Nahbereichs des Arbeitsamts L. aufgehalten habe und damit die Voraussetzungen, unter denen nach der Aufenthalts-Anordnung die Verfügbarkeit angenommen werden könne, nicht gegeben seien (Urteil vom 14. Juni 1988).

Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) dieses Urteil sowie die zugrunde liegenden Bescheide der Beklagten aufgehoben und die BA verurteilt, dem Kläger Alg für die Zeit vom 17. November 1986 bis 2. Mai 1987 zu zahlen. Das LSG hat ausgeführt, an der subjektiven Verfügbarkeit des Klägers beständen keine Zweifel. Die Vorschriften der Aufenthalts-AnO seien gewahrt, weil der Kläger sich nicht durchgehend sechs Monate außerhalb des Nahbereichs des Arbeitsamts L. habe aufhalten wollen. Nach seinen glaubhaften Angaben sei er mindestens wöchentlich, unter Umständen sogar mehrmals in der Woche in den Nahbereich des Arbeitsamtes zurückgekehrt. Im übrigen sei die Fahrtzeit vom Ort der Bildungsmaßnahme bis zu einem möglichen Vermittlungsadressaten mit zweieinhalb Stunden kaum wesentlich länger als die entsprechende Fahrtzeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln in strukturschwachen Gebieten. Entgegen der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) würden bei lebensnaher Betrachtung Interessen der Versichertengemeinschaft durch die Teilnahme eines Arbeitslosen an einer Bildungsmaßnahme nicht beeinträchtigt. Vielmehr entspreche eine solche Aktivität während der Arbeitslosigkeit den Interessen der Versichertengemeinschaft, weil sie geeignet sei, psychische und soziale Belastungen durch die Arbeitslosigkeit zu vermeiden. Der der Rechtsprechung des BSG zugrunde liegende „Zwang zur Passivität von Arbeitslosen” berühre die Grundrechte der Art 2 und 12 Grundgesetz (GG).

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die BA Verletzung von § 87 Abs 1, 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), § 3 des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) iVm § 182 der Zivilprozeßordnung (ZPO) und § 103 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) iVm §§ 3 und 6 der Aufenthalts-AnO. Sie hält die verspätete Klage für unzulässig. Der Inhalt der Postzustellungsurkunde vom 23. Juli 1987 beweise, daß der Zusteller eine Ersatzzustellung erfolglos versucht habe, weshalb die Zustellung durch Niederlegung ohne Rechtsverstoß wirksam erfolgt sei. Die objektive Verfügbarkeit des Klägers während des Besuchs der HVHS habe das LSG zu Unrecht angenommen. Nach der Rechtsprechung des BSG habe sich der Arbeitslose der Vermittlungstätigkeit des Arbeitsamtes aktuell zur Verfügung zu halten. Die erklärte Bereitschaft des Klägers, den Lehrgang jederzeit abzubrechen, reiche hierfür nicht aus. Das LSG habe § 6 Aufenthalts-AnO fehlerhaft angewendet, denn diese Vorschrift sei als Ausnahmevorschrift eng auszulegen. Unabhängig davon fehle die Verfügbarkeit aber auch deshalb, weil sich der Arbeitslose außerhalb des Nahbereichs nur mit vorheriger Zustimmung des Arbeitsamts aufhalten dürfe. Auch auf einen Herstellungsanspruch könne sich der Kläger nicht berufen. Ein Beratungsfehler der Beklagten liege nicht vor. Im übrigen werde der sozialrechtliche Status des Arbeitslosen nach der Rechtsprechung des BSG von vornherein durch die objektive Verfügbarkeit begrenzt. Fehlende Verfügbarkeit könne nicht nachträglich durch Amtshandlungen der Beklagten herbeigeführt werden. Die Vorgänge bei der Zustellung des Widerspruchsbescheids ergäben im übrigen, daß der Kläger nicht unter seiner im Antragsvordruck angegebenen Anschrift erreichbar gewesen sei.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 21. Juni 1991 aufzuheben und die Klage als unzulässig zu verwerfen,

hilfsweise,

sie als unbegründet zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält die Klage für zulässig; im übrigen sei ihm ggf wegen der Versäumung der Klagefrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Er sei während des Aufbaukurses an der HVHS H. auch für die Beklagte erreichbar und jederzeit bereit gewesen, diesen Kurs im Interesse einer Arbeitsaufnahme abzubrechen. Eine rechtliche oder tatsächliche Bindung habe während jener Zeit nicht bestanden. Insoweit unterscheide sich der Sachverhalt von dem der Entscheidung des BSG in SozR 4100 § 103 Nr 46 zugrunde liegenden.

 

Entscheidungsgründe

II

Im Einverständnis mit den Beteiligten hat der Senat ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entschieden (§ 124 Abs 2 SGG).

1. Die Revision der BA ist hinsichtlich des Anspruchs auf Alg für die Zeit vom 17. November 1986 bis zum 20. März 1987 begründet.

2. Über die Rechtzeitigkeit der Klage hat der Senat unabhängig von einer Prozeßrüge der BA zu befinden, weil es sich um eine in die Revisionsinstanz fortwirkende Sachurteilsvoraussetzung handelt. Für diese Entscheidung kann offen bleiben, ob die Postzustellungsurkunde über den Zustellungsversuch am 23. Februar 1987 die tatsächlichen Vorgänge zutreffend wiedergibt. Der nach §§ 118 Abs 1 SGG; 418 ZPO geführte Beweis über einen vergeblichen Zustellungsversuch im Sekretariat der HVHS H., ließe sich möglicherweise durch Aufklärung der tatsächlichen Verhältnisse widerlegen. Das kann jedoch auf sich beruhen, weil die Rechtzeitigkeit der Klage durch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hergestellt werden kann. Für den Fall, daß die Klage wegen eines Mangels bei der Zustellung des Widerspruchsbescheids ohnehin zulässig sein sollte, wäre die Wiedereinsetzung gegenstandslos (BSGE 4, 156, 159; Meyer-Ladewig, Sozialgerichtsgesetz, 4. Aufl. 1991, § 67 RdNr 16).

Die Wiedereinsetzung wegen Versäumung der Klagefrist kann auch das Revisionsgericht gewähren. Über den Wiedereinsetzungsantrag entscheidet das Gericht, das über die versäumte Rechtshandlung zu befinden hat (§ 67 Abs 4 Satz 1 SGG). Haben die Vorinstanzen den Wiedereinsetzungsantrag – wie hier – übergangen, weil sie ihn für gegenstandslos hielten, so ist das Revisionsgericht das in § 67 Abs 4 Satz 1 SGG bezeichnete Gericht, bei dem mit der Revision die Entscheidung über die Klage angefallen ist (BGHZ 7, 280, 293; BGH NJW 1982, 1873, 1874; BVerwG Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht NVwZ 1985, 484; BFHE 124, 487, 492; 137, 399, 401). Bedenken gegen die Entscheidung über die Wiedereinsetzung durch das Rechtsmittelgericht für den Zugang zu Vorinstanzen bestehen nur, soweit die Unanfechtbarkeit von Wiedereinsetzungen durch die Vorinstanz tangiert werden könnte (§ 67 Abs 4 Satz 2 SGG; BGH FamRZ 1982, 161, 163; BVerwG NVwZ 1985, 484). Auf den Fall einer positiven Entscheidung durch das Rechtsmittelgericht trifft dies jedoch nicht zu.

Der Kläger hat seinen Wiedereinsetzungsantrag damit begründet, er habe die Nachricht über die Niederlegung des Widerspruchsbescheids beim Postamt C. nicht erhalten. Diese Behauptung erscheint iS des § 67 Abs 2 Satz 2 SGG im Hinblick auf die weiteren aktenkundigen Ereignisse im vorliegenden Fall glaubhaft. Der Kläger hat danach im Sommer 1987 vom Arbeitsamt L. auf seine Sachstandsanfrage die Mitteilung erhalten, der Widerspruchsbescheid sei am 23. Februar 1987 durch Niederlegung beim Postamt C. zugestellt worden. Unter diesen Umständen bestehen keine durchgreifenden Bedenken gegenüber der Darstellung des Klägers. Hat er die Benachrichtigung über den vergeblichen Zustellungsversuch aber nicht erhalten, so war er unverschuldet gehindert, die Klagefrist einzuhalten. Deshalb ist ihm gemäß § 67 Abs 1 SGG antragsgemäß Wiedereinsetzung wegen Versäumung der Klagefrist zu gewähren, zumal er innerhalb der Frist des § 67 Abs 2 Satz 1 SGG den Antrag auf Wiedereinsetzung gestellt und Klage erhoben hat.

3. Die Revision der BA ist hinsichtlich des Anspruchs auf Alg für die Zeit der Teilnahme des Klägers am Aufbaukurs der HVHS begründet, denn das Urteil des LSG beruht auf einer Verletzung der §§ 103 Abs 1 und 5 AFG iVm §§ 1, 2 und 6 der Aufenthalts-AnO. Während der Zeit der Teilnahme an dem Aufbaukurs der HVHS stand der Kläger vom 17. November 1986 bis zum 20. März 1987 der Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung. Für diesen Zeitraum ist seine Berufung gegen das Urteil des SG Frankfurt am Main vom 14. Juni 1988 unbegründet. Für die Zeit vom 21. März 1987 bis zum Eintritt des Klägers in die Akademie für Arbeit am 4. Mai 1987 reichen dagegen die Feststellungen des LSG zur Entscheidung über den vom Kläger geltend gemachten Anspruch nicht aus. Insoweit ist die Sache zur weiteren Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Grundlage des vom Kläger geltend gemachten Anspruchs auf Alg ist § 100 Abs 1 AFG. Danach hat Anspruch auf Alg, wer arbeitslos ist, der Arbeitsvermittlung zur Verfügung steht, die Anwartschaftszeit erfüllt, sich beim Arbeitsamt arbeitslos gemeldet und Alg beantragt hat. Für die Zeit der Teilnahme am Aufbaukurs der HVHS H. scheitert der Anspruch des Klägers, weil er der Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung stand. Der Arbeitsvermittlung steht nach § 103 Abs 1 Satz 1 AFG zur Verfügung, wer (1.) eine zumutbare nach § 168 AFG die Beitragspflicht begründende Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes ausüben kann und darf, (2.) bereit ist, (a) jede zumutbare Beschäftigung anzunehmen, die er ausüben kann und darf, sowie (b) an zumutbaren Maßnahmen zur beruflichen Ausbildung, Fortbildung und Umschulung zur Verbesserung der Vermittlungsaussichten sowie zur beruflichen Rehabilitation teilzunehmen, sowie (3.) das Arbeitsamt täglich aufsuchen kann und für das Arbeitsamt erreichbar ist.

3.1 Die objektive Verfügbarkeit ist in § 103 Abs 1 Satz 1 Nr 1 und 3 AFG geregelt. Im vorliegenden Falle bestehen Bedenken, ob der Kläger während des Besuchs der HVHS eine Beschäftigung im Sinne der Vorschrift ausüben konnte und durfte. Durch die Auskunft der HVHS hat das LSG geklärt, daß der Kläger rechtlich nicht gehindert war, seine Teilnahme an dem Aufbaukurs jederzeit im Interesse der Arbeitsaufnahme abzubrechen. Entgegen der Annahme des LSG ist damit aber nicht geklärt, daß die Teilnahme an dem Aufbaukurs nicht auf rechtlichen Bindungen beruhte. Geklärt ist dies vielmehr nur im Verhältnis zur HVHS. Da der Kläger zur Teilnahme an dem Aufbaukurs im Hinblick auf die räumliche Entfernung von 250 km zu seinem damaligen Wohnort erhebliche Aufwendungen für die Teilnahme aufzubringen gehabt haben dürfte (Lehrgangsgebühren, Internatsunterbringung, Heimfahrten) und er angegeben hat, die Gewerkschaft habe ihm Möglichkeiten für eine berufliche Wandlung eröffnet, hätte auch die Klärung nahegelegen, ob der Kläger im Verhältnis zur Gewerkschaft etwa gehalten war, an dem Aufbaukurs zur Vorbereitung auf eine Ausbildung in der Akademie für Arbeit teilzunehmen. Unabhängig von dem Bestehen solcher rechtlichen Bindung im Verhältnis zur Gewerkschaft wäre auch zu prüfen, ob bei dem Kläger im Hinblick auf den angedeuteten Kostenaufwand etwa eine tatsächliche Bindung anzunehmen ist, die eine Verfügbarkeit iS des § 103 Abs 1 Satz 1 Nr 1 AFG ausschließen könnte. Diese Frage ist für die Entscheidung des Falles jedoch nicht notwendigerweise zu beantworten.

Während der Teilnahme an dem Aufbaukurs war der Kläger schon deshalb objektiv nicht verfügbar, weil er das Arbeitsamt nicht täglich aufsuchen konnte und für das Arbeitsamt nicht erreichbar war (§ 103 Abs 1 Satz 1 Nr 3 AFG). Die Anforderungen dieser Vorschrift sind auf der Grundlage des § 103 Abs 5 AFG durch die §§ 1 und 2 der Aufenthalts-AnO näher bestimmt. Nach § 1 Satz 1 Aufenthalts-AnO muß das Arbeitsamt den Arbeitlosen während der üblichen Zeit des Eingangs der Briefpost unter der von ihm benannten, für die Zuständigkeit des Arbeitsamtes maßgeblichen Anschrift erreichen können. Diese Forderung erfüllte der Kläger während seines Aufenthalts in H. nicht. Er hatte in seinem Antrag auf Arbeitslosengeld seine damalige Anschrift in, angegeben. Unter dieser Anschrift war er jedenfalls nicht erreichbar. Insoweit kommt es nicht darauf an, daß er in dem Antragsvordruck seine Teilnahme am Aufbaukurs der HVHS H. angegeben hatte. Eine ladungsfähige Anschrift hat der Kläger dem Arbeitsamt nicht mitgeteilt. Der Widerspruchsbescheid ist lediglich aufgrund eines Postnachsendeantrages an die Anschrift „HVHS H. eV, geschickt worden. Im übrigen kommt es für die Erreichbarkeit ausschließlich auf die für die Zuständigkeit des Arbeitsamts maßgebliche Anschrift an und unter dieser war der Kläger nicht erreichbar (BSGE 58, 104, 107). Auch auf § 2 der Aufenthalts-AnO kann sich der Kläger nicht mit Erfolg berufen, denn er hat seine Anschrift während des Besuchs der HVHS dem Arbeitsamt nicht mitgeteilt. Im übrigen gehört H. nicht zum Nahbereich des Arbeitsamts L. – Dienststelle P. –, weil der Kläger dieses Arbeitsamt bei einer Entfernung von 250 km nicht täglich ohne unzumutbaren Aufwand hätte erreichen können. Dabei kommt es nicht darauf an, daß der Kläger keinen Anlaß hatte, das Arbeitsamt täglich aufzusuchen. Die Fassung des § 2 Satz 2 AFG enthält eine Abgrenzung des Begriffs Nahbereich, der nicht gewahrt ist, wenn der Arbeitslose sich an einem Ort aufhält, von dem aus das tägliche Aufsuchen des Arbeitsamtes wegen der Entfernung unzumutbar ist. Unerheblich ist ferner, ob das Arbeitsamt dem Kläger im streitigen Zeitraum Vermittlungsangebote unterbreitet hat (BSGE 58, 104, 106).

Die Regelungen der §§ 3 und 4 Aufenthalt-AnO können hier auf sich beruhen, denn sie finden nach § 6 der Aufenthalts-AnO keine Anwendung, wenn sich der Arbeitslose zusammenhängend länger als sechs Wochen außerhalb des Nahbereichs des Arbeitsamtes aufhalten will. Dies war hier gegeben, denn der Aufbaukurs der HVHS dauerte von September 1986 bis März 1987. Auch wenn der Kläger angibt, er habe sich aus familiären Gründen wöchentlich an seinen Heimatort begeben, ist der zusammenhängende Aufenthalt des Klägers außerhalb des Nahbereichs des Arbeitsamtes nicht unterbrochen. Bei sinnvollem Besuch des Aufbaukurses war der Kläger nämlich gerade während der Zeiten, zu denen er für das Arbeitsamt erreichbar sein sollte, in H.. Die Familienbesuche konnten sich nur auf Wochenendbesuche erstrecken, also auf Zeiten, zu denen eine Arbeitsvermittlung ohnehin nicht in Betracht kam. Unter den erörterten Umständen war der Kläger nicht in der Lage, das Arbeitsamt täglich aufzusuchen.

3.2 Auch die Voraussetzungen eines Herstellungsanspruchs zur Begründung der Erreichbarkeit iS des § 103 Abs 1 Satz 1 Nr 3 AFG sind nicht gegeben.

Der Herstellungsanspruch setzt auf seiner Tatbestandsseite voraus, daß der Versicherungsträger eine ihm entweder aufgrund Gesetzes oder aufgrund eines bestehenden Sozialrechtsverhältnisses dem Versicherten gegenüber obliegende Pflicht insbesondere zur Auskunft und Beratung sowie zu einer dem konkreten Anlaß entsprechenden „verständnisvollen Förderung” verletzt und dadurch dem Versicherten einen rechtlichen Nachteil zugefügt hat. Auf seiner Rechtsfolgeseite ist der Herstellungsanspruch auf Vornahme einer Amtshandlung zur Herbeiführung derjenigen Rechtsfolge gerichtet, die eingetreten wäre, wenn der Versicherungsträger die ihm gegenüber dem Versicherten obliegenden Pflichten rechtmäßig erfüllt hätte (BSGE 55, 40, 43 mwN).

Die Voraussetzungen des Herstellungsanspruchs im Rahmen der objektiven Verfügbarkeit (vgl BSGE 58, 104, 109; 66, 258, 265; kritisch dazu: Ladage, Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch, 1990, 55 Fn 133) können hier auf sich beruhen. Soweit es um die Erreichbarkeit des Arbeitslosen im Nahbereich des Arbeitsamtes geht (§ 103 Abs 1 Satz 1 Nr 3 AFG), ist es wegen der Möglichkeit, nach § 130 AFG auf Antrag des Arbeitslosen ein anderes Arbeitsamt als zuständig zu erklären, denkbar, im Rahmen des Sozialrechtsverhältnisses den Nahbereich des Arbeitsamtes und damit die Erreichbarkeit des Arbeitslosen zu gestalten. In den Fällen, in denen zu erwarten ist, daß der Arbeitslose den ihm nahegelegten Antrag stellt, ist davon auszugehen, daß er auch seiner Meldepflicht nach § 131 AFG nachkommt. Ein Herstellungsanspruch enthielte in diesem Zusammenhang nicht die Verpflichtung der Beklagten zu rechtwidrigem Tun oder Unterlassen. Der Rechtsprechung des BSG zum Herstellungsanspruch liegt die Unterscheidung zwischen primären Leistungspflichten und sekundären Einstandspflichten zugrunde. Der Herstellungsanspruch greift gerade immer dann ein, wenn wegen Verletzung der behördlichen Pflicht zu verständnisvoller Förderung primäre Leistungspflichten nicht mehr bestehen. Rechtswirdrig ist die mit dem Herstellungsanspruch angestrebte Handlung oder Unterlassung eines Versicherungsträgers nur, wenn sie „ihrer Art nach” in der Rechtsordnung nicht vorgesehen ist (BSGE 55, 261 ff; BSG SozR 1200 § 14 Nr 21; vgl auch: Ladage aaO 55).

Mit der Bestimmung der Zuständigkeit des Arbeitsamts C., die dem Kläger während der Teilnahme am Aufbaukurs der HVHS den Aufenthalt im Nahbereich des Arbeitsamts hätte ermöglichen können, wäre der Herstellungsanspruch auf eine an sich zulässige Amtshandlung der BA gerichtet. Ein Herstellungsanspruch besteht hier aber nicht, weil die Beklagte bei der Arbeitslosmeldung ihre gegenüber dem Kläger bestehende Beratungspflicht nicht verletzt hat. Das LSG hat nicht festgestellt und es ist auch nicht ersichtlich, daß der Kläger bei der Arbeitslosmeldung um Beratung durch das Arbeitsamt nachgesucht hat. Zu einer Beratung von Amts wegen anläßlich einer Arbeitslosmeldung ist die BA nur verpflichtet, soweit Gestaltungsmöglichkeiten zu Tage treten, deren Wahrnehmung offensichtlich so zweckmäßig erscheint, daß ein verständiger Versicherter sie mutmaßlich nutzen würde (BSGE 60, 79, 86 mwN). Dies entspricht der ständigen Rechtsprechung des BSG zum Herstellungsanspruch (BSG SozR Nr 2 zu § 1233 RVO; BSGE 49, 76, 77 mwN), trifft hier aber nicht zu.

Der hier zu beurteilende Sachverhalt ist dadurch gekennzeichnet, daß der Kläger bei der Arbeitslosmeldung angegeben hatte, er sehe in seinem Beruf als Meß- und Regelmechaniker im Hinblick auf die weitere Lohnentwicklung keine Perspektive und habe nach Unzuträglichkeiten mit seinem Arbeitgeber die Absicht, ihm von seiner Gewerkschaft eröffnete Möglichkeiten zu einer beruflichen Neuorientierung wahrzunehmen. Bei dieser Sachlage bestanden – entgegen der Ansicht des LSG – zumindest begründete Zweifel an der subjektiven Verfügbarkeit des Klägers iS des § 103 Abs 1 Satz 1 Nr 2 AFG. Unabhängig von der Erreichbarkeit mußte das Arbeitsamt für die Dauer der Teilnahme des Klägers an dem Aufbaukurs der HVHS vor dem Hintergrund der schon damals bestehenden Rechtsprechung des BSG (BSGE 44, 188) Zweifel an der objektiven Verfügbarkeit des Klägers haben. Da die damalige Lebensplanung des Klägers darauf gerichtet war, von dem ihm durch die Gewerkschaft eröffneten „beruflichen Wandel” Gebrauch zu machen, konnte das Arbeitsamt L. davon ausgehen, daß eine Zuständigkeitsbestimmung des Arbeitsamts C. und damit eine Vermittelbarkeit in dieser Region nicht den Interessen des Klägers entsprach. Auch bei Erreichbarkeit des Klägers bestanden gegen seine objektive und subjektive Verfügbarkeit während der Teilnahme an dem Aufbaukurs durchgreifende Bedenken. Zu einer anderen Beurteilung führt auch nicht der Umstand, daß das Arbeitsamt L. sich im Widerspruchsverfahren hinsichtlich der Frage der Verfügbarkeit mit dem Arbeitsamt C. ins Benehmen gesetzt hat und auf die Rundverfügung des Landesarbeitsamts Niedersachsen-Bremen vom 16. Juli 1986 – 100/86 – hingewiesen worden ist. Im Interesse eines effektiven Verwaltungsablaufs dürfen Beratungspflichten von Versicherungsträgern – auch im wohlverstandenen Interesse der Versicherten – nämlich nicht überdehnt werden (Gagel, Arbeitsförderungsgesetz, § 15 RdNr 9 mwN). Die bloße Möglichkeit günstigerer Gestaltung eines Versicherungsverhältnisses ist deshalb nicht geeignet, eine entsprechende Beratungspflicht zu begründen (BSG 1200 § 14 Nr 8). Abgesehen von den erörterten Umständen konnte die BA hier auch davon ausgehen, daß der Kläger bei der Gestaltung seiner Lebens- und Versicherungsverhältnisse fachkundigen Rat durch seine Gewerkschaft erhalten hatte (BSG SozR 5720 Art 2 § 51a).

3.3 Zum Aufenthalt des Klägers nach Abschluß des Aufbaukurses am 20. März 1987 bis zur Aufnahme in die Akademie der Arbeit am 2. Mai 1987 hat das LSG Feststellungen nicht getroffen. Möglicherweise hat sich der Rechtsstreit insoweit aufgrund der Bewilligungsverfügung vom 7. April 1987 durch Erfüllung erledigt.

Die Kostenentscheidung bleibt der abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1172864

BSGE, 17

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